3. Januar 2020 Bernhard Sander: Frankreichs Eisenbahner streiken gegen Rentenreform

Länger und härter

Der Streik der Eisenbahner in Frankreich gegen die Rentenreform der Regierung Eduard Philippe dauert jetzt schon länger als ihr berühmter »erster Streik gegen die Globalisierung«, mit dem die Beschäftigten der Staatsbahnen 1995 ähnliche Pläne zur Verschlechterung der Altersversorgung vom Kabinettstisch fegen konnten.

Die Armutsquote heutiger Ruheständler*innen ist mit 3,5% im Vergleich zu Deutschland und anderen Staaten der Industrieländerorganisation OECD außergewöhnlich niedrig. Die Unterstützung der Bevölkerung in den Umfragen ist ungebrochen hoch, daran konnte auch das erhöhte Reisebedürfnis an den Festtagen nichts ändern. Im Gesundheitswesen und in anderen Bereichen werden ebenfalls die Arbeitskämpfe fortgesetzt.

Wie damals kämpft nun eine neue Generation gegen die Finanzialisierung und Individualisierung der Sozialversicherung. Macrons Finanzreformen, allen voran die Streichung der Vermögenssteuer und die Senkung der Unternehmenssteuer auf europäisches Durchschnittsniveau, haben bereits bewirkt, dass sich Frankreich »normalisiert« hat.

Premierminister und Staatspräsident geben sich entschlossen, die 42 bestehenden Systeme zu vereinheitlichen, obwohl nur ein Teil von ihnen defizitär und auf Staatszuschüsse angewiesen ist, weil ihre Beschäftigtenzahlen zurückgehen. Das gesamte Staatsdefizit überschreitet zum Jahreswechsel zwar die Marke von 100% des BIP, aber die Inlandsnachfrage durch eine hohe Staatsquote, hohe Renten und stabilen privaten Konsum stabilisiert das Wirtschaftswachstum deutlich über den deutschen Zuwachsraten. Infolgedessen sinkt auch die Arbeitslosenquote seit Jahren langsam aber stetig. Aber die hohen Rückstellungen für die Pensionsansprüche in bestimmten Branchen belasten die Investitionsmöglichkeiten.

Neben den Eisenbahner*innen und Busfahrer*innen sind auch Lehrer*innen und der gesamte öffentliche Dienst in den Streik getreten. Ihnen allen will Macron die Renten beschneiden. Etwa das angebliche Privileg der Lehrer*innen, die Rente nach dem letzten Gehalt vor der Pensionierung zu berechnen, und nicht nach der Summe der eingezahlten Beiträge – wie es bei Angestellten in der Privatwirtschaft üblich ist. Zwar soll das gesetzliche Rentenalter offiziell bei 62 Jahren bleiben, es gilt aber ab 2027 ein »Gleichgewichtsalter« von 64 Jahren, das ermöglicht, eine volle Rente zu beziehen. Wer vorher und ab 62 in den Ruhestand gehen will, muss Abzüge in Kauf nehmen. Wer länger erwerbstätig bleibt, kann mit Zuschlägen rechnen.

Nach den schweren Niederlagen der Gewerkschaften bei den Abwehrkämpfen gegen die Liberalisierung des Tarifrechts und der Privatisierung der Rechtsform der Eisenbahn waren es im vergangenen Jahr die Kämpfe der Gelbwesten in der quasi gewerkschaftsfreien Provinz, in Dutzenden von Departements-Hauptstädten und an den Verkehrsknotenpunkten, die das Bewusstsein von der tiefen sozialen Spaltung Frankreichs wachhielten und der Regierung sogar einige materielle Zugeständnisse für ärmere Einkommen abgetrotzt haben.

Am Jahrestag der ersten Gelbwesten-Proteste waren in Frankreich laut Polizei nur 28.000 Demonstrant*innen unterwegs – ein Zehntel derjenigen, die vor einem Jahr protestierten. Und doch bleibt die Präsenz der Gelbwesten an fast jedem Wochenende ein Problem für Macron. »Die Gelbwesten haben das Klassenkampf-Bewusstsein wiedererweckt«, schreibt der Soziologe Jérôme Sainte-Marie. So war die Wucht der Verteidigungsbereitschaft in der Rentenfrage für die Regierung und für Staatspräsident Macron zweifellos überraschend.

Macron hatte ein paar Sollbruchstellen in sein Gesetzesvorhaben eingebaut, mit denen er auf den sozialen Protest reagieren wollte. So hatte man entgegen dem ursprünglichen Vorschlag des Hochkommissars für die Rentenreform im Gesetzentwurf das rechnerische Bezugsjahr auf 64 Jahre hochgesetzt. Macrons Korrektur (nach dem ersten nationalen Protesttag) auf 62 Jahre konnte aber nicht verhindern, dass sich die gemäßigten Gewerkschaftsverbände um die CFDT dem Arbeitskampf anschlossen.

