12. Februar 2023 Joachim Bischoff/Hasko Hüning: Zum Tod von Hans Modrow

Leidenschaftlicher Kämpfer für einen demokratischen Sozialismus und gegen den Nationalismus

Hans Modrow, der im Alter von 95 Jahren in der Nacht zum 11. Februar gestorben ist, war Zeit seines langen Lebens ein überzeugter Sozialist. Er arbeitete viele Jahre als Parteisekretär der SED und stand von November 1989 bis April 1990 an der Spitze des DDR-Ministerrats.

Angesichts der Implosion des sowjetischen Systems mit dem Fall der Mauer sah er seine Aufgabe darin, durch Reformen und eine grundlegende Veränderung der DDR die bisherige Systemkonfrontation zu überwinden sowie eine politische Neuordnung der beiden deutschen Staaten zu ermöglichen. Nach einem Besuch bei Michail Gorbatschow am 30. Januar 1990 formulierte er als Ziel: »Deutschland soll wieder einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation werden.«

Bis ins hohe Alter engagierte er sich in der aus PDS und WASG hervorgegangenen Linkspartei für den demokratischen Sozialismus. Noch im Januar 2022 schickte er als Vorsitzender des Ältestenrats voller Sorge über den Zustand der LINKEN einen offenen Brief an die damaligen Vorsitzenden seiner Partei, Janine Wissler und Susanne Henning-Wellsow. Der Tenor: Die Partei wisse nicht, wofür sie stehe und was ihr Zweck sei. Sein Rat: »Wir müssen mit den Realitäten wirtschaften und nicht mit Fiktionen.«

Bis zum völkerrechtswidrigen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine fungierte er als Vorsitzender des Ältestenrats, der wegen abweichender Ansichten und beständiger Kritik an der Strategie der Partei zunächst aufgelöst und später am 11. September 2022 in veränderter Zusammensetzung neu berufen wurde.

Hans Modrow blieb in all seinen politischen Funktionen Hoffnungsträger und kein abgehobener Politfunktionär. Als er 1973 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden wurde, lebte er weiter demonstrativ bescheiden mit seiner vierköpfigen Familie in einer Dreizimmerwohnung in einem Plattenbau. Er galt immer als Stimme all jener Parteimitglieder, die bis heute die Idee einer Transformation des demokratischen Kapitalismus in eine sozialistische Gesellschaft vertreten.

Allerdings könne – so sein Votum – die Entwicklungsperiode des sowjetischen Kommunismus nicht als Vorbild oder Anleitung für eine fundamentale Demokratisierung der Gesellschaftsordnung herhalten. Dennoch wollte er die DDR nicht als »Unrechtssystem« eingeordnet sehen. Die DDR sei »weder Paradies noch Hölle« gewesen, sagte er. Auf die Frage, wie er auf sein Leben zurückblicke, gab Modrow vor Jahren in einem Interview mit der der »Lausitzer Rundschau« unter anderem zu verstehen: »Wir haben in der DDR geliebt und gelebt – und nach 1990 auch.« Er habe viel Freude gehabt und seine Enkel und Urenkel würden »keinen mit sich hadernden älteren Verwandten« erleben.


Ein Leben in unruhigen Zeiten

Seine Lebenserfahrungen sammelte Hans Modrow in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen: Er erblickte am 27. Januar 1928 im pommerschen Dorf Jasenitz als Sohn des Seemanns und Bäckers Franz Modrow und seiner Frau Agnes das Licht der Welt. Er machte nach der Schule in der NS-Zeit eine Schlosserlehre und wurde kurz vor Kriegsende im Alter von 17 Jahren zum Volkssturm eingezogen, also Teil der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie.

Während der vier Jahre Kriegsgefangenschaft leistete er »Waldarbeit im Moskauer Gebiet« – als Holzfällen für die Heizungen der Moskauer nannte er das selbst. Zugleich besuchte er eine Antifa-Schule und las z.B. »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers. Dies prägte seine sozialistische Orientierung und begleitete ihn durch alle Ämter, selbst die mit großer Verantwortung.

