29. Mai 2017 Otto König / Richard Detje: Argentinien – 40 Jahre Suche nach den geraubten Kindern

»Lebend wollen wir sie«

Vor über 40 Jahren, am 24. März 1976, putschten sich in Argentinien die Militärs an die Macht. Danach entfesselte die Junta einen »guerra sucia«, einen »schmutzigen Krieg, gegen linke Oppositionskräfte und Gewerkschafter. Zehntausende wurden willkürlich verhaftet und verschleppt, monate- und jahrelang ohne Prozess festgehalten, gefoltert und ermordet. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 mindestens 30.000 Menschen ermordet.

Zu den perfidesten Methoden der Polizei und des Militärs gehörte das Verschwindenlassen ihrer Gegner und der Raub von deren Babys. Die Ermordeten wurden in anonymen Massengräbern verscharrt oder aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen. Mindestens 500 Babys, in Lagern und Folterkellern geboren, wurden systematisch ihren Müttern weggenommen. Die Frauen wurden anschließend umgebracht.

»Ziel des Plans war die Verbreitung des Terrors, die Unterwerfung und die Vernichtung der Gegenseite. Deswegen mussten die Blutsbande getrennt, die Mütter von ihren Kindern getrennt werden«, sagte im Januar 2012 Staatsanwalt Federico Delgado beim Auftakt des zweiten Prozesses gegen die Ex-Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone.

Zwei Jahre nach dem Sturz der Militärregierung wurden 1985 ein Dutzend Generäle und Junta-Mitglieder zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, während das Gros der Mörder und Folterer verschont blieb. Angeblich aus Angst vor Militärrevolten setzte der erste demokratische Präsident Raúl Alfonsin im Kongress die Amnestiegesetze »Punto Final« (Schlusspunkt) und »Obedencia debida« (Gehorsamspflicht) durch. Sein peronistischer Nachfolger Carlos Menem ordnete schließlich eine Reihe von Straferlassen für bereits verurteilte Ex-Junta-Mitglieder an.

Dem stetigen Kampf der »Madres de Plaza de Mayo« und der »Abuelas de Plaza de Mayo« gegen die »Straflosigkeit« ist es zu verdanken, dass Präsident Nestor Kirchner 2003 die Amnestiegesetze annullierte und damit die Wiederaufnahme von Prozessen gegen die Verantwortlichen ermöglichte.

Seit der Amtsübernahme des neoliberalen Mauricio Macri vom rechten Bündnis »Cambiemos« im Dezember 2015 wird nicht nur immer wieder die Zahl der Opfer der Militärdiktatur angezweifelt,[1] sondern es nehmen auch die Versuche regierungsnaher Kreise zu, die sogenannte »Theorie der zwei Dämonen« als offizielle Geschichtsinterpretation wieder hoffähig zu machen. Diese besagt: Argentinien ist nicht nur Opfer der Gewalt seitens des Staates, sondern auch seitens der bewaffneten Organisationen der politischen Opposition gewesen – mehr noch: Der Staatsterrorismus wird als Reaktion auf linke Gewalt dargestellt.

Während Ende April die »Mütter de Plaza de Mayo« ihr 40-jähriges Bestehen feierten und fast zur gleichen Zeit die »Großmütter de Plaza de Mayo« verkündeten, dass sie den vermissten Enkel Nr. 122 der insgesamt 500 verschwundenen Kinder ausfindig machen konnten, entschied der Oberste Gerichtshof, verurteilten Tätern der Militärdiktatur in Zukunft eine Reduzierung ihrer Haftstrafen zu ermöglichen, was auf den wütenden Protest hunderttausender Argentinier stieß. »Señores jueces: Nunca Más. Ningún genocida suelto. – Herren Richter: Nie wieder. Kein frei herumlaufender Völkermörder«, skandierten sie bei ihrem Marsch durch das Zentrum der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.

