6. September 2021 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Das LINKE Sofortprogramm für einen Politikwechsel

Linke Sondierungsideen für Rot-Grün-Rot

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Die Linkspartei hatte in den letzten Monaten gegenüber den Ergebnissen der Bundestagswahl 2017 deutlich an politischer Akzeptanz in der Wahlbevölkerung verloren. In Umfragen wurde sie Anfang September bei 6 bis 7% gehandelt.

Anstatt konkrete und umsetzbare Überlegungen zu den Herausforderungen der Zukunft der Republik in die Wahlauseinandersetzungen einzubringen, hatte die Partei sich eher durch Grundsatzbekenntnisse teilweise selbst aus dem politischen Feld genommen. Nun wurde sie dorthin zurückgeschoben und hat immerhin rasch darauf reagiert.

Denn angesichts des Aufwärtstrends der Sozialdemokratie und ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sowie den gegenüber den letzten Bundestagswahlen deutlich erhöhten Umfragewerten der Grünen zeichnet sich drei Wochen vor der Wahlentscheidung eine Koalitionsmöglichkeit für ein progressives Reformbündnis ab, bei dem DIE LINKE den Ausschlag für eine Mehrheitsbildung geben könnte.

Mit einem »Sofortprogramm« hat die Parteiführung diese politische Zuspitzung aufgegriffen und ist bereit, »Regierungsverantwortung zu übernehmen« – so Dietmar Bartsch bei der Vorstellung des Programms. Ein Mitte-Links-Bündnis sei das Beste für Deutschland und Europa. In dieser Konstellation könnten SPD und Grüne wesentlich mehr von ihren programmatischen Vorstellungen durchsetzen als mit der FDP.

Man könne nicht noch einmal vier Jahre so weitermachen, ergänzt die Co-Chefin der Partei, Janine Wissler, die zusammen mit Bartsch als Spitzenkandidatin auftritt. »SPD, Grüne und Linke sollten gemeinsam nach der Wahl, wenn es eine Mehrheit gibt, sehr ernsthaft sondieren, ob man sie nutzen kann.«

In dem »Sofortprogramm«, das neben den beiden Spitzenkandidaten die zweite Parteivorsitzende, Susanne Hennig-Wellsow, und die Co-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Amira Mohamed Ali, vorgelegt haben, wird zu Recht herausgestellt: »Am 26. September bestimmen die Bürgerinnen und Bürger über die Zukunft dieses Landes. Es geht um eine Richtungsentscheidung. Ein sozialer und klimagerechter Aufbruch im Interesse der Mehrheit ist erreichbar.«

Zwar können sich die Spitzenrepräsentanten auch diesmal von Pathos nicht ganz frei machen – »DIE LINKE steht für Klarheit und Verlässlichkeit, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht« –, aber die konkreten Vorschläge und die jeweils benannten ersten Schritte zu Guter Arbeit und fairen Löhnen, zur Stärkung der Tarifbindung, zur Kindergrundsicherung, zu höheren Renten, weniger Steuern für geringe und mittlere Einkommen, zu Vermögensabgabe und Vermögenssteuer, Mietenstopp und Klimaschutz stellen ein wichtiges Diskussionsangebot dar.

Diese Festlegung auf eine Mitte-Links-Koalition könnte der anstehenden Ermittlung des politischen Kräfteverhältnisses in den letzten Wochen neuen Schwung verleihen. Es sei denn, die anvisierten Partner SPD und Grüne bezweifeln weiter, dass die Partei für »Klarheit und Verlässlichkeit« stehe. Zumindest bei den Positionen der Außen- und Sicherheitspolitik, zu denen im Sofortprogramm sicherlich richtige »Prinzipien« wie progressiver Multilateralismus, Bindung ans Völker- sowie Menschen- und Bürgerrechte benannt sind, gibt es reichlich Zweifel. Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz hatte zuletzt ein Bündnis mit der Linken zwar nicht ausschließen wollen, es aber an Bedingungen geknüpft, etwa an die Festlegung der Ausrichtung Deutschlands auf die westliche Führungsmacht USA und das Militärbündnis NATO.

Das Angebot zu Sondierungen nach der Wahl ist für die Linkspartei sicherlich ein großer Schritt und es muss abgewartet werden, ob sich für die kritischen Bereiche dann tragfähige Kompromisse finden lassen, die auch innerparteilich mehrheitsfähig sind.

Zu Recht wird im Sofortprogramm auf Übereinstimmungen in den überfälligen Gesellschaftsreformen Bezug genommen: »Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will.«. Gefordert wird hierzu insbesondere eine deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 13 Euro, womit die Linke weiter geht als SPD und Grüne, die 12 Euro anstreben. DIE LINKE plädiert zudem für einen bundesweiten Mietendeckel. Davon würde etwa eine Million Menschen in Deutschland profitieren, sagte Janine Wissler. Sie plant zudem einen 20 Milliarden Euro schweren Transformationsfonds, um Industriejobs zu sichern.