In das Amt des Ministerpräsidenten der DDR wurde er von der Volkskammer am 13. November 1989 gewählt, die einzige Gegenstimme kam von Margot Honecker. Jahre später erfuhr Modrow aus BND-Akten, dass Gorbatschow und der polnische Staatschef Jaruzelski 1988 erwogen hatten, ihn ggf. als Nachfolger von Erich Honecker zu empfehlen. Modrow selber sagte später, er sei von der Notwendigkeit einer Umgestaltung überzeugt gewesen, habe aber in der Sowjetunion zu den Zeiten Gorbatschows auch Erlahmung und Verwahrlosung gesehen; dieser habe auf die falschen Methoden gesetzt.

Er selbst formulierte 1989: »Unsere erste Aufgabe wird darin bestehen, dieses Land zu bewahren und dem sollten, ja müssen wir, alles andere unterordnen.« Diese Haltung war in der heraufziehenden gesellschaftlichen Transformation kaum umzusetzen. Im Herbst 1989 sprach er früh mit Vertretern von Oppositionsgruppen, setzte aber am 4. September massiv Sicherheitskräfte gegen Bürger ein, die die Gleise des Bahnhofs in Dresden stürmen wollten, um ihre Ausreise zu erzwingen, als 14 Sonderzüge an jenem Tag die DDR-Botschaftsflüchtlinge von Prag durch die Stadt an der Elbe nach Westdeutschland brachten.

Ein Gericht verurteilte ihn deswegen Jahre später zu einer Bewährungsstrafe. 1995 wurde er zudem am Ende eines langen Gerichtsstreits für seine Beteiligung an Wahlfälschungen zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 in der DDR verurteilt. Die Bewährungsstrafe wurde in einem weiteren Verfahren wegen Meineids von neun auf zehn Monate erhöht. Urteile, die kein Ruhmesblatt für eine demokratische Justiz sind. Dazu passt, dass Hans Modrow nach eigenen Angaben rund sechs Jahrzehnte vom Bundesnachrichtendienst bespitzelt wurde. Die Einsicht in die Akten musste er sich gerichtlich erstreiten.


Das Experiment sozialistische DDR

Zu DDR-Zeiten vertrat er eine Konzeption der reformpolitischen Transformation. In den 1970er-Jahren wurde Modrow wegen seiner eigenständigen Haltung zu den Problemen der sowjetisch geprägten Gesellschaften aus der SED-Machtzentrale Berlin weg und als 1. Bezirkssekretär in die Provinz nach Dresden abgeschoben. Später führte seine basisnahe Einstellung zu dem Ruf, er sei ein »Reformer«, von dem weitreichende systempolitische Veränderungen zu erwarten seien. Erich Honecker wiederum sah den Kurs Michail Gorbatschows, die Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika zu reformieren, eben gerade nicht als Versuch, sich aus gravierenden gesellschaftlich-ökonomischen Widersprüchen des »Realsozialismus« herauszuwinden.

Frühe Ansätze in der SED mit Einführung von marktwirtschaftlichen Steuerungen zu einer realistischeren Preisbildung und deutlichen Fortschritten in der wirtschaftlichen Effizienz zu kommen, waren in den bürokratischen Machtstrukturen und den Kontrollmechanismen des Comecon-Apparates stecken geblieben. Die Koordinierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den planwirtschaftlich organisierten Staatshandelsländern Osteuropas unter Führung der UdSSR verhinderte nationalstaatliche Umorientierungen. Modrows Agieren im Bezirk Dresden begründeten Spekulationen, er bewege sich in Richtung einer Gorbatschow nahen Reformpolitik.

Rückblickend sagte er in einem Gespräch mit der Zeitschrift Sozialismus, das wir im September 1990 mit ihm führten: »Zunächst möchte ich betonen, dass niemand das Scheitern, den Zusammenbruch des Modells leugnet, das 40 Jahre die Entwicklung der DDR bestimmt hat. Grundsätzlich ist zu sagen, dass sich in der DDR eine überzentralisierte, bürokratische Form der Planwirtschaft herausgebildet hatte, die ökonomische Aktivitäten reglementierte, statt sie zu fördern, zu entfalten. Hinzu kam, dass das Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik darauf hinauslief, ein höheres Sozialprodukt zu verteilen, als erwirtschaftet wurde. Das führte dazu, dass die Akkumulation mehr und mehr an den Rand gedrängt und die Modernisierung der Wirtschaft derart behindert wurde, dass letztlich die volkswirtschaftliche Reproduktion nicht mehr gesichert war.