Das Gericht hat mit seinem Urteil im Fall Luis Muiña[2] die Anwendbarkeit des »Gesetzes 24.390« auch in Fällen von Menschenrechtsdelikten ermöglicht. Das von 1994 bis 2001 geltende, auch als »Ley 2x1« bekannte Gesetz sollte Strafprozesse beschleunigen und die damals überfüllten Gefängnisse entlasten. Es sah vor, eine länger als zwei Jahre dauernde Untersuchungshaft in doppelter Höhe von dem verhängten Strafmaß abzuziehen. Mit ihrer Entscheidung eröffneten die obersten Richter erstmals auch für rechtskräftig verurteilte Täter der Militärdiktatur die Möglichkeit eines Strafnachlasses. Für Friedennobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel ist das umstrittene Urteil »Teil einer Lawine, mit der sie versuchen, das Gesicht der Unterdrücker reinzuwaschen.«

Angesichts der massiven Proteste verabschiedeten die beiden Kammern des Kongresses inzwischen ein Gesetz, das die Anwendung des »Gesetzes 24.390« in Fällen von Menschenrechtsverletzungen untersagt. Die Entscheidung des Senats steht noch aus. »Wenn das Urteil ein Versuchsballon war, dann ist er diesmal wie eine Seifenblase geplatzt. Aber wir müssen aufpassen, ob Regierung und Justiz nicht noch weitere aufsteigen lassen«, mahnten Mirtha Ramírez von den »Müttern« und Estela de Carlotto von den »Großmüttern« zur weiteren Wachsamkeit. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Teil einer vom Staat gestützten Terrorkampagne waren, dürfen nicht mit gewöhnlichen Verbrechen gleichgesetzt werden.

Seit dem 30. April 1977, schon während der Diktatur, begannen Angehörige von Opfern des Militärregimes gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Da Proteste im Stehen von der Junta verboten worden waren, drehten die Mütter – 14 Frauen mittleren Alters – auf dem Plaza de Mayo in Buenos Aires ihre Runden. Sie wollten zu Junta-Chef Jorge Videla vorgelassen werden, um Auskunft über den Verbleib der »Desaparecidos«, der verschwundenen Söhne und Töchter, zu erhalten. Schnell waren es hunderte Mütter und Großmütter, erkennbar an ihren weißen Kopftüchern, die mit Schildern, auf denen die Namen der Verschwundenen stehen, bis heute jeden Donnerstag den Platz schweigend umkreisen. Ihre Losung lautet: »Lebend wollen wir sie«.

41 Jahre nach dem Putsch und 34 Jahre nach der Rückkehr Argentiniens zur Demokratie gelten die »Madres de la Plaza de Mayo« und die »Abuelas da la Plaza de Mayo« als erfolgreichste Menschenrechtsbewegung weltweit, die das staatlich betriebene Verschwinden ihrer Kinder und den Raub der Enkel öffentlich gemacht hat. 122 geraubte Enkel und Enkelinnen konnten bis heute – meist erst als Erwachsene – identifiziert werden. Sie gehören zu jenen 500 argentinischen Babys, die während des Militärregimes ihren Müttern weggerissen wurden.

Es war eine besonders niederträchtige Form der Folter: Überlebende berichteten, dass die Frauen ihre Kinder gefesselt und mit verbundenen Augen zur Welt bringen mussten und nur wenige jemals das Gesicht ihrer Babys zu sehen bekamen. Danach wurden die Mütter ermordet. Ihren Kindern wurden gefälschte Geburtsurkunden ausgestellt und neuen Eltern übergeben, die mit dem Regime sympathisierten. Die Mütter seien »Aktivistinnen einer Terrorismusmaschinerie« gewesen und hätten ihre Kinder als »menschliche Schutzschilde« missbraucht, so der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Ex-Diktator Jorge Videla, der 2012 wegen des »Baby-Raubs« erneut vor Gericht stand.[3]

