1. Mai 2024 Bernhard Sander: Der französische Präsident spricht zentrale Themen an
Macrons Vision für Europa
Sieben Jahre nach seiner Sorbonne-Rede hat der französische Staatspräsident, wie damals angekündigt, eine Bilanz gezogen und markierte die nächste Etappe, inhaltlich durchaus breiter den politischen Horizont abschreitend als jede Zeitenwende-Rede in Deutschland.
Emmanuel Macron schlägt in der Rede[1] eine Antwort vor auf die drei Herausforderungen der geostrategischen Sicherheit, der Re-Dynamisierung des Wachstums und der Überwindung einer kulturell-politischen Krise vor: »Ich glaube, dass man durch Macht, Wohlstand und Humanismus dieser europäischen Souveränität gewissermaßen einen Inhalt verleihen kann und dass wir es Europa ermöglichen können, ein Kontinent zu sein, der nicht untergeht.« Er drängt nicht nur auf eine Militarisierung Europas, wie dies von linker Seite behauptet wird.[2]
Bestandsaufnahme
Brexit, Pandemie, Ukraine-Krieg, vor allem die Beschleunigung des technologischen und des Klima-Wandels haben die Karten, wie wir leben und produzieren wollen, neu gemischt. Die Souveränität, ein Konzept, das vor sieben Jahren noch als sehr französisch abgetan werden konnte, stellt sich nun als Herausforderung für Europa.
Macron stellt die erzielten Ergebnisse heraus:
- die wirtschaftspolitischen Folgen der Schutzregelungen gegen die Pandemie finanziell anzugehen durch eine gemeinsame Schuldenaufnahme
- die mit der Präsidentin der EU-Kommission getroffene strategische Entscheidung für eine europäische Produktion und Verteilung von Impf- und Rohstoffen
- die Entscheidung für mehr militärische Zusammenarbeit (2. Aachener Vertrag), für den Ausbau der transnationalen Energieverteilung
- und ab 2018 der Versuch, die strategische Abhängigkeit auf den Gebieten der Halbleitertechnik und der kritischen Rohstoffe zu beenden; die Kommissions-Initiativen clean tech und chips act seien vorbildhaft.
Trotz des Wahlkampfes zum EU-Parlament findet in Deutschland, der wirtschaftlich stärksten Nation der EU, zu wenig Auseinandersetzung über deren Zukunft statt. Macron wendet sich mehrfach namentlich an den deutschen Bundeskanzler, weil er Deutschland eine Schlüsselrolle zumisst. Besondere mediale Aufmerksamkeit verspricht er sich von dem Hinweis, »dass unser Europa heute sterblich ist. Denn heute entscheidet sich, ob es auf unserem Kontinent Frieden oder Krieg geben wird und ob wir die Fähigkeit, unsere Sicherheit zu gewährleisten haben oder nicht«.
Europa könne sterben, »weil die großen Transformationen, die des digitalen Wandels, der künstlichen Intelligenz wie auch der Umwelt und der Dekarbonisierung und die Reallokation der Produktionsfaktoren, sich jetzt abspielen«, das Tempo und die Reichweite vor allem der wirtschaftlichen Kooperation jedoch zu wünschen übrig lässt. Er konstatiert eine Zeitenwende weit über das Militärische hinaus.
»Die Ära, in der Europa seine Energie und Düngemittel von Russland bezog, in China produzieren ließ und seine Sicherheit an die USA delegierte, ist vorbei. .[... Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf steigt in den USA um ca. 60% zwischen 1993 und 2022. Dasjenige in Europa ist um weniger als 30% gestiegen. Dies noch bevor die Vereinigten Staaten von Amerika den Inflation Reduction Act beschlossen haben, als einer massiven Politik, um unserer Industrien anzulocken und vor allem grüne Technologien und Industrien zu subventionieren. Wir haben also heute eine Herausforderung, nämlich viel schneller zu werden und unser Wachstumsmodell zu überdenken.«
Der französische Staatspräsident, der in seinem Land am Ende des Um- und Abbaus des Sozialstaates und der sozialen Sicherungssysteme angekommen ist, sieht in der zurückliegenden neoliberalen Phase vor allem Standortverlagerungen bzw. Kapazitätssicherungen des produzierenden Gewerbes in Folge von nationalen Einkommenssteuersenkungen, Lohnkosten-Unterschieden und Kürzungen von Soziallohn-Bestandteilen.
In der Folge veränderten sich die Anteile von Industrie am nationalen BIP, der der gewerblichen Arbeitsplätze durch Verlagerungen vor allem innerhalb Europas oder in den globalen Süden. Heute haben wir es mit einer aktiven Rolle von Regierungen und Staatseingriffen ganz anderer Dimension zu tun, vor allem Seitens der USA und der VR China. »Die beiden führenden internationalen Mächte haben beschlossen, sich nicht mehr an die Handelsregeln zu halten. Das ist die Realität seit dem Inflation Reduction Act.«
Macron ist zuzustimmen, dass man erstens dieser Realität nicht auf der Ebene des Nationalstaates gewachsen ist, und dass zweitens der Ausbau der europäischen Souveränität zu zögerlich angegangen wird. Er umreißt ein Arbeitsprogramm auf EU-Ebene, das wesentlich mehr umfasst als militärische Fragen, Migrations- und Landwirtschaftspolitik, die das Geschäft des EU-Ministerrates und der Kommission bis heute dominieren (auch dazu finden sich präzise Ausführungen in der Rede). Das Schlüsselelement für die Lebensfähigkeit eines souveränen Europas ist – neben der militärischen Eigenständigkeit als zweite Säule der NATO neben den USA – ist die Prosperität.