Ursprünglich sollte die neue Altersruhe alle Beschäftigten betreffen, die mehr als fünf Jahre vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben stehen. Nun sagte der Regierungschef, sie werde für die Franzosen gelten, die noch mindestens 17 Jahre bis zur Rente haben, beziehungsweise 1975 oder danach geboren sind. Damit verkleinert er erheblich den Kreis der heute Aktiven, die Veränderungen spüren werden.

Der zweite Trick zur Dämpfung des sozialen Protests sind Teilzugeständnisse für bestimmte Berufsgruppen, auf deren Unterstützung die Regierung in den kommenden Kämpfen angewiesen bleiben wird: Feuerwehr, Polizei, Militär und ein wenig die Lehrer*innen.

Ihre Renten sollen nicht geschmälert werden, gelobt der Premier, der zudem Gehaltserhöhungen für Berufseinsteiger*innen in Aussicht stellt. Bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben RATP, wo Mitarbeiter*innen heute je nach Tätigkeit mit 52 oder 57 in Rente gehen dürfen, soll die Regelung sogar nur für die Jahrgänge ab 1980 beziehungsweise 1985 gelten. Alle Zugeständnisse können aber in Einzelkämpfen wieder abgeräumt werden, zumal sie dann noch viel eher als Privilegien denunziert werden können.

Zur politischen Manipulierbarkeit der zukünftigen Rente schwieg der Staatspräsident. Große Sorgen machen sich viele Franzosen über den Wert der erworbenen Rentenpunkte. Sie fürchten, der werde je nach Kassenlage manipuliert. Als grobe Richtschnur hatte der Hochkommissar Jean-Paul Delevoye angedeutet, jeweils zehn Euro Beitrag würden einen Rentenpunkt bringen und dessen Wert betrage rund 55 Cent. Premier Philippe sicherte zu, es werde gesetzlich festgelegt, dass der Wert der Rentenpunkte nicht sinken kann. Die genauen Ausgangswerte würden die Sozialpartner »unter Aufsicht des Parlaments« bestimmen.

Diese goldenen Brücken haben bisher nicht dazu geführt, die Streikfront zu spalten. Man fühlt sich auf Seiten der Beschäftigten nicht nur politisch durch das Konzept herausgefordert, sondern auch durch die persönliche Widerwärtigkeit der Protagonisten: Der hohe Kommissar für die Rentenfragen hatte seine Nebentätigkeiten in der Versicherungsbranche »vergessen anzugeben«, was von einem halben Dutzend Regierungsmitglieder als Kleinigkeit und Kavaliersdelikt abgetan wurde. Der Chef des Vermögensverwalters Blackrock, der von der Umorientierung auf private Altersversorgung vermutlich deutlich profitieren wird, wird für einen Orden der französischen Ehrenlegion vorgeschlagen.

Der neue Hochkommissar stammt wie viele andere Kabinettsmitglieder aus dem obersten Management börsennotierter Unternehmen. In diesem Fall hat der Einzelhandelskonzern Auchan seinem scheidenden Manager noch eine fürstliche Abfindung mitgegeben, bevor er ins Parlament einzog. Da klingt der Satz des Regierungschefs »Wir opfern unsere Rente nicht dem König Mammon, so, wie wir das Prinzip ›Jeder für sich‹ ablehnen« wie blanker Hohn.

Bestimmte Absichten zur Modernisierung der Altersversorgung mögen durchaus vernünftig klingen, zumal in den Ohren der »gemäßigten« Gewerkschaftsverbände CFDT usw.

  • So erschweren 42 Einzelsysteme durchaus den Übergang zwischen ihnen und damit die berufliche Mobilität.
  • Durch das neue Punktesystem sammeln auch Teilzeitarbeiter*innen, Mini-Jobber*innen und Mikro-Unternehmer*innen Punkte für die Rente, deren Beiträge heute nur zu oft ohne Rentensprüche verloren gehen, weil die Mindestzahl von 150 Arbeitsstunden pro Quartal nicht erreicht wird.
  • Wer mehr als 10.000 Euro verdient, erwirbt mit seinen darüber hinaus gehenden Abgaben keine weiteren Rentenansprüche, sondern unterstützt damit solidarisch ärmere Franzosen.
  • Zu den Gewinnern des neuen Rentensystems sollen die Frauen gehören, die viel weniger verdienen und noch weniger Rente bekommen, und denen die Schwangerschaft und die Erziehungszeit künftig schon vom ersten Kind an besser angerechnet wird.
  • Kein/e Rentner/in werde künftig weniger als 1.000 Euro netto erhalten, versicherte der Premier, und die Hinterbliebenenrente werde auf 70% des früheren gemeinsamen Renteneinkommens festgesetzt.
  • Körperlich besonders schwere Tätigkeit wird in Rentenpunkten angerechnet und ermöglicht es, bis zu zwei Jahre eher in Rente zu gehen.

