5. Juli 2018 Joachim Bischoff/Björn Radke

»Linke« Sammlungsbewegung?

Seit Monaten befeuern Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine die Idee einer »linken Sammlungsbewegung«, deren Notwendigkeit Lafontaine aus der offensichtlich nicht realisierbaren politischen Machtoption links der Mitte herleitet.

»Ich verstehe die Sammlungsbewegung als Appell an die linken Parteien, ihre eigene Situation zu reflektieren. SPD, Grüne und Linke werden mit ihrer jetzigen Aufstellung auf absehbare Zeit keine politische Mehrheit haben, weil der progressive Neoliberalismus zu sehr die Agenda bestimmt. Mein Anliegen ist, dass die traditionellen Gerechtigkeitsthemen wieder von diesen Parteien aufgegriffen und vertreten werden. Die Resonanz ist schon jetzt groß. Wir bekommen viele Anfragen, wie man mitwirken und sich beteiligen kann. Dass wir derzeit keine große Bewegung auf der Straße haben, wie die Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010, weiß ich auch. Aber das entbindet nicht davon, nach Wegen zu suchen, um politisch etwas zu verändern.«[1]

Gegen diese Absicht gibt es angesichts des europaweiten und nationalen Rechtstrends keine überzeugenden Gegenargumente. Wagenknecht, Lafontaine u.a. wollen mit einer neuen »Bewegung« Schwung in das linke politische Spektrum in Deutschland bringen. Bei genauerem Nachfragen wird aber deutlich, dass es mit diesem Projekt, so wie es angelegt ist, noch nicht weit her ist.

Mitte Juni erklärte Sahra Wagenknecht, das Projekt solle im September starten, sie konnten bereits Unterstützer gewinnen. »Unter anderem den profilierten Agenda-2010-Kritiker Rudolf Dressler. Mehr will ich noch nicht verraten. Wir starten im September. Spannend sind übrigens nicht nur die Politikernamen. Unterstützer sind Schriftsteller, Künstler, Wissenschafter und Leute aus der Unterhaltungsbranche. Also viele verschiedene interessante Köpfe, mit denen wir Menschen erreichen wollen, die sich teilweise schon vor Jahren von der Politik abgewandt haben. Das ist der Sinn: Wir wollen eine starke Bewegung aufbauen.«

Ebenso ist klar, dass es sich nicht um eine Bewegung handelt, sondern gestartet wird mit einer »digitalen Plattform«, »auf der sich jeder als Unterstützer eintragen kann. Unsere Positionen werden wir dann auf allen Ebenen präsentieren, mit witzigen Clips, mit Angeboten auf Facebook und Instagram. Es wird Online-Diskussionen geben, bei denen sich die Leute einbringen können.« Sie möchte erreichen, dass danach mit Veranstaltungen, Konferenzen und Straßenaktionen »die Menschen spüren: Da entsteht etwas Neues und Großes.« Das klingt weniger nach Bewegung, sondern nach Strukturen, die von Parteien getragen und organisiert werden.

Es ist sicher unverzichtbar, dass in einer breiten Diskussion die Ziele, nächsten Schritte und die organisatorischen Möglichkeiten einer parteiübergreifenden Bewegung geprüft und abgesteckt werden müssen. Die Schattenseite dieses beabsichtigten Aufbruchs ist, dass die bestehenden organisatorischen Plattformen und parteipolitischen Konstellationen einer grundsätzlichen Kritik unterzogen werden. Statt Aufbruch, der sich bestenfalls in der weiteren Zukunft abzeichnet, wird das aktuelle Agieren der Linkpartei sowie ihre politisch strategische Option einer Kritik ausgesetzt. Daher zielt die Kritik aus deren Reihen auf die neuralgischen Punkte: Was ist an der programmatischen Ausrichtung und politischen Arbeit unzureichend oder gar falsch?