Unter Günter Mittag [Mitglied des Politbüros des ZK der SED und ZK-Sekretär für Wirtschaftspolitik] wurde dies kaschiert durch die Zurschaustellung und Konzentration auf einige wenige moderne Technologien – den berühmten Mega-Chip z.B.; in einer Mischung von Selbsttäuschung, Inkompetenz und bewusster Manipulation redete man davon, Weltniveau erreicht zu haben, obgleich wir meilenweit davon entfernt waren.

Das sind einige der grundlegenden Ursachen für die aktuellen Probleme. Die Fehler und Fehlentwicklungen müssen intensiv und gründlich aufgearbeitet werden. Dies umso mehr, als heute bereits wieder sehr oberflächlich über die 40 Jahre DDR geurteilt wird. Verdrängt wird, dass wir im Vergleich mit den anderen so genannten sozialistischen Staaten immer als der Staat mit der größten Effizienz, mit der solidesten ökonomischen Grundlage galten. Jetzt wird so getan, als ob davon nie etwas existiert habe. Meine Position war, dass man in der Übergangsphase, nach dem Zusammenbruch des alten Systems, versuchen musste, Elemente der Perestroika für die DDR zu nutzen.« (Gegen nationale Verantwortungslosigkeit. Diskussion mit Hans Modrow, in: Sozialismus, Heft 10-1990, S. 5–9; das vollständige Interview kann hier nachgelesen werden)

Nach dem Fall der Mauer qualifizierten ihn seine politischen Erfahrungen und sein theoretisch-geschichtliches Wissen für Führungsaufgaben in der sich erneuernden SED und für eine Transformation aller überlieferten sowjetischen Machtstrukturen in den demokratischen Kapitalismus. In der politisch breitgefächerten Koalitionsregierung, die als Nachfolger von Willi Stoph als Vorsitzenden des Ministerrates der DDR für etwa 150 Tage führte, ging es auch um den Versuch einer eigenständigen Stabilisierung der nichtkapitalistischen Ökonomie der DDR und um die Verteidigung des Volks- und Gemeineigentums.

»Die ständigen Angriffe seitens der Bonner Regierung, die Forderungen, umfassend und beschleunigt zu privatisieren und die Wirtschaft von allen zentralistischen Strukturen frei zu machen, die sich häufenden Erklärungen, westdeutsche Investoren würden erst nach Beseitigung zentralistischer Hemmnisse kommen, machten dann aber bald klar, dass sich eine Perestroika in der DDR nicht mehr verwirklichen ließ, so dass wir uns darauf konzentrierten, Bedingungen und Voraussetzungen für eine schrittweise Anpassung einer Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Das war das Konzept, an dem die strategische Gruppe um Christa Luft immer wieder gearbeitet hat.« (Das Zitat ist ebenfalls aus dem 1990 geführten Gespräch)

In seiner Regierungszeit standen bei Gesprächen in Moskau wie in Bonn zwei Punkte obenan: Die Vereinigung Deutschlands und nicht ein Anschluss nach dem damaligen Artikel 23des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Letzterer wurde allerding Realität, mit der Konsequenz, dass die Verständigung auf eine neue Verfassung für die Berliner Republik machtpolitisch nicht in Frage kam.

Anders lief es mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Die DDR hatte dies bereits 1950 im Görlitzer Vertrag vollzogen, doch Helmut Kohl als Kanzler der Bundesrepublik weigerte 6sich unter dem Druck der westdeutschen Vertriebenenverbände monatelang, diese Perspektive zu verfolgen. Modrow hatte die Frage bei Regierungsgesprächen am 13. Februar 1990 in Bonn vorgetragen. Die junge Partei »Demokratischer Aufbruch« (mit der Pressesprecherin Angela Merkel) beklagte: »Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze fand nicht die erwartete Berücksichtigung durch den Bundeskanzler.«

Diese Blockade konnte die Kohl-Regierung nicht durchhalten; ohne diese Anerkennung hätte es keine deutsche Einheit gegeben. So unterschrieben am 17. Juni 1991 der Bundeskanzler und der polnische Regierungschef Jan Krzysztof Bielecki den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag.


