1. April 2019 Hinrich Kuhls: Die Verfassungskrise im UK und die EU

Letzter Ausweg: »Weicher« Brexit

Mehr als eine Mio. Menschen demonstrierten am 23. März in London unter dem Motto »Lasst das Volk entscheiden« gegen das bisherige Brexit-Verfahren. Zugleich forderten sechs Mio. Menschen in einer Online-Petition, dass die Tory-Regierung bei der EU den Austrittsantrag zurückzieht.

Es war nicht das erste Mal, dass die Massen gegen den Brexit oder die Austeritätspolitik der konservativen Minderheitsregierung auf die Straße gingen. Schon im Oktober 2018 hatte »Peoples’ Vote« 700.000 Brexit-Gegner*innen mobilisiert. Im Juli 2017 hatten mehrere Hunderttausende für die Beendigung der harten Sparpolitik demonstriert.

Am 29. März, dem lange als fix geltenden Austrittsdatum des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (UK) aus der Europäischen Union, erlebte das britische Unterhaus die Debatte darüber, ob das Land den europäischen Staatenbund in Kürze ohne Vertrag verlässt oder ob es Ende Mai an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnimmt. Zugleich war es ein Ringen darüber, wer für das vorläufige Scheitern der Ratifizierung des von der britischen Regierung und der EU-Verhandlungskommission verhandelten Austrittsabkommens die Verantwortung zu tragen hat.

Die erneute, dritte Abstimmungsniederlage der Premierministerin May an diesem Tag war eine weitere Zuspitzung des Streits der politischen Eliten über den Weg, wie die mit dem Brexit hervorgerufene Paralyse des politischen Systems überwunden werden kann. Der Versuch, aus den über Jahrzehnte hinweg entwickelten Strukturen ökonomischer und politischer Kooperation auszubrechen und den Transfer nationaler Souveränitätsrechte an einen supranationalen Staatenverbund umzukehren, hat nicht nur das UK in eine tiefe Verfassungskrise gestürzt, sondern diskreditiert zunehmend die Institutionen der EU.


Nordirland und der Brexit-Vertrag

Sowohl in den Massenmedien als auch in den Medien, die ihre Berichterstattung mit Hintergrundanalyse ergänzten, sind in den letzten Monaten die Konflikte zwischen Exekutive und Legislative in Britannien herausgehoben worden, zumeist verbunden mit einem hämischen Unterton auf überlieferte Verfahrensregeln. Es wird ausführlich über das politische Theater berichtet, das von einer in sich zerstrittenen Minderheitsregierung und der Pattsituation im Unterhaus befeuert wird. Aber über den Grund der politischen Blockade und der daraus resultierenden Heftigkeit der politischen Auseinandersetzung wird, wenn überhaupt, nur am Rande berichtet.

Denn mit dem bisher ausgehandelten Austrittsabkommen, bestehend aus Austrittsvertrag, Absichtserklärung zu den künftigen EU-UK-Beziehungen und ergänzenden Klarstellungen, können die gegenseitigen – von der EU als Garantiemacht des Belfaster Karfreitagsabkommens 1998 mitgetragenen – Verpflichtungen des UK und der Republik Irland zur Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Nordirland nicht garantiert werden. Erst recht wird der Belfaster Vertrag verletzt, wenn eine »No-Deal-Situation« nicht aktiv verhindert wird, sei es von einer der Vertragsparteien oder den EU-Institutionen.

Dennoch haben sowohl die EU-Kommission als auch die britische Regierung einen Bruch dieses völkerrechtlich verbindlichen Vertrags Vorschub geleistet, indem sie umfassend Richtlinien für eine solche Situation veröffentlichten, die Wirtschaftsunternehmen und Zollverwaltungen zu entsprechenden Vorsorgemaßnahmen aufgefordert und die Konstellation einer vertragslosen Trennung als propagandistische Drohgebärde aufgebauscht haben. Die britische Premierministerin hatte während der Verhandlungen wider besseren Wissens immer wieder behauptet, kein Vertrag sei besser als ein schlechter. Diesem Diktum unterlag immer eine Irreführung über die Bindungswirkung des Belfaster Vertrags.

Zudem musste sie am 25. März eingestehen: Solange in Nordirland die seit über zwei Jahren anhaltende Blockade der Regierungsbildung nicht beigelegt ist, ist ein vertragsloser Austritt nicht möglich. »Die Verwaltungsbeamten Nordirlands verfügen nicht über die Befugnisse, um die Entscheidungen zu treffen, die erforderlich wären, wenn das UK die EU ohne Vertrag verlässt.« Die Auswirkungen eines No-Deal-Austritts auf Nordirland seien gravierend, vor allem solange dort das politische System außer Kraft gesetzt ist. »Es ist absolut richtig, dass die britische Regierung die Auffassung vertreten hat, dass ein No-Deal-Austritt nicht zugelassen werden kann, solange keine Exekutive vorhanden ist, die die erforderlichen Maßnahmen gewährleisten kann im Falle einer No-Deal-Situation.« (Hansard, vol. 657, cn. 31)

Entgegen allen bisherigen Beteuerungen in den EU-Institutionen und seitens der EU27-Regierungen ist das Austrittsabkommen in der vorliegenden Fassung mit der Garantie des Friedensprozesses in Nordirland nicht kompatibel. Solange ein Scheitern der noch ausstehenden Verhandlungen über die künftigen EU-UK-Beziehungen nicht ausgeräumt ist, bleibt die Aufrechterhaltung der institutionellen Verpflichtungen aus dem Karfreitagsabkommen unsicher.