Die Protagonisten einer neuen linken, parteiübergreifenden Bewegung machen ihre Distanz zu den überlieferten Ansätzen deutlich und bleiben doch zugleich im Vagen und Ungefähren: »Dass die Rechten in vielen Ländern Europas wieder stark sind, ist auch ein Versagen linker Politik. Dabei geht es anders. Podemos in Spanien erreicht Ärmere ebenso wie Studenten, bis jetzt gibt es dort keine nennenswerte Rechte. Mélenchon hat den Front national in Frankreich in die Defensive gebracht. Und Corbyn hat Ukip pulverisiert. Dort, wo sich die Linke auf die soziale Frage konzentriert und die untere Hälfte der Bevölkerung erreicht, kann sie die Rechten an den Rand drängen. Die AfD hätte nie die Chance gehabt, in den Bundestag einzuziehen, wenn SPD und Linke nicht den Zugang zu den Ärmeren verloren hätten.«[2]

Der Hinweis auf eine unzureichende Konzentration auf die soziale Frage hilft nicht weiter. Es kann ja nicht darum gehen, Strategien aus anderen Ländern zu übertragen. Der Diskussionsprozess wäre weiter, wenn dieser Ansatz für die Berliner Republik konkretisiert würde.

Diese Abwendung, wenn nicht gar Verachtung über die politische Praxis der linken Parteien ist von den Vordenkern für einen neuen Aufbruch nicht zu bestreiten und wird auch teilweise angesprochen: Wagenknecht teilt die Sicht von befragten Bürger*innen, von denen die wenigsten glaubten, »dass die Macht bei den Politikern liegt oder gar bei den Wählern. Nahezu alle gingen davon aus, dass die Wirtschaft, insbesondere die großen Unternehmen, unser Land regieren.«

Sie schreibt weiter: »Auch die Aggressivität, mit der progressive liberale Werte heute wieder in Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden, dürfte ihren wichtigsten Grund darin haben, dass die Betroffenen diese Werte schlicht als Teil eines politischen Pakets empfinden, dessen wirtschaftsliberale Komponente ihren Lebensstandard bedroht. Für sie sind Minderheitenrechte und Antidiskriminierungspolitik heuchlerische Facetten eines politischen Programms, das sich als edel, hilfreich, solidarisch und gut inszeniert, obschon seine Protagonisten ihrem Wunsch nach einem Leben in bescheidenem, halbwegs gesichertem Wohlstand seit jeher mit völliger Gleichgültigkeit, ja Verachtung begegnen.«[3]

Diese Beschreibung der Befindlichkeit jener Bürger*innen, die sich aus Frust von der SPD und der LINKEN abgewandt haben und der AfD ihre Stimme geben, mag ja zutreffen, aber solche Sichtweisen sich zu eigen machen, ist eine Öffnung in Richtung Ressentiment und Politik-Verachtung.

Es ist kein verbaler Ausrutscher, wenn Sahra Wagenknecht die »Liaison von Linksliberalismus und Goldman-Sachs-Kapitalismus« für so »gefährlich« hält. »Sie untergräbt nicht nur die Demokratie, sondern auch die Zustimmung zu liberalen Grundwerten.« Das ist weniger eine orientierende Einordnung, als eine eigenwillige und gefährlich vereinfachende Interpretation der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Das Ausblenden der durchaus vorhandenen unterschiedlichen Positionen und Interessen zwischen dem »Linksliberalismus« und dem »Goldman-Sachs-Kapitalismus« entspricht derselben Logik, wonach »SPD,CDU/CSU/FDP/AfD« unterschiedslos die Parteien des Neoliberalismus seien und die LINKE die einzige Opposition gegen den Neoliberalismus. Mit dieser Sicht haben nicht nur Lafontaine/Wagenknecht, sondern auch weite Teile der Linkspartei einen strategischen Umgang für eine Bündnisoption mit Teilen der Sozialdemokratie und den Grünen blockiert.[4]

Diese Position wird ohne jegliche selbstkritische Einlassung von Oskar Lafontaine mit dem Ausrufen einer Sammlungsbewegung abgeräumt. So erklärt er aktuell, dass es ohne die SPD nicht gehe. Er plädierte für eine neue Zusammenarbeit von LINKEN und SPD: »Eine Veränderung der Politik zu mehr sozialer Gerechtigkeit ist, so wie die Dinge liegen, ohne die SPD nicht möglich. Nur mit ihr können wir eine parlamentarische Mehrheit bilden, die unsere Vorhaben umsetzt. Und dafür müssen Linke und SPD zusammenarbeiten.« Es sei deshalb wünschenswert, wenn führende Politiker*innen der SPD oder der Grünen diese Sammlungsbewegung unterstützen, aber leider seien sie zu sehr auf ihre eigenen Parteien fixiert, das gelte auch für die LINKE.[5] Wie der Widerspruch zwischen »Liaison von Linksliberalismus und Goldman-Sachs-Kapitalismus« und der Öffnung für ein Spektrum links der Mitte aufgelöst werden soll, bleibt offen.