Respektlose Behandlung und der Drei-Stufen-Plan

Diese Reise nach Bonn ist auch aus einem anderen Grund erwähnenswert: Hans Modrow hatte Anfang Februar 1990 seine Konzeption »Deutschland, einig Vaterland« vorgelegt, die eine schon früher diskutierte Vertragsgemeinschaft sowie die Übertragung von Souveränitätsrechten auf eine deutsche Konföderation unter Einhaltung der Neutralität als außenpolitischen Status vorsah. Er als DDR-Ministerpräsident und seine Wirtschaftsministerin Christa Luft wollten über deutsch-deutsche Zusammenarbeit reden, mit dem Ziel eventuell zeitlich befristet die Transformation zu gestalten. Kohl aber hatte spätestens Mitte Januar den D-Zug Richtung deutsche Einheit aufs Gleis gesetzt und ließ nun die DDR-Regenten spüren, sie seien die Verlierer der deutschen Geschichte.

Die Berliner Zeitung berichtete: »Die DDR-Wünsche nach einem westlichen ›Solidarbeitrag‹ in Höhe von 10 bis 15 Milliarden Mark wurden brüsk abgeschmettert.« Die Delegation, zu der auch Vertreter des Runden Tisches gehörten, kehrten unverrichteter Dinge zurück. Bei Willy Brandt beklagte sich Modrow später, so berichtete es Der Spiegel, bitter über die respektlos-groben Umgangsformen des Bundeskanzlers.

In seiner fünfmonatigen Amtszeit versuchte Modrow nach dem Scheitern eines Konföderationsprojektes mit einem Drei-Stufen-Plan – angesichts des Umbaus der Machtstrukturen allerdings ebenfalls vergebens – Errungenschaften der DDR als Bausteine in die Transformation zur kapitalistischen Gesellschaft einzubringen:

  • Als Preis für die deutsche Einheit forderte er eine militärische Neutralität des neuen Staates, also ohne NATO-Beitritt.
  • Im März 1990 gründete seine Regierung die »Treuhandanstalt«, die den Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft organisieren sollte.
  • Außerdem wollte er die in der sowjetischen Besatzungszone durchgesetzte Bodenreform gegenüber dem Ansturm der kapitalistischen Investoren in einen sozialverträglichen Modus eingebettet sehen. Mit dem sogenannten Modrow-Gesetz ermöglichte er zahlreichen Haus- und Hof-Besitzern, die Grundstücke, auf denen ihre Häuser standen und die oft nach dem Krieg enteignet worden waren, sehr preiswert zu kaufen. Seine Kritiker werfen ihm vor, die Grundstücke seien vor allem an Funktionäre des SED-Staates günstig verscherbelt worden, was mit Blick auf die Herausbildung von oligarchischen und kleptokratischen Strukturen in anderen post-sowjetischen Gesellschaften jedoch als eine absurde Behauptung erscheint.

Modrow berichtete, er sei nach dem Erlass des Gesetzes immer wieder von Menschen angesprochen worden, die ihm dankten: »Wegen Ihnen konnten wir unser Zuhause behalten.« Mit diesem Gesetz aus dem März 1990 wurden DDR-Häuser und -Gärten vor dem harten West-Zugriff geschützt, es erlaubte den vermögensarmen Ostlern, die Grundstücke für Beträge weit unter dem Marktpreis zu erwerben.


Der Sieg des Kapitals

Bei den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 verlor die SED-PDS die Macht und Hans Modrow einen Monat später sein Amt. Ihm folgte als letzter Ministerpräsident der DDR bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1990 der CDU-Politiker Lothar de Maizière.

