5. August 2014 Otto König / Richard Detje: Die Lügen der Ukraine-Berichterstattung

Lehrstücke der Demagogie

Trotz der Erfahrungen, dass jeder Krieg – Erster und Zweiter Weltkrieg, Vietnam, Irak und Syrien und nicht zuletzt Gaza – mit dreisten Lügenkonstruktionen gerechtfertigt wurde, ist dies für Journalisten in den bundesdeutschen Leitmedien kein Grund, im Bürgerkrieg der Ukraine mehr als einmal zu hinterfragen, um vorschnelle und einseitige Vorverurteilungen zu vermeiden.

Im Gegenteil: Je länger der Konflikt andauert, umso mehr verabschieden sich große Teil der Print- und audiovisuellen Medien der Verpflichtung zu objektiver Information und malen die Realität schwarz-weiß. »Wir kennen dies noch aus dem Kalten Krieg. Als die Welt in Gut und Böse zerfiel und wir genau wussten, wo wir standen.« (Jakob Augstein)

Schon der griechische Tragödiendichter Aischylos notierte: »Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer«. Dies untermauerte der britische Politiker und Friedensaktivist Lord Arthur Ponsonby mit seinen eigenen Beobachtungen im Ersten Weltkrieg. In seinem Buch »Falsehood in Wartime« (Lüge in Kriegszeiten) beschreibt er die Strukturelemente von Lügen und Fälschungen, die in allen nachfolgenden Kriegen Bestandteil der PR-Strategie waren: Wir wollen den Krieg nicht, das gegnerische Lager trägt die Verantwortung. Der Führer des Gegners ist ein Teufel; wir kämpfen für eine gute Sache. Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich. Und schließlich: Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.

So passiert es nun wieder beim am umstrittenen »Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU« neu entflammten Ost-West-Konflikt, in dem es letztlich um die Einflusssphären der westlichen Staaten und Russlands geht. Es wird bewusst personalisiert und dämonisiert: Das Bild, das gezeichnet wird, ist so einfach wie simpel: Wer, wie der russische Präsident Wladimir Putin, die Krim annektiert, den Bürgerkrieg in der Ukraine anheizt, lässt auch eine Boeing auf dem Flug MH17 abschießen. Es ist dieser Verzicht auf eine tiefergehende Analyse und der aggressiv-arrogante Tonfall in der Berichterstattung, der vor dem Hintergrund des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs verunsichert und empört.

Nach dem Abschuss des malaysischen Zivilflugzeugs gab es in den Redaktionen kein Halten mehr. [1] Deutschlands mediale Meinungsmacher feuerten ihre Kommentare gegen den »Schurken« im Osten ab. Die »Süddeutsche Zeitung« erhob warnend den Zeigefinger: »Mehr als 200 Europäer sind tot. Und Europa kann sich nicht mehr wegducken«. Der SPIEGEL titelte reißerisch: »Stoppt Putin jetzt!« In der »Zeit« sekundierte Carsten Luther: »Der Abschuss von MH17 über der Ostukraine ist noch nicht endgültig aufgeklärt. Trotzdem darf der Westen nicht wieder den Fehler machen, zu lange auf Russland zu warten« und folgerte: »Keine Sanktionen sind zu hart.« taz-Auslandschef Dominic Johnson forderte forsch, den Flugzeugabsturz auf dieselbe Ebene wie den Terroranschlag vom 11. September 2001 zu stellen und den NATO-Bündnisfall auszurufen.

