30. August 2021 Hinrich Kuhls: Nachruf auf einen Organisator marxistischer Diskussionen

Louis N. Proyect (26.1.1945–25.8.2021)

Im Alter von 76 Jahren ist Louis Napoleon Proyect am 25. August in New York an einer Krebserkrankung gestorben. Louis, von seinen Freunden kurz »Lou« genannt, war im englischsprachigen Raum über alle Kontinente hinweg ein langjähriger Organisator marxistischer Diskussionen.

Zudem wirkte er als beharrlicher Autor von immer zu Widerspruch anregenden und herausfordernden Analysen und ein engagierter Filmkritiker, der die Szene des internationalen politischen Films seit seinen Anfängen überblickte.

Ohne seine Vitalität Mitte der 1990er Jahre, zu Beginn der transnationalen Vernetzung der internationalen politischen Linken mithilfe der neuen Kommunikationsmittel, wäre die damalige Auffrischung und Intensivierung der publizistischen Kooperation der Zeitschrift Sozialismus – damals noch ohne Webauftritt – mit der nordamerikanischen marxistischen Linken nicht so schnell vorangeschritten, weder mit der Redaktion und den Autor:innen von Monthly Review in New York noch mit jenen des Socialist Register in Toronto, obwohl ihnen gegenüber sich Louis zumeist in kritisch-solidarischer Distanz bewegte.

Für Sozialismus schrieb Louis damals leider nur einen einzigen Kurzbeitrag. Es war sein schwungvoller Bericht über die Jahreskonferenz der Zeitschrift Rethinking Marxism von Dezember 1996, in der die »Sokal-Affäre« über wissenschaftliche Hoax-Artikel desselben Jahres Nachklang fand und zugleich Gegenstand der Diskussionen zwischen »Marxisten und Postmarxisten« war. [1]

Nicht nur mit seiner Kritik gegenüber einem in verschnörkelter Sprache vorgetragenen Kathedermarxismus war er unerbittlich, sondern auch gegenüber den Mitdiskutierenden auf seinem Diskussionsforum »Marxmail«, das er über mehr als 20 Jahre hinweg unter Mithilfe von Les Schaffer und Michael Yates gegen viele politische und technische Hindernisse verteidigte und wo zeitweise mehrere tausend Teilnehmer:innen sich aktiv an dem Meinungsaustausch beteiligten oder ihn verfolgten.

Wie das Licht die Motten, so zog seine Plattform nicht nur Diskutanten mit inhaltlich mehr oder weniger profunden Beiträgen an, sondern auch Protagonisten politischer Sekten diverser Schattierungen aus etlichen Ländern. Ihnen hielt er geduldig seine persönliche politische Vita entgegen, die mit der Verstrickung in das Sektierertum des US-amerikanischen Trotzkismus und dessen Überwindung begann, und ihn über die aktive Unterstützung vor Ort der Befreiungskräfte in Nicaragua und Südafrika zur Beschäftigung mit einer Vielzahl von Aspekten der Zeitgeschichte und des gegenwärtigen Kapitalismus führte. [2] Die Ergebnisse veröffentlichte er zunächst neben seiner Tätigkeit als Programmierer an der Columbia University in New York und dann im strikten Sinne des Worts als »Rentner im Unruhestand.«

In den letzten Jahren erschienen viele seiner Beiträge in der Online-Zeitschrift Counterpunch, vor allem aber auf seiner Website, dem Blog The Unrepentant Marxist. Der gewählte Titel spricht für seine politischen Aktivitäten. Er sah sich als Verteidiger des Marxismus im Kreis einer Vielzahl politischer Aktivist:innen, von denen er häufig annahm, dass sie ihrer jugendlichen Liebe zum Marxismus nicht treu geblieben wären. Er hingegen hatte sich nicht gebeugt und hatte nichts »zu bereuen«.

Aus dieser zwar selbstkritischen Reflexion seiner vita activa, aber dennoch gänzlich unbegründeten, defensiven Haltung sowohl seinen politischen Gegnern als auch seinen sozialistischen Weggefährt:innen gegenüber entsprang der mal verbindliche, aber auch zeitweilig verletzende Ton seiner Diskussionsbeiträge. So war Louis Proyect einer der sympathischsten Genossen unter jenen »nicht-sektiererischen Marxisten«, die noch im fortgeschrittenen Alter vom Hauch des ehemaligen Sektierertums umweht sind. Vielen Marxist:innen weltweit wird er in seiner Sperrigkeit[3] und zugleich vielfältigen Hilfsbereitschaft in Erinnerung bleiben.

In seinem Internationalismus und seiner Zuversicht auf eine andere Welt war er unerschütterlich. Um neue Wege der Präsentation seiner Auffassungen nie verlegen, hatte er die autobiografische Quintessenz seines Wirkens schon vor gut einem Jahrzehnt zusammen mit Harvey Pekar, der die Illustrationen schuf, in einer Graphic Novel vorgestellt.[4] Dieses Buch, das keinen Verleger fand, hat er wenige Wochen vor seinem Tod zugänglich gemacht.

Seine Abschiedsworte lauteten: »Obwohl ich die meisten der Tausenden von Menschen, mit denen ich auf elektronischem Wege kommuniziert habe, nie persönlich treffen werde, erfüllt es mich mit tiefer Befriedigung, zu wissen, dass meine Ideen für sie einen Unterschied machen. Ich möchte jungen Menschen zeigen, wie man die Klassengesellschaft analysiert, aber ihnen das Elend ersparen, das mit dem Beitritt zu einer Sekte wie der SWP einhergeht. Wahrscheinlich werde ich diese Welt verlassen, ohne ein rationaleres menschliches System gesehen zu haben. Aber ich werde das Gefühl haben, dass ich meinen Beitrag geleistet habe.«

Anmerkungen

[1] Louis Proyect: Wissenschaftskriege. Eine unruhige Konferenz. In: Sozialismus, Februar 1997, S. 38–39. Der Artikel ist hier als pdf-Fassung nachzulesen.
[2] So auch Michael D. Yates, bis 2018 Associate Editor von Monthly Review, in seinem Nachruf. In einem bisher unveröffentlichten Interview blickt Louis Proyect auf sein Engagement in Nicaragua zurück: »I Have Always Identified with People Trying to Change Things«. In: Jacobin, 28.8.2021.
[3] Der New Yorker Publizist Doug Henwood hebt in seinem Abschiedswort die Freundschaft hervor, die sich aus der hartnäckigen gegenseitigen Kritik entwickelte.
[4] Louis Proyect and Harvey Pekar: The Unrepentant Marxist comic book, (2009, als Buch unveröffentlicht). Die Autobiografie ist vom 30.6.2021 bis 6.7.2021 in sieben Folgen auf der Website The Unrepentant Marxist erschienen. Beide Zeichnungen und das Zitat sind dem siebten und letzten Kapitel A political life after sectarianism entnommen.

Zurück