Modrow bilanzierte in dem bereits erwähnten Gespräch in Sozialismus den durch die Zustimmung der Mehrheit der DDR-Bürger vollzogenen Sieg des kapitalistischen Systems: »Nach dem 18. März konnte von Gestaltung des Übergangs keine Rede mehr sein. Die Politik der schnellen Wirtschafts- und Währungsunion schuf ein Vakuum, führte dazu, dass die ökonomischen Kreisläufe zunehmend ins Stocken kamen und dem Staat die Finanzquellen entzogen wurden. Weder die Regierung de Maizière noch die vielen Rat- und Auftraggeber aus der BRD, die in den Wirtschafts- und Staatsapparat einzogen, haben konzeptionell etwas zuwege gebracht – das meine ich mit dem Stichwort Kapitulationspolitik. Selbst Maßnahmen der Regulierung und Steuerung des Marktes, wie sie in der Bundesrepublik oder in der EG – z.B. im Bereich der Landwirtschaft – üblich sind, sind gar nicht erst in Angriff genommen worden. Stattdessen wird konzeptionslos nurmehr spontan auf die jeweilige Marktsituation reagiert. […]

Kohl hat alle unsere Vorschläge und Forderungen kategorisch abgelehnt, so auch den Vorschlag vom Februar, die BRD möge Bemühungen der DDR um Stabilität mit der Sofortmaßnahme eines Solidarbeitrages unterstützen. Nicht aus sachlichen Gründen, darüber hätte man im Streitfall verhandeln können; und die Vorhaltung, wir hätten die Daten nicht auf den Tisch gelegt, ist schlicht falsch. Kohl handelte von vornherein aus ganz einseitigen politischen Motiven. Ihm ging es nur darum, die Wahlen im März zu gewinnen. Deshalb das große Versprechen, bei entsprechendem Wahlausgang würde alles besser werden.

Auf dieses Versprechen setzte die Mehrheit der Bürger der DDR ihre Hoffnungen, auch de Maizière; auch er hatte die Illusion, dass dann die großen Hilfsprogramme bewilligt werden würden. Doch das ist nicht passiert. Den Ausgang der Volkskammerwahlen wertete Kohl als seinen persönlichen Triumph, und das bestärkte ihn in seiner herablassenden Haltung auch gegenüber den neuen demokratischen Kräften, den Vertretern der Bürgerbewegungen, die er überhaupt nicht mochte.

Ich denke aber, dass auch Kohl und Haussmann [Helmut Haussmann war FDP-Politiker und Minister für Wirtschaft im Kabinett Kohl] große Illusionen hatten, dass sie ein sehr vereinfachtes Bild vom Vereinigungsprozess hatten. Sie meinten nämlich, auf politische Gestaltung weitgehend verzichten zu können, da das Kapital schnell und umfassend in der DDR investieren und der Mittelstand rasch expandieren würde. Die Probleme wurden von ihnen völlig falsch eingeschätzt.«

In seinen letzten Jahren ärgerte ihn zunehmend das von »der westdeutschen Erinnerungsindustrie« verbreitete Geschichtsbild, das die »DDR nicht nur als Irrweg, sondern als einen verbrecherischen Betriebsunfall karikiert«, wie die Berliner Zeitung ihn in ihrem Nachruf zitiert. Der allenthalben beklagte Glaubwürdigkeitsverlust der Medien wurzele auch darin, dass »die erlebte Gegenwart und das Bild von der Vergangenheit«, das Menschen vor allem im Osten in sich trügen, abweiche von dem, was ihnen vermittelt werde. »Sie merken, dass ihnen etwas eingeredet werden soll, was offenkundig der Wirklichkeit widerspricht.«

Wenn anlässlich des Todes von Hans Modrow in Würdigungen hervorgehoben wird, der gesamte friedliche Verlauf der Herstellung der Deutschen Einheit sei sein besonderes Verdienst und sein alleiniges politisches Vermächtnis, dann ist dies – um es zurückhaltend auszudrücken – eine grobe Verkürzung. Das Ziel seiner Politik umriss er in dem Gespräch mit uns im Jahr 1990 deutlich dezidierter: »Mir ging es um einen geordneten Übergang zu einem neuen Deutschland, das weder nur DDR noch nur BRD ist, sondern etwas qualitativ Neues, Besseres. Und mir ging es darum, Vertrauen bei unseren Nachbarn zu schaffen, ihre berechtigten Ängste zu entkräften, auch dadurch, dass wir entschlossen den überall aufkeimenden Nationalismus zurückdrängen.«

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