Die Blockaden im UK

Die Lösung der Nordirlandfrage hängt aber von der künftigen Positionierung Großbritanniens in Europa und weltweit ab, außenhandels- und sicherheitspolitisch. In dieser Frage blockieren sich vier politische Lager.

Erstens: Die Brexiteers, also die englischen und nordirisch-unionistischen Nationalisten und die Rechtspopulisten innerhalb und außerhalb der Konservativen Partei, drängen darauf, die Verfassungs- und die Grenzsituation von 1973 zum Zeitpunkt des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft zu restaurieren. Sie behaupten, sowohl bei einer No-Deal-Konstellation mit Außenwirtschaftsbeziehungen gemäß den WTO-Regeln als auch bei einer Freihandelslösung mit der EU27 könne das Konsensprinzip in Nordirland und die irisch-nordirische Wirtschaftsintegration unverletzt fortgesetzt werden. Jegliche Kontrollmaßnahmen zwischen Großbritannien und Nordirland müssten kategorisch ausgeschlossen sein. Die Verantwortung für eine harte Grenze auf der irischen Insel müsse allein die EU übernehmen.

Zweitens: Die britische Regierung und die Mehrheit der konservativen Parlamentsfraktion, nicht aber die Mehrheit der Konservativen Partei, gehen davon aus, dass im Laufe der Verhandlungen über die künftigen EU-UK-Beziehungen eine Lösung für die Beibehaltung des freien Grenzverkehrs auf der irischen Insel gefunden werden kann. Solange das nicht der Fall ist, verbleibt das UK temporär, aber zeitlich unbestimmt in der EU-Zollunion und Nordirland zudem im Binnenmarkt. Der Dissens zwischen der britischen Regierung und dem Europäischen Rat über die Möglichkeit einer zeitlich oder anderweitig konditionierten Begrenzung ist nach wie vor nicht ausgeräumt. Die Auffassung der EU, so wie sie im Nordirland-Protokoll des Austrittsvertrags kodifiziert ist, wird im Falle der Ratifizierung völkerrechtlich verbindlich. Wie auch immer eine politische Machtkonstellation im UK nach Neuwahlen aussehen wird: Solange die Verhandlungen über die Neupositionierung nicht abgeschlossen sind, bleibt das UK Mitglied der Zollunion ohne jegliche Einflussnahme auf deren Weiterentwicklung.

Drittens: Die Regionalparteien in Schottland und Wales, Plaid Cymru und SNP, sowie die Liberaldemokraten, die Grüne Partei, ein sehr kleiner Teil der Konservativen und Teile der Labour Party stellen die Legitimation des EU-Referendums entweder gänzlich in Frage oder weisen darauf hin, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in den letzten drei Jahren verändert hätten. Sie fordern die Rücknahme des Austrittsgesuchs oder ein zweites Referendum, und verbinden damit die Hoffnung, dass der Austrittsvertrag, was auch immer in ihm geregelt werde, abgelehnt wird. Damit wäre dann auch die Lösung der neuen Probleme in Nordirland obsolet geworden.

Viertens: Die Mehrheit der Labour Party und ihre Partei- und Fraktionsführung setzen darauf, vor der Ratifizierung des Austrittsvertrags rechtsverbindlich zu regeln, dass die Verhandlungen über die künftigen EU-UK-Beziehungen allein mit dem Ziel aufgenommen werden, eine Vereinbarung über eine dauerhafte EU-UK-Zollunion und einer engen Bindung an den Binnenmarkt abzuschließen. Mit dieser Lösung eines »weichen« Brexits können die Verpflichtungen aus dem Belfaster Abkommen vollständig gewährleistet werden. Für den Fall, dass die konservative Regierung auf die unveränderte Durchsetzung des jetzigen Vertrags pocht und doch noch eine Mehrheit dafür finden sollte, will Labour ebenfalls ein zweites Referendum einfordern.

Die jeweiligen Positionierungen in der Post-Brexit-Politik sind nicht kongruent mit den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen dieser politischen Gruppen. Die Verfechter der Fortsetzung einer harten Austeritätspolitik dominieren bei den Brexiteers und der Mehrheit der Konservativen. Anhänger*innen einer abgeschwächten Austeritätspolitik finden sich vor allem bei denjenigen, die für ein zweites Referendum eintreten. Die Ablösung der Austeritätspolitik durch eine alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik wird nicht nur von der Labour Party in dem Mittelpunkt gestellt, sondern hat auch verbreitet Anhänger*innen bei den Regionalparteien. Bei der letzten Massendemonstration für ein zweites Referendum dominierten unter den Sprecher*innen jene, die in ihren bisherigen politischen Karrieren den Neoliberalismus strong oder light umgesetzt haben, während bei den Demonstrant*innen die Parolen für ein zweites Referendum, eine Erneuerung der EU und für die Beendigung der Austeritätspolitik gleichgewichtig verteilt waren.