Für FAZ-Redakteur Klaus Dieter Frankenberger belegen die Indizien, dass der Flugzeugabschuss ein »ruchloser militärischer Akt prorussischer Separatisten in der Ostukraine« war, und schlussfolgert, da Moskau die alleinige Verantwortung an der militärischen Eskalation in dem Bürgerkriegsgebiet trage, müssten die Verantwortlichen »zur Rechenschaft gezogen werden«. Ihm zur Seite springt Stefan Kornelius, Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, der gleichfalls »erdrückende Indizien« erkennt und orakelt: »Der Absturz der malaysischen Maschine wird diesen Krieg entscheidend beeinflussen. Die Ukraine wird alle Unterstützung brauchen, um ihre Grenzen schließen und sichern zu können.«

So viel kritiklose Distanz gegenüber »NATO- und CIA-gesteuerten Informationen« (Julian Nida-Rümelin) ist haarsträubend. Hinweise darauf, dass die Umstände des vermuteten Abschusses noch nicht geklärt sind, werden als »formaljuristische« Einwände abgebügelt. In dieser Logik ist der Abschuss »ein Symbol für die Ruchlosigkeit Putins — und für das Versagen der bisherigen westlichen Politik«, heißt es ein Woche später im Leitartikel des SPIEGEL (28.7.2014).

Angesichts dieser publizistischen Vorarbeit der »Edelfedern« der Mainstream-Medien ließ sich die Kiewer Administration die günstige Gelegenheit nicht entgehen, um sofort schärfere EU-Sanktionen gegen Russland einzufordern. Präsident Petro Poroschenko und der Parlamentsvorsitzende Alexander Turtschinow stellten fest, es sei an der »Zeit für die zivilisierte Welt«, der Ukraine zu helfen, denn anscheinend reicht die gerade vom ukrainischen Parlament beschlossene »Kriegssteuer« nicht aus. Auch die US-Regierung nutzte diesen Anlass, ihrerseits den Druck auf Moskau zu erhöhen. Gleichzeitig verlangte sie von den Europäern schärfere Sanktionen gegen das »Putin-Reich«.

Bei so viel Einmütigkeit verwundert es nicht, dass die EU-Staaten – und nicht die Vereinten Nationen – mit Verweis auf den Abschuss der MH17 weitere Sanktionen gegen Russland beschlossen haben. Dahinter steht die Anmaßung, die EU und die USA und nicht die UN seien das Weltgericht und die Weltpolizei. Die jetzt verabschiedeten Sanktionen gegen das drittgrößte Schwellenland der Weltwirtschaft zielen vor allem auf die Refinanzierung der staatlich kontrollierten Banken in der EU.

Nach Auffassung von Joachim Bischoff und Bjorn Radke basiert diese Politik der wirtschaftlichen Schädigung auf der Annahme: »Der Schlüssel für Frieden und Entspannung in Europa – so die Mehrheitsmeinung der politischen Eliten des Westens – liege in Moskau und mehr noch bei der politischen Zentralfigur Putin. Nur die aktuelle russische Führung könne die ukrainischen Separatisten stoppen und an den bereits aufgestellten Verhandlungstisch zwingen«. (SozialismusAktuell vom 30.7.2014)

Das führt zu folgenden Fragen: Wer hat in Politik und Medien tatsächlich durchdacht, wohin »harte Sanktionen« gegen Russland führen? Es gibt mehr als 6.000 deutsche Unternehmen, die direkt in Russland investieren, am deutsch-russischen Handel hängen mehr als 300.000 Arbeitsplätze. Mit der Verschärfung der Sanktionen setzt eine Eskalationsdynamik hin zu einem Handelskrieg ein. Wurden die Konsequenzen eines Wirtschaftskriegs mit Russland wirklich durchdacht? Wenn ja, dann hat Albert Einstein mit seiner Bemerkung Recht: »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.«

[1] Ganz im Unterschied zum Abschuss eines Airbusses der Iran Air mit der Flugnummer IR655, der am 3. Juli 1988 über dem persischen Golf von zwei Flugabwehrraketen des Typs SM-2 getroffen wurde, abgefeuert vom amerikanischen Lenkwaffenkreuzer U.S.S. »Vincennes«. 290 Menschen, darunter 66 Kinder, starben bei diesem »Unfall«. Jahre später zahlten die USA 61,8 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen. Eine Entschuldigung gibt es bis heute nicht.

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