11. Juni 2019 Hinrich Kuhls: Nachwahl in der Region Ostengland

Labour verteidigt Mandat in Brexit-Hochburg

Entgegen vieler Voraussagen hat die Labour Party am 6. Juni bei einer Nachwahl zum britischen Unterhaus den Wahlkreis Peterborough in der Region Ostengland erneut gewonnen. Die Gewerkschafterin Lisa Forbes wird ab sofort das Mandat im Unterhaus wahrnehmen.

In Meinungsumfragen und in den Medien – aber nicht in den Wettbüros – war der Kandidat der rechtspopulistischen und EU-feindlichen Brexit-Partei der haushohe Favorit. Denn bei der Europawahl 14 Tage zuvor hatten 38% der Peterborians die neue Formation gewählt, die erst im Februar ins Parteienregister eingetragen worden war. Das Ergebnis entsprach dem der Region Ostengland, die sieben Abgeordnete ins Europaparlament entsendet, davon drei von der Brexit-Partei, zwei von den Liberaldemokraten und je einen von den Konservativen und Grünen. Die Labour Party konnte hier kein Mandat mehr erringen.

Schon beim EU-Referendum 2016 gehörte Peterborough mit 61,3% zu jenem Fünftel der Wahlkreise, in denen mehr als 60% der Wähler*innen für den Brexit votiert hatten. Der Stimmbezirk gehört zu den »Leithammel«-Wahlkreisen, in denen das Wahlergebnis über mehrere Jahrzehnte hinweg jeweils das politische Kräfteverhältnis im ganzen Land wiederspiegelt oder zumindest dem Trend der Kräfteverschiebung folgt, so wie bei den Regierungswechseln 1979 (Thatcher), 1997 (Blair) und 2010 (Cameron). Bei der Parlamentswahl 2015 war Forbes (35,6%) dem konservativen Kandidaten (39,7%) deutlich unterlegen.

Bei den Kommunalwahlen Anfang Mai – ein Drittel der Ratsmandate stand zur Erneuerung an – waren es die Liberaldemokraten und Grünen, die die größten Zugewinne verbuchen konnten, ohne allerdings die absolute Mehrheit der Konservativen im Stadtrat zu gefährden. In beiden Wahlen mit unterschiedlichen Wahlsystemen – Verhältniswahl bei der EP-Wahl, Mehrheitswahl bei der Kommunalwahl – stand die Brexit-Frage im Vordergrund und war der Trend bestätigt worden, der durch die Polarisierung in der Brexit-Debatte befördert worden ist: Zwischen den Alternativen vertragsloser Brexit und Revision des Brexit-Votums sind Positionen, die auf eine Vertragslösung beim Verlassen der EU drängen und auf einen Ausgleich zwischen Gegnern und Befürwortern des Brexits gerichtet sind, nicht mehrheitsfähig. Daraus wird in Medien und Politik der weitergehende Schluss gezogen, dass soziale und ökonomische Themen erst nach der Lösung des Brexit-Problems wieder wahlentscheidend werden.

Das Ergebnis der Nachwahl 2019 bestätigt den Trend, zeigt aber zugleich, dass die Brexit-Frage bei der Entscheidung über die politische Repräsentation im nationalen Parlament nicht die Dominanz hat, hinter der alle anderen Probleme als nicht entscheidungsrelevant verschwinden.


Das Nachwahlergebnis

Bei der Parlamentswahl 2017, die von der zum Rücktritt gezwungenen Premierministerin May vorgezogen worden war, hatten Tories und Labour in Peterborough zusammen 95% erhalten, landesweit waren es mehr als 80%. Den Wahlkampf hatte die Labour Party mit ihrem Wahlprogramm »For the Many, not the Few« und Schwerpunkten in der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik dominiert. Sie hatte zwar nicht die Ablösung der Tory-Regierung geschafft, doch ihr »zweites« Wahlziel erreicht: Die Konservativen verloren die absolute Mehrheit. Die Konstellation der daraufhin gebildeten konservativen Minderheitsregierung mit dem Ziel eines harten Brexits verhinderte bisher die Ratifizierung des Brexit-Abkommens und führte zur derzeitigen Paralyse des politischen Systems.

