13. Juni 2024 Bernhard Sander: Der französische Präsident pokert hoch
Macrons Flucht nach vorn
Die laufende Berichterstattung über die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament unterbrach Staatspräsident Emmanuel Macron mit einer Fernsehansprache, in der er die Auflösung des Parlaments verkündete: »Diese Entscheidung ist ernst und schwer, aber sie ist ein Akt des Vertrauens. Es ist eine unverzichtbare Zeit der Klärung.«.
Macrons Kalkulation dreht sich aber schon längst nicht mehr um die eigene Legitimität: Die Wahl zum Staatspräsidenten (bei der er nicht mehr kandidieren kann) findet regulär im Frühjahr 2027 statt. Bis dahin ist er im Amt mit allen, vor allem außenpolitischen Vollmachten der Verfassung und kann damit seinen Kurs der europäischen Souveränität und Demonstration militärischer Entschlossenheit gegenüber Russland fortsetzen.
Denn der Staatspräsident hat den Oberbefehl über das Militär (Art. 15) und 30 Tage lang unanfechtbare Vollmachten zur schnellen Sicherung der von den verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigten Mittel, falls »die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Staatsgebietes oder die Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen schwer und unmittelbar bedroht sind und wenn gleichzeitig die ordnungsgemäße Ausübung der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten unterbrochen ist.« (Art. 16)
Zudem steht er teilweise über dem Parlament bei der Ausfertigung und Verkündung der Gesetze, wobei dem Präsidenten insofern ein suspensives Vetorecht zusteht, als er eine erneute Beratung eines Gesetzes verlangen kann (Art. 10), also auch das Recht, das Volk im Wege des Referendums entscheiden zu lassen.
In einer ersten Reaktion auf Macrons Auflösung des Parlaments maulte Jean-Luc Mélenchon, Gründer der Bewegung La France insoumise (»Unbeugsames Frankreich«, LFI) und maßgeblicher Initiator der Nouvelle union populaire écologique et sociale (NUPES), der Präsident hätte zurücktreten müssen, das EU-Votum sei Ausdruck seines Scheiterns. Die Reaktion der Linken insgesamt auf Macrons neuerlichen kleinen legalen Staatsstreich ist eindeutig-
»Wir rufen zur Bildung einer neuen Volksfront (Union populaire) auf, die alle Kräfte der humanistischen Linken, der Gewerkschaften, der Vereinigungen und der Bürger in einer neuen Form zusammenbringt«, kündigten Kommunisten, Sozialisten, LFI und Umweltschützer sowie Place publique, Génération.s (Linkssozialdemokraten) und Gauche républicaine et socialiste (GRS) in einer gemeinsamen Erklärung an. »Wir wollen ein Programm des sozialen und ökologischen Bruchs unterstützen, um eine Alternative zu Emmanuel Macron aufzubauen und das rassistische Projekt der extremen Rechten zu bekämpfen.«
Mit zusammen knapp 32% bei der EU-Wahl haben die linken Parteien eine gewisse Chance gegen das Rassemblement National (RN). Die kommunistische Zeitung »Humanité« rechnet damit, dass die meisten Stichwahlen im 2. Wahlgang zwischen Macronie und der extremen Rechten ausgetragen werden, wobei der Élyséepalast einmal mehr auf die Disziplin der RN-feindlichen Wähler (die er jedoch immer wieder anheizt) setzt, um zu gewinnen. Aber dieses Kalkül hat schon bei der Parlamentswahl im Juni Wahl 2022 nur noch bedingt funktioniert.
Auch wenn sich die linken Parteien jetzt auf eine gemeinsame Kandidatur zu einer Volksfront verständigen, die in jedem Wahlkreis mit einem einzigen Kandidaten antritt, wird es ihr schwerfallen, eine Mehrheit der nationalistisch-souveränistischen Rechten zu verhindern. Die Sozialliberalen in der PS sind vom Sieg ihres sozialistischen Spitzenkandidaten beeindruckt, werden aber skeptisch bis ablehnend gegenüber einer Erneuerung von NUPES und dem »Sozial-Populismus« bleiben. Hinzukommt der hitzig diskutierte Vorwurf eines Anti-Semitismus der LFI, die gerade in den Banlieues mit der Palästina-Solidarität Wählerschaft mobilisiert hat. In der Haltung zum russischen Angriff auf die Ukraine stehen Sozialdemokraten und Grüne auf Seiten der EU und der NATO, während Kommunisten und LFI einen Stopp der Waffenlieferungen und Waffenstillstand fordern.
LFI schlägt »allen, die es wünschen« vor, sich um das Programm der NUPES zusammenzuschließen und legt mehrere rote Linien für potenzielle zukünftige Verhandlungen fest: die Rente mit 60, die Erhöhung des Mindestlohns, die Rücknahme der Reform der Arbeitslosenversicherung und des Einwanderungsgesetzes, die ökologische Planung und der Ausstieg aus der Atomenergie, die 6. Republik oder die Anerkennung des palästinensischen Staates. Im Klartext heißt das ihrer Meinung nach, dass die Vereinigung den ideologischen Bedingungen der LFI folgen soll. Es bleibt wenig Zeit, die Differenzen und roten Linien zu überbrücken, am 30. Juni findet der 1. Wahlgang statt. Eine starke Linke könnte möglicherweise aber sogar im Interesse Macrons sein, wenn er auf Entzauberung und Verschleiß des RN in den verbleibenden 1,5 Jahren setzt.