So ist ein Knäuel widersprüchlicher Konstellationen ist entstanden: Europäischer Rat und EU-Institutionen gegen Regierung und Parlament des UK; britische Regierung gegen britisches Parlament; Unterhaus gegen Oberhaus; ein in sich zerstrittenes Kabinett; eine Minderheitsregierung, die mitsamt den sie tragenden Fraktionen dem beamteten Regierungsapparat mit tiefem Misstrauen und teils mit Verachtung begegnet; die anhaltende Konfrontation von Parlamenten und Regierungen der teilautonomen Landesteile Schottland und Wales einerseits und Regierung und Parlament in London andererseits; die seit Anfang 2017 anhaltende Blockade von Parlamentstätigkeit und Regierungsbildung in Nordirland – verursacht durch die unionistisch-nationalistische nordirische Regionalpartei DUP, ohne deren Unterstützung die Konservative Partei im Sommer 2017 keine Regierung hätte bilden und die Austrittsverhandlungen nicht hätte führen können.


Vom harten zum weichen Brexit

Sowohl mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch mit ihrer Brexit-Version ist die britische Premierministerin gescheitert. Bei ihrem Regierungsantritt im Juli 2016 hatte sie für einen »Mitfühlenden Kapitalismus« geworben. Ihre Versuche, die Austeritätspolitik abzuschwächen, wurden vom Schatzkanzler Hammond vom neoliberalen Flügel der Konservativen nicht umgesetzt. Ihre Version des harten Brexits mit Austritt aus Binnenmarkt und EU-Zollunion ist am rechtspopulistisch-nationalistischen Flügel der Tories gescheitert.

Dennoch hatte May in der Europapolitik immer an ihrer Maxime des harten Brexits festgehalten. Ihre Begründung: Das Parlament habe mehrheitlich entschieden, in der Frage der Zugehörigkeit zur EU das Volk entscheiden zu lassen. Die beiden großen Parteien hätten die von ihr provozierte vorzeitige Parlamentswahl 2017 auf der Basis der Umsetzung des Brexit-Votums der Volksabstimmung bestritten. Dass bei dieser Verknüpfung der direkten und repräsentativen Demokratie das Verfahren und die Ausgestaltung des Austritts sehr wohl der Mitwirkung und Beschlussfassung seitens des Parlaments unterliegen, ist von May im Verein mit dem rechtspopulistischen Flügel ihrer Partei immer verneint worden. Von der Beteiligung beim Austrittsgesuch bis zu den »indikativen Voten« zur Verlängerung des Austrittsverfahrens mussten alle Initiativen zur Vermeidung eines ungeregelten Chaos-Brexits von den Oppositionsparteien mit Unterstützung der kleinen pro-europäischen Minderheit der Tory-Fraktion gegen die jeweilige Regierungsoption durchgesetzt werden.

Mit der dritten Ablehnung des Austrittsvertrags sind jetzt mehrere Weichen gestellt worden. Eine »kurze, technische Verlängerung« des Austrittsverfahrens ist zwar immer noch möglich, setzt aber voraus, dass Konservative Partei und DUP wider Erwarten geschlossen agieren. Mit der Rücktrittsankündigung der Premierministerin wird spätestens bei der Neuwahl des oder der neuen Parteivorsitzenden die weitere Rechtsverschiebung innerhalb der Konservativen Partei personell sichtbar. Die Hürden für eine Neuwahl des britischen Parlaments bleiben hoch.

Mit welcher Begründung der Antrag für eine Verlängerung des Austrittsverfahrens über die jetzige Legislaturperiode des Europarlaments hinaus unterlegt wird, hängt davon ab, ob noch kurzfristig innerhalb der Oppositionsparteien eine Verständigung erreicht wird, die mit Hilfe einiger pro-europäischer konservativer Abgeordneter eine Mehrheit erzielen kann. Der naheliegende Kompromiss ist eine Verknüpfung des Verhandlungsziels Zollunion mit der Durchführung eines zweiten Referendums.

Entscheidend wird die Sondersitzung des Europäischen Rats am 10. April. Als rationaler Ausweg bleibt nur der einstimmige Beschluss, das Austrittsverfahren bis Ende 2019 oder 2020 zu verlängern mit der Konsequenz, dass das UK an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnimmt und 75 Abgeordnete aus Großbritannien und Nordirland gewählt werden. Die Ablehnung eines entsprechenden Antrags und die Weigerung, einen No-Deal-Brexit zu verhindern, würde die Selbstzerstörung der EU einleiten.

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