Die Großmütter haben seit Ende der 1970er Jahre Zeugenaussagen und Daten über die Geburten in den Folterlagern gesammelt. Auf Plakaten an Bushaltestellen und an öffentlichen Gebäude fordern sie ihre Landsleute auf: »Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es uns.« In Anzeigen in den Medien ermutigen sie ihre MitbürgerInnen, die Zweifel an ihrer Identität haben, einen Gentest zu machen. Aufgrund ihrer Initiative werden seit den 1980er Jahren genetischen Daten in einer nationalen Datenbank gesammelt. Dort haben die Mütter und Großmütter ihre DNA hinterlegt. Durch den Abgleich mit den hinterlegten genetischen Daten erfuhren die wiedergefundenen 122 EnkelInnen von ihrer wahren Identität.

Und sie suchen weiter. Denn für Estela de Carlotto, Präsidentin der Großmütter des Plaza de Mayo, die ihren verschleppten Enkel wiedergefunden hat,[4] steht fest: »Es werden immer Zweifel bleiben. Aber die Angehörigen der Ermordeten müssen erfahren, wo die Toten sind. Sonst können sie ihren Schmerz nicht verarbeiten.

[1] Anfang 2017 sprach der Ex-Militär und von Präsident Macri berufene Chef der Zollbehörde, Juan José Gómez Centurión, in einer Fernsehtalkshow wörtlich von »8.000 Wahrheiten« und »22.000 Lügen«. Gleichzeitig stellte er in Abrede, dass es während der Diktatur einen »systematischen Plan« zur Folterung und Ermordung von Zivilpersonen gegeben hat (Amerika 21,3.4.2017).
[2] Es ging um den Fall des 61-jährigen Luis Muiña. Die Militärs hatten auf dem Gelände des Hospital Posadas in Buenos Aires kurz nach dem Putsch ein geheimes Gefangenen- und Folterlager eingerichtet. Dreißig Mitarbeiter wurden verhaftet, mindestens elf von ihnen sind seitdem verschwunden. Muiña wurde 2011 als Mitglied einer para-polizeilichen Einheit, die mutmaßliche Regimegegner entführte, folterte und ermordete, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 13 Jahren Haft verurteilt. Zwei Jahre später wurde das Urteil rechtskräftig und die Zwei-für-Eins-Regelung verfügt. Der Oberste Gerichtshof bestätigte nun in letzter Instanz die Zulässigkeit dieser Regelung. Nach nur neun Jahren ist Muiña jetzt auf freiem Fuß (TAZ,11.5.2017).
[3] Die USA wussten vom systematischen Kindesraubs während der argentinischen Militärdiktatur. »Wir haben uns gedacht, dass es sich nicht um ein oder zwei Kinder handelt«, sagte Elliot Abrams, ehemaliger Unterstaatssekretär im US-Außenministerium, als Zeuge im Prozess gegen die früheren Diktatoren Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone wegen mutmaßlichen Kindesraubs. Abrams: »Wir wussten, dass es einen Plan gab, denn es gab viele Leute, die sie eingesperrt oder ermordet haben. Wir nahmen an, dass die Militärregierung sich dazu entschlossen hatte, Kinder an andere Familien zu übergeben.« (TAZ, 29.1.2012)
[4] Estela de Carlottos Suche nach ihrem Enkel begann 1978, zwei Jahre nach dem Militärputsch in Argentinien. Ihre Tochter Laura, die einer linken Studenten-Organisation angehörte, war in ein Geheimgefängnis der Diktatur verschleppt worden. Im August 1978 übergab ein Polizist der Mutter Lauras Leiche – die Militärs hatten sie umgebracht. Durch eine Mitgefangene erfuhr Estela de Carlotto, dass ihre Tochter zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte.36 Jahre später fand sie ihren Enkel Guido de Carlotto alias Ignacio Hurban – es war »Enkel Nummer 114« (DLF 29.4.2017).

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