In der aktuellen Nachwahl erreichen die Labour Party und die Konservativen zusammen noch etwas mehr als 50%. Das Mehrheitswahlrecht macht es möglich, dass die Labour-Kandidatin das Mandat mit 30,9% der Stimmen erhält. Labour gewinnt aus zwei Gründen: Erstens verlieren in dieser Brexit-Hochburg die Sozialisten (minus 17%) weniger Wähler*innen an die Liberaldemokraten und an die Brexit-Partei als die Tories (minus 25%) an die Rechtspopulisten und die Nichtwählergruppe. Zweitens bindet die Konservative Partei noch ausreichend Wähler*innen, sodass die Brexit-Partei nicht das Mandat erringen kann.

Im Nachwahlkreis Peterborough sind es also die Spaltung des konservativen und rechtspopulistischen Spektrums und die anhaltende Dominanz der Labour Party im progressiven Lager, das den knappen Wahlsieg von Lisa Forbes ermöglichte. Diese Konstellation trifft auf die meisten »marginalen« Wahlkreise in England und Wales zu, in denen Mandate mit knapper Mehrheit gewonnen worden sind. Arithmetische Extrapolationen für die nächste Parlamentswahl aus diesem Ergebnis zu ziehen, sind müßig, zumal wegen der beschlossenen Verringerung von 650 auf 600 Sitze viele Wahlkreise neu zugeschnitten werden.

Die politischen Schlussfolgerungen aus der Nachwahl beeinflussen hingegen sofort die Auseinandersetzung im UK. In der Konservativen Partei sehen sich die rechtspopulistischen Kräfte gestärkt, die mit der Durchsetzung eines No-Deal-Brexits die politische Blockade im Lande beenden wollen. In der Labour Party, vor allem in der Parlamentsfraktion, sehen sich die Strömungen gestärkt, die gegenüber der Partei- und Fraktionsspitze die Position einer Brexit-Revision über ein zweites Referendum durchsetzen wollen.

In der gesellschaftspolitischen Debatte wird die Veränderung des Wahlrechts gefordert, weil sonst die Differenzierung des Parteiensystems nicht mehr abgebildet werden kann. Das Scheitern des auf Betreiben des damaligen liberaldemokratischen Koalitionspartners der Konservativen durchgeführte Wahlrechtsreferendum von 2011 ist in Vergessenheit geraten: Bei einer Wahlbeteiligung von 42% hatten zwei Dritteln der Wähler*innen eine Änderung des Mehrheitswahlrechts abgelehnt.

Entgegen dem Trend zur Polarisierung wegen der Brexit-Thematik ist es der Labour Party gelungen, die Mehrheit – und sei es auch nur eine knappe einfache Mehrheit – in einer Brexit-Hochburg zu gewinnen. Da vor allem im Osten, Nordosten und in der Mitte Englands viele Wahlkreise ähnliche soziale und politische Strukturen aufweisen, sind sehr wohl politische Extrapolationen angebracht für einen Wahlkampf mit dem Ziel der Ablösung der Konservativen Minderheitsregierung – sei es nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegenüber einem neuen Premierminister oder bei regulären Neuwahlen in drei Jahren.


Peterborough

Der Wahlkreis umfasst drei Viertel der 200.000 Einwohner*innen der kreisfreien Stadt (unitary authority) Peterborough, die 140 km nördlich von London in der Region Ostengland an der Grenze zu den Midlands liegt. Zwischen 2001 und 2011 war Peterborough die am schnellsten wachsende Stadt im UK. Zugezogen sind vor allem EU-Migrant*innen aus Ostmitteleuropa. Auch im letzten Jahrzehnt sind pro Jahr 2.000 neue Einwohner*innen dazugekommen.

Von 1967 bis 1988 zählte die Stadt zu den wenigen ausgewählten »New Towns«, die vor allem in den Bereichen Wohnungsbau und Unternehmensansiedlung von der Zentralregierung besonders gefördert wurden. Ein großer Teil des kommunalen privaten Hausbestands ist in den letzten beiden Dekaden von Immobilienunternehmen und Investoren aufgekauft worden. Seit 2017 hat sich die Zahl der Haushalte, die sich bei der Stadtverwaltung als wohnungslos gemeldet hat, auf mehr als 2.300 verdoppelt.