So bleiben die Aussagen darüber, welche Vorschläge auf dieser Plattform zur »progressiven Veränderung« der Gesellschaft präsentiert werden sollen, derzeit noch sehr dünn. »Wiedergewinnung der Demokratie, für Fairness im Umgang untereinander, für eine leistungsgerechte Verteilung und für eine Politik der guten Nachbarschaft im Verhältnis zu anderen Ländern« sind eher allgemeine politische Formeln, die auch nicht von der Sozialdemokratie, den Grünen oder der Linkspartei bestritten werden könnten.

Es hat sich reichlich Unbehagen über das Projekt neue Linksbewegung angesammelt. Es gibt von den Initiatoren keine nachvollziehbare Zielbestimmung, keine Kritik an der gegenwärtigen gesellschaftlich-politischen Konstellation der bundesdeutschen Gesellschaft, geschwiege denn eine Einordnung in die augenblickliche geopolitische Umbruchsituation. Denn während der ersten 100 Tage der erst sechs Monate nach der Bundestagswahl zustande gekommenen Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD haben sich außen- wie innenpolitisch die Konfliktpotenziale weiter verstärkt.

Die EU-Kommission sieht sich durch die US-Attacken gegen die regelbasierte Welthandelsordnung herausgefordert und will das multilaterale Handelssystem stärken, was einschließt, gegen jene Länder vorzugehen, die die Regeln aufkündigen oder brechen. Auch der Handelskonflikt USA gegen China hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. In diese Dynamik auf dem Weltmarkt ordnet sich auch der Flüchtlingsstreit innerhalb der christlichen Union ein. In kurzer Zeit hat sich dieser über das Grenzregime in Sachen Flüchtlinge zu einer Regierungskrise zugespitzt. Der Streit über die Migrationspolitik entwickelte sich zur »größten Bombe im Uhrwerk Europas«.

Der in der christlichen »Schwesterparteien« ausgebrochene Grundsatzstreit drohte die Bundesregierung zu sprengen. Mit dem Niedergang der Sozialdemokratie und einem möglichen Auseinanderbrechen der Fraktion der CDU/CSU wäre auch die Berliner Republik an dem Punkt der Regierungsunfähigkeit angelangt – mit weitreichenden Folgen für Deutschland und Europa. An der Migrationsfrage, die Europa spaltet und in den europäischen Nachbarländern das Parteiensystem und die politische Architektur umgekrempelt hat, droht auch das politische Zentrum der Mitte – die Union – zu zerbrechen, die jahrzehntelang ein Stabilitätsfaktor in der deutschen und europäischen Politik war.

Der entscheidende Punkt ist die Migrationspolitik. Dahinter steht für die konservative Mitte das strategische Problem: Kann der rechtspopulistischen AfD das wichtigste politische Feld enteignet, eine Niederlage der CSU bei den bayrischen Landtagswahlen verhindert werden – sei es auch um die Kollateralschäden einer Beschädigung des Grundgesetzes und dem Ende der »Berliner Republik«.

Die SPD steht in dieser Auseinandersetzung tendenziell abseits und von einer »Erneuerung« der Sozialdemokratie sind keine Ansätze erkennbar. Hoffnungen auf ein Abrücken vom »Weiter so« der alten GroKo sind geschwunden. Nach 100 Tagen großer Koalition sind mehr als zwei Drittel der Deutschen unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung. Und der Konflikt zwischen CDU und CSU verstärkt diesen Trend.