Marine Le Pen hat ihrerseits den rechts-katholischen Republikanern (LR) und den Petain-Nostalgikern um Reconquête Verhandlungen angeboten, die vom Parteivorsitzenden der Republikaner, Eric Ciotti, bereits angenommen wurde. Das dürfte diese wohl endgültig zum Zerreißen bringen. Inzwischen hat der Parteivorstand der Républicains in einer Hauruck-Aktion einstimmig beschlossen, Ciotti abzusetzen und ihn aus der Partei ausgeschlossen. Dieser teilte anschließend auf X mit, dass er die Entscheidung nicht anerkennt (»Ich bin und bleibe Vorsitzender«) und hat die Mitarbeiter der Parteizentrale angewiesen, diese zu verlassen und zu verriegeln.
Le Pen hatte die »mutige Wahl« und das »Verantwortungsbewusstsein« von Ciotti gelobt und hofft, dass »eine beträchtliche Anzahl von LR-Führungskräften ihm folgt«, nachdem dieser ein »Bündnis« mit dem RN befürwortet hatte. »40 Jahre eines Pseudo-Cordon sanitaire, der dazu geführt hat, dass viele Wahlen verloren gegangen sind, sind dabei zu verschwinden«, sagte Le Pen, die Fraktionsvorsitzende des RN in der bisherigen Nationalversammlung ist. Deren Spitzenkandidat Jordan Bardella wird im Fall eines RN-Sieges als Vertreter der stärksten Fraktion vom Staatspräsidenten dem Parlament als Ministerpräsident vorgeschlagen.
Im wahrscheinlichsten Szenario wird es also zu einer »Kohabitation« unterschiedlicher politischer Lager kommen. Nach den Erfahrungen mit Streiks gegen Arbeitsmarktreformen, Gelbwesten-Protesten, Jugend-Aufständen, Rentenprotesten, Bauernunruhen, die alle nur zum geringsten Teil von politischen Lagern oder gar den Parteien ausgelöst oder gesteuert waren, wird es zu einer gewaltigen bis gewalttätigen gesellschaftlichen Spannung kommen.
Die erste Volksfront sammelte linke und bürgerliche Parteien Mitte der 1930er-Jahre, um Umsturzpläne der faschistischen Action française und der Patriotischen Jugend zu verhindern.[1] In Anlehnung an dieses historische Vorbild spitzt die LFI-Abgeordnete Clementine Autain zu: »Jetzt heißt es die oder wir.«
Je mehr sich die politische Auseinandersetzung nach außerhalb der schon geschwächten Institutionen verlagert, desto eher hat die Mitte eine Chance sich als Kraft der Ordnung zu regenerieren, die in der macronistischen Tradition einer Modernisierung jenseits der überholten politischen rechts-links-Schemata aus den Auseinandersetzungen hervorgeht.
Selbst in dem unwahrscheinlicheren Szenario einer linken Mehrheit könnte sich die Macronie Hoffnungen machen, da hier keine gemeinsamen Vorstellungen über die Transformationsdynamiken und -Notwendigkeiten (und in der Friedensfrage) bestehen, die Linke an der eigenen Uneinigkeit und der Schwäche der Gewerkschaften scheitert oder am Widerstand des Unternehmerlagers.
Anmerkung
[1] Die erste Volksfront wurde vereinbart zwischen den Sozialisten (SFIO), den Kommunisten (PCF) und bürgerlichen Kräften (Parti radical). »Die Partner verkündeten am 12. Januar 1936 ein gemeinsames Programm. Ein letztes Hindernis vor den Wahlen im Mai 1936 wurde mit dem Zusammenschluss der Gewerkschaften CGT und CGTU überwunden. Nach dem Wahlsieg herrschte in weiten Teilen der Bevölkerung zunächst große Freude. Aber die Hoffnung auf eine sofortige Bildung einer neuen Regierung erfüllte sich nicht. Léon Blum, der designierte Ministerpräsident, wartete gemäß der Verfassung zunächst das offizielle Ende der Legislaturperiode ab. Dies führte im linken Lager zu massiven Unmutsäußerungen, die schließlich in Massenstreiks übergingen. Als die neue Regierung am 5. Juni 1936 gebildet wurde, war die Wirtschaft fast völlig lahmgelegt. Dies zwang die Arbeitgeber zu fundamentalen Zugeständnissen gegenüber den Arbeitervertretern, vor allem gegenüber der CGT. Dazu zählte die Anerkennung der Gewerkschaften, die Einrichtung von Betriebsräten, das Streikrecht, eine beträchtliche Lohnerhöhung sowie ein Urlaubsanspruch. Der Regierung aus Sozialisten und Radikalen gehörten keine Minister der PCF an; diese hatte lediglich zugesagt, das Kabinett im Parlament zu unterstützen. Die Regierung setzte weitere Verbesserungen im Bereich des Arbeitsrechts durch: sie führte 1936 erstmals in der Geschichte die 40-Stunden-Woche und einen gesetzlichen Urlaubsanspruch ein. Für viele Franzosen gab es im Sommer 1936 zum ersten Mal bezahlten Urlaub. Die Regierung begann darüber hinaus mit der Verstaatlichung der Banque de France, der Eisenbahnen (Entstehung der SNCF) sowie der Rüstungsindustrie. In der Währungspolitik stieß die Regierung Blum auf heftigen Widerstand. Die Abwertung des Franc passierte knapp die Legislative; die erhoffte Stabilisierung der Währung erwies sich bald als gescheitert. Die Regierung sah sich im Februar 1937 veranlasst, weitere Reformvorhaben vorerst auszusetzen.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Front_populaire