Einzelne Gewerkschaftsbünde wie CFDT, UNSA und christliche CFTC stehen dem Punktesystem grundsätzlich positiv gegenüber. Die längere Lebensarbeitszeit aber bleibt die »rote Linie«, von der Lauren Berger als Chef der CFDT sprach. Auch UNSA sprach davon, dass Lebensarbeitszeit, Mindestrente und Abschläge neu verhandelt werden müssen.

Das von der Regierung vorgetragene Argument der Demografie zieht nicht, da das Gesamtsystem nach bisherigen Prognosen erst in einigen Jahren ins Defizit steuert und auch das neue System mit diesem vermeintlichen Problem konfrontiert wäre. Die CFDT hat in diesem Zusammenhang Beitragserhöhungen vorgeschlagen, die sie bisher strikt abgelehnt hat.

In den Punkten, mit denen der Regierungsentwurf Verbesserungen für sich in Anspruch nimmt, müssen sich die Gewerkschaften auf ein gemeinsames Konzept verständigen, um die Auseinandersetzung bestehen zu können. Um die CFDT in der Gewerkschaftsfront zu halten, was auch längerfristig eine soziale Perspektive für das Land öffnen könnte, müsste man der Regierung ein Gegenkonzept und Kompromisslinien anbieten können.

Einzelne Gewerkschaftsgliederungen wie die UNSA Eisenbahn, mit 7% der Lokführer*innen zweitstärkste Organisation, haben eine »Streikpause« angekündigt. In jedem Berufszweig wird dezentral über eine Fortsetzung der Aktionen entschieden, Streikkassen führen die Verbände nicht – auch wenn die Autokredite weiterlaufen, Weihnachtsgeschenke gekauft werden, Miete zu bezahlen ist. Auch die Gewerkschaft der Cadres (Führungskräfte) legte eine Pause ein. Der Staatssekretär im Transportministerium warnte die militanten Gewerkschaften vor »Einschüchterung, Druck und Aggression auf ihre Kollegen, die sich für die Arbeitsaufnahme entschieden haben«.

Da die Unterstützung in der Bevölkerung groß ist, wird viel davon abhängen, wie die Beteiligung am nächsten nationalen Aktionstag am 9. Januar sein wird. Die Zugeständnisse für einzelne Berufsgruppen wertet der CGT-Vorsitzende Martinez als Erfolge der bisherigen Streikbewegung und appelliert ans Durchhaltevermögen.

Die Fronten sind verhärtet. Die Neujahrsansprache Macrons enthielt keine konkreten Verhandlungsangebote und enttäuschte vor allem die »reformistischen« Gewerkschaftszentralen, die nun ebenfalls zu Betriebsversammlungen zur Fortsetzung der Streiks aufriefen.

Den Gewerkschaften fehlen schon seit langem politische Repräsentanten. Umgekehrt fehlt es dem Staatspräsidenten an Hegemonie. In den Umfragen aus größeren Städten zu den Kommunalwahlen sind die LREM-Listen mit um die 15% Zustimmung nur halb so stark wie Linksunionen und rechtsbürgerliche Verbindungen. Die große Unbekannte bleibt allerdings Marin Le Pen und ihre Rassemblement National.

Macrons Rentenprojekt beunruhigt 68% der befragten Franzosen. Ungefähr die Hälfte (46%) spricht den Gewerkschaften auch nach drei Wochen ihr Vertrauen aus und nur 31% der Regierung. Gleichzeitig finden einzelne Punkte des Rentengesetzes breite Zustimmung: 72% stimmen Abschlägen zu, 65% der Erhöhung der Mindestrente, nur 47% dem Ende der Sonderrentensysteme und noch weniger (24%) der Referenz 64 Jahre für den Renteneintritt ohne Abschläge (55% sind dagegen). Mit der Dauer der Auseinandersetzung fällt vor allem die Zustimmung zu diesem Punkt.

Die Unterstützung für die gewerkschaftlichen Aktionen bleibt auf einem hohen Niveau (zuletzt 62%). Das Ansehen der Gewerkschaften ist eher gestiegen (41% Anfang November auf 46% Ende Dezember) Die Unterstützung ist etwa gleich hoch bei ÖPNV-Nutzern, also potentiell vom Streik negativ betroffenen Menschen (29% unterstützen/22% sympathisieren) und bei Nicht-Nutzern (33%/21%), gleich hoch bei Leuten in einem Renten-Sondersystem  (47% unterstützen/19% sympathisieren) bzw. im allgemeinen System der Altersversorgung (34%/21%)

In der Neujahrsansprache hatte der Präsident der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Referenz erwiesen: Er wolle »das System der paritätischen Beiträge garantieren, das seit dem Nationalen Rat der Resistance unseres ist und durch die Zeit seine Solidität bewiesen hat«. Der Premierminister hatte den Budgetausgleich als Ziel des neuen Systems hervorgehoben. Ob Macron nur eine Drohung versteckt hat oder zu Konzessionen vor den Grundfesten der Altersversorgung bereit ist, werden die kommenden Tage zeigen. Ende Januar entscheidet das Parlament.

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