Diese Betonung der Koalitions- und Regierungsbereitschaft für einen Politikwechsel kommt zwar spät und ist innerparteilich nicht unumstritten. Aber in der Tat unterstreicht die Parteiführung jetzt deutlich, dass es um eine Richtungswahl geht: »Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will… Viele Menschen sprechen sich für Mehrheiten ohne Union und FDP aus. Das Land kann sich neoliberale Anbeter des Marktes und Verächter des Sozialstaates einfach nicht länger leisten.«

Die Linkspartei will mit daran wirken, vor allem ein neues soziales Fundament für die Gesellschaft zu schaffen. Das längst Überfällige an sozialen Veränderungen soll endlich verwirklicht wird. »Wir werben für entschiedene Schritte, die das Leben der Mehrheit verbessern und zugleich Weichenstellungen für eine andere Gesellschaft sind. Schritte in eine Zukunft, die wir gemeinsam mit anderen gehen wollen und können.«

Allerdings wird vor diesen Schritten gleich zu einem kräftigen Sprung in die Steuerpolitik, in die Anhebung der Mindestlöhne, Altersrenten und Sozialtransfers angesetzt, ohne die wirtschaftliche Grundlage des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses genauer in den Blick zu nehmen. Auf dem Weg »zu einer klimaneutralen Wirtschaft und sicheren Arbeit für alle« kann man gewiss die Verteilungsschritte betonen, aber schlussendlich geht es um die Umgestaltung des kapitaldominierten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses.

DIE LINKE will einen Politikwechsel, der sich für die Mehrheit im Land auszahlt, weil die Menschen wieder Sicherheit und Verlässlichkeit brauchen. Aber die Mehrheit braucht dazu eben auch vernünftigere Bedingungen der Produktion. Auf diesem Terrain stellen sich die entscheidenden Fragen der Mehrheitsfähigkeit von Reformen. In der Tat gibt es in diesem Land viele Bürger:innen, die Ungleichheit und Armut ablehnen. Viele ärgern sich, dass die Löhne von Millionen Beschäftigten stagnieren, während Mieten und Preise weiter steigen. Viele wissen, dass gleiche Chancen für alle nur mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur möglich sind, die deshalb einen Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaschutz und Digitalisierung fordern.

Aber allein mit wichtigen Schritten in der Verteilung hat man den Modus der Erwirtschaftung des gesellschaftlichen Wohlstandes noch nicht verändert. Gerade, weil es zu den wichtigen Erfahrungen linker Politik gehören sollte, auch die Risiken bei den angestrebten Schritten anzusprechen, ist ein Blick auf die Realitäten und Mentalitäten sinnvoll und erforderlich. Denn wir haben es nicht vor allem mit »neoliberalen Anbetern des Marktes« zu tun (die es sicherlich auch gibt), sondern nach wie vor ist eine Mehrheit der Wahlbevölkerung durchaus in der »sozialen Marktwirtschaft« verankert und will mit den gewünschten Veränderungen die ihr zugeschriebenen Vorteile nicht gefährden.

Hier liegt die eigentliche Herausforderung, Menschen zu Veränderungsschritten mitzunehmen, ohne das bisher Erreichte preiszugeben. Der Rückhalt für die »soziale Marktwirtschaft« ist laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Juli dieses Jahres derzeit so groß wie nie zuvor in 25 Jahren: 56% der Bürger haben eine gute Meinung vom deutschen Wirtschaftssystem (die blaue Kurve in der nachfolgenden Abbildung), nur 15% (die orange Kurve) sehen das kritisch.

Aus Sicht der Mehrheit der Bevölkerung hat sich die soziale Marktwirtschaft in der Corona-Krise alles in allem bewährt: 51% bescheinigen ihr das, lediglich 20% sind ausdrücklich anderer Meinung. Die übrigen 29% sind in dieser Frage unentschieden

Das insgesamt positive Urteil über die soziale Marktwirtschaft in der Pandemie hängt vor allem damit zusammen, dass zwar einzelne Branchen wie das Hotelgewerbe und die Gastronomie, Großveranstalter oder Künstler von der Pandemie wirtschaftlich sehr stark getroffen waren, die Masse der Arbeitnehmer aber – auch dank entsprechender wirtschaftspolitischer Maßnahmen – wirtschaftlich bislang gut durch die Krise gekommen ist: Weder sind die Sorgen vor Arbeitslosigkeit unter Berufstätigen insgesamt gestiegen noch wird die eigene wirtschaftliche Lage schlechter eingeschätzt als vor der Krise oder sind die finanziellen Spielräume enger geworden.

Eine Mehrheit von inzwischen 44% ist gar der Auffassung, dass die »soziale Marktwirtschaft« zu mehr sozialer Gerechtigkeit (erneut die blaue Kurve) geführt hat als zu weniger (orangene Kurve).

Eine Mehrheit der Bevölkerung misst auch Nachhaltigkeit im Allgemeinen sowie ökologischer Nachhaltigkeit besondere Bedeutung zu, wenn es um die Anforderungen an ein Wirtschaftssystem geht: Dass man nicht auf Kosten zukünftiger Generationen lebt, ist für 60% der Bevölkerung eine besonders wichtige Erwartung an die Art, wie die Wirtschaft organisiert ist, für ebenfalls 60%, dass Umwelt und Klima geschützt und die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten werden.

Diese Mentalitäten zu bedenken, ist für einen dauerhaften Erfolg eines Politikwechsels eine wichtige Voraussetzung. Es wäre also in der Tat ein »historischer Linksrutsch«, wenn eine progressive Koalition nicht nur bei Verteilungsfragen stehen bliebe und sich über ein Bekenntnis zum westlichen Bündnis zerlegte, sondern akzeptierte, dass die Korrekturen in den Verteilungsverhältnissen den Übergang zu einer neuen sozialen Basis des Wirtschaftens und Lebens darstellten. DIE LINKE sollte hier nachlegen und die anderen Partner fordern.

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