Der Verfall des Wohnungsbestands wegen des Rückzugs des Staates aus der Wohnungsversorgung und die immer knapper werdenden Finanzmittel für den Bau neuer Quartiere werden von der Stadtverordnetenversammlung, in der die Konservative Partei die Mehrheit hat, als größtes Problem gesehen, weil das Wirken der Immobilieninvestoren die soziale Kohäsion in den Quartieren zerstört. Müllentsorgung in Parks und Nebenstraßen ist aus dem Gemeindehaushalt nicht mehr finanzierbar. Die Mittel der Zentralregierung sind von 81 Mio. £ (2010) auf heute 10 Mio. £ geschrumpft; und das Gesamtbudget des Rates für 2019/20 ist 25 Mio. £ niedriger als die für 2013/14 verfügbaren 176 Mio. £.

Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt 5%; doch ein Großteil der Arbeitsplätze ist prekär. Amazon ist mit 1.000 unbefristet Beschäftigten und weiteren 1.000 Zeitarbeitsjobs eines der größten Unternehmen vor Ort. Die Realeinkommen der Peterborians sind 2017 gegenüber 2009 im Durchschnitt um 13% oder um £4.000 geschrumpft.


Gründe für Labours Wahlerfolg

Schwerpunktsetzung auf lokale Themen: In explorativen Diskussionen zeigte sich, dass die Labour Party verlieren würde, wenn sie die Themen Brexit, Regierungshandeln und Wirtschaft in den Vordergrund rücken würde. So konzentrierte sie sich auf drei Themen: eine steigende Kriminalitätsrate, der Zustand der Schulen und illegale Müllentsorgung (»fly-tipping«). Diese Strategie hatte einige Bedenken geweckt, insbesondere nachdem die EP-Wahl gezeigt hatte, dass ein einziges nationales Thema, Brexit, alle anderen dominierte. Andererseits: »Wenn wir gewinnen, hat sich erwiesen, dass man mit einer Kampagne zu konkreten Themen ein übermächtiges nationales Thema aushebeln kann. Wir thematisieren Polizei, Müllentsorgung und Ausbildung; sie Brexit, Brexit, Brexit und nochmals Brexit.«

Rücksichtslose Kampagne zur Abwahl der straffälligen Labour-Abgeordneten: Die Nachwahl war notwendig geworden, weil Fiona Onasanya, die 2017 den Wahlkreis für Labour gewonnen hatte, wegen Falschaussage zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Die Parteispitze zeigte keine Sentimentalität und sorgte dafür, dass das erforderliche Petitum zur Abwahl von der eigenen Parteiorganisation vorangetrieben wurde. Dazu wurden zwei hauptamtliche Mitarbeiter abgestellt.

Die beeindruckende Wahl-Datenbank wurde noch verbessert: Schon 2015 und 2017 konnte die örtliche Wahlkreisorganisation auf eine gute Datenbasis rekurrieren. Die Abwahlkampagne wurde genutzt, um das Wissen über die einzelnen Straßen zu verfeinern, die dann bestimmten Ratsmitgliedern und Aktivist*innen zugewiesen wurden. Ein Stadtrat berichtete, dass er die Bewohner*innen einer Straße bis zu viermal besucht habe, und mehrere Aktivisten gaben an, dass sie am Wahltag bis zu neunmal an einige Türen geklopft hätten, um an die Wahl zu erinnern.

Kampagne für Briefwahl: Nach zwei Parlamentswahlen, zwei EP-Wahlen, dem EU-Referendum und zwei Kommunalwahlen innerhalb von fünf Jahren wurde gerade bei den Stammwähler*innen eine Wahlmüdigkeit befürchtet. Die höhere Briefwahlbeteiligung hat das knappe Wahlergebnis abgesichert.

Momentum mobilisierte Hunderte von Aktivisten: Trotz interner Streitigkeiten über Brexit und Spannungen zwischen dem Sprecher von Momentum, Jon Lansman, und Corbyns Beraterteam ist die Basisorganisation, die Corbyn an die Spitze der Partei gebracht hat, immer noch eine bedeutende Kraft. Momentum hat fast 1.000 Aktivist*innen für den Häuser- und Telefonwahlkampf mobilisiert. Sie reisten dazu nicht nur aus London an, sondern auch aus weiter entfernten Städten. Sie aktivierten die lokalen Parteimitglieder, vor allem Wechselwähler*innen anzusprechen. Mehr als 300 Personen waren am Samstag vor dem Wahltag und mehr als 500 am Wahltag selbst, einem Donnerstag, auf den Straßen und an den Haustüren unterwegs.

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