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur bewerteten nur 21% von 2.053 Befragten das Bündnis aus Union und SPD positiv. Dagegen sind 36% unzufrieden und 33% sogar sehr unzufrieden mit der Regierungsarbeit. Selbst von den Wähler*innen der Regierungsparteien bewertet eine Mehrheit die große Koalition negativ.

Diese Gemengelage ist eine Steilvorlage für die AfD, die derzeit in den Umfragen stabil zwischen 14 und 16% liegt – mit steigender Tendenz. Deren Chef Alexander Gauland fordert, nicht nur Kanzlerin Merkel, sondern ein »ganzes System, ein ganzer Apparat« müsse weg. Er fühle sich derzeit an die »letzten Tage der DDR« erinnert. Gauland sprach von der deutschen Regierung als »Regime«, vom »Brüsseler Kreml«, und verglich die Kanzlerin mit Erich Honecker.

Während die AfD als moderne Rechte eine Verknüpfung der soziale Gerechtigkeit mit dem Thema Identität auf die Tagesordnung setzt und damit zur stärksten Volkspartei aufrücken will, dominiert in der Linkspartei innere Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit.[6] Die Propagierung der linken Sammlungsbewegung ohne Ziele, Inhalte und ausgewiesener Absetzung von den Schwächen der linken Parteien ist ein Teil dieser Orientierungslosigkeit.

Es geht nicht um umfassende politische Einschätzungen, sondern darum, wie auf die bundesdeutsche und europäische Konstellation reagiert werden soll. Solange nicht Vorstellungen darüber auf dem Tisch liegen, wie parteiübergreifend mit nachvollziehbaren Schritten Druck auf die Parteien links der Mitte aufbaut werden kann für einen Versuch, mit einem Politikwechsel und deutlichen Kurskorrekturen bei sozialer Sicherheit sowie Eingriffen in die Verteilungsstrukturen eine Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse zu bewirken, läuft das Projekt der Sammlungsbewegung – sofern es nicht an sich selbst scheitert – auf eine Schwächung, ja weitere Spaltung der linken Kräfte in Deutschland hinaus.

Ohne diesen Druck wird aber weder DIE LINKE zu einem gewichtigeren Faktor werden, noch die Sozialdemokratie einen auch nur halbwegs erfolgreichen Erneuerungsprozess erreichen können, der sie auch nur annähernd zu ihrer früherer Stärke zurückführt. Und vor allem wird ohne eine solche Reformoffensive der Rechtspopulismus nicht eingehegt werden können. Denn nur, wenn die Verschiebungen in den Verteilungsverhältnissen als Grund für Enttäuschungen und Wut anerkannt werden, kann darauf – in Auseinandersetzung mit den »abgehängten« Teilen der Bevölkerung – ein weiterreichendes Programm gesellschaftlicher Veränderung auf den Weg gebracht werden. Es gibt mit Sicherheit kein Patenrezept für die Veränderung der Anteile an der Wohlstandsentwicklung, aber die Kernfrage ist, ob glaubwürdig Reformen angestrebt und durchgesetzt werden.

[1] »Täter stellen sich als Opfer dar«, Interview in der taz vom 31.5.2018. Vgl. NZZ.
[2] Sahra Wagenknecht, Neue linke Bewegung: »Wir wollen Mitglieder der SPD und der Grünen genauso ansprechen wie Parteilose«, Interview in der NZZ vom 15.6.2018.
[3] Sahra Wagenknecht, Warum wir eine neue Sammlungsbewegung brauchen, Gastbeitrag in der WELT vom 24.6.2018.
[4] So hat das RRG-Regierungsbündnis in Thüringen nicht wirklich die politische Begleitung und Unterstützung durch die Bundespartei erhalten.
[5] Vgl. Armin Lehmann, »Sehnsucht nach Schutz durch den Staat ist nicht rechts«, in Tagesspiegel vom 3.6.2018.
[6] Das ist auch wieder beispielhaft deutlich geworden beim zugespitzten Konflikt innerhalb der Unionsparteien über die Asylpolitik, wo außer vereinzelten Stimmen moralischer Empörung eine klare Positionierung der Linkspartei wie auch der Fans der Sammlungsbewegung nicht zu erkennen war.

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