Macron ist ein Bewusstsein über die Dimensionen des Umbaus der gesellschaftlichen Betriebsweise kapitalistischer Gesellschaften nicht abzusprechen: »Ebenso wenig wie es einen ökologischen Übergang ohne ein solides Wirtschaftsmodell gibt, kann es ein stabiles Sozialmodell, das eine Stärke der Europäer ist, geben, wenn man nicht das Geld produziert, das anschließend umverteilt werden soll. Und Europa war lange Zeit der wichtigste Trumpf für unser Wachstum, in einem Modell des ordoliberalen Wettbewerbs und Freihandels und zu einer Zeit, in der im Grunde genommen die Regeln ganz anders waren: die Rohstoffe nicht begrenzt schienen, es keine Geopolitik der Rohstoffe gab, der Klimawandel ignoriert wurde, der Handel frei war und jedermann sich an die Regeln hielt.«
Eine Polemik gegen Macron als bloßer Bannerträger des Neoliberalismus ist dem Problembewusstsein des Franzosen nicht angemessen. »Mit den aktuellen politischen Regeln der Konkurrenz, des Handels, der Geld- und Haushaltspolitik werden wir nichts mehr erreichen.« Das neue Credo lautet, nicht nur für Macron: »Wir regulieren zuviel, investieren zu wenig und verteidigen zu wenig unsere Interessen.«
Auch eine Linke auf der Höhe der Zeit müsste das gesamte System der Regulation (einschließlich noch bestehender Klassenkompromisse), der staatlichen und privaten Investitionslenkung sowie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zur Debatte stellen, wenn sie Macrons europäischem Kapitalismus-Paradigma etwas entgegensetzen will.
Industriekapazität durch Transformation
Der französische Präsident schlägt einen »Prosperitätspakt« vor: »Wir wollen mehr Wohlstand produzieren, um unseren Lebensstandard zu verbessern. Man will die Kaufkraft der Europäer sichern. Das ist die Sorge aller unserer Landsleute. Das ist sehr konkret, es ist das Ziel unserer Politik. Wir wollen unsere Wirtschaft dekarbonisieren und die Herausforderungen der Biodiversität und des Klimawandels bewältigen. Wir wollen unsere Souveränität sichern und daher unsere strategischen Produktionsketten beherrschen; und wir wollen eine offene Wirtschaft bewahren, um eine große Handelsmacht, die wir sind, zu bleiben.«
Die nächsten fünf bis zehn Jahre seien entscheidend für die Frage, wo grüne Technologien, die Kapazitäten für künstliche Intelligenz und Rechnerleistung angesiedelt sein werden. In der Vergangenheit hat Europa schon die Sonnensegel verloren, aktuell geht es um Batterie- und Autoproduktion, zukünftig um »Künstliche Intelligenz« (KI) etc.
KI, die Erhöhung der Rechnerkapazität von 3% auf 20% bis 2030, Quanteninformatik, eine neue Trägerrakete für den Weltraum à la Ariane – das sind Macrons Wunschträume europäischer Zusammenarbeit. Es sei vorrangig, dass die Politik wichtige Projekte von gemeinsamem Interesse definiert – Projets important d'Intérêt européen commun (PIIEC) –, »unsere Industriellen kennen sie gut«. Man müsse nun neue Projekte definieren, z.B. auf den Sektoren der Medizin und der Chemie.
Industriepolitik, wie sie Macron hier andeutet, ist seit einem Vorstoß des damaligen Wirtschaftsministers Peter Altmeier (CDU) in Deutschland in Verruf, das Unternehmerlager selbst zerstritten und die Gewerkschaften, die sich früher mit Konversions-Konzepten, Branchen-Strategien, Wirtschafts- und Sozialräten usw. eingeschaltet haben, mischen sich heute noch zu wenig und oft zu sehr im Orientierungsrahmen der SPD ein.
Macron sieht Frankreich als Vorbild. »Es muss mehr und grüner produziert werden, und die kohlenstofffreie Produktion ist eine Chance zur Re-Industrialisierung und Erhalt unserer Industrien in Europa. Das hat sich in den letzten Jahren gezeigt: Von Wasserstoff über Halbleiter bis hin zu elektrischen Batterien hat Frankreich wieder neue Kapazitäten geschaffen. Industriekapazität durch Transformation.« Der politische Kampf, bei dem – auch mithilfe von bewusster Staatsintervention (eigentlich ein Thema der traditionellen Linken) – Gewerbezweige aufgebaut werden, die die durch Abwanderung, Dekarbonisierung und Digitalisierung von Produktionsprozessen verloren gegangene Arbeitsplätze ersetzen, wird nicht entschieden genug geführt.
Für diese Strategie müsse neben der Industriepolitik zweitens die europäische Regulatorik für Energie, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen vereinfacht und angeglichen werden, wie es der Letta-Report beschreibe. Es brauche neue Regeln: Für strategische Produkte wie Rüstung, Raumfahrt, Atomindustrie müsse eine europäische Präferenz in die Verträge eingeschrieben werden. Macron will Euratom wiederbeleben und überhaupt die Energiepolitik: »Je schneller wir den Übergang schaffen, desto schneller können wir diese Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. In Europa erzeugte kohlenstofffreie Energie ist der Schlüssel zur Versöhnung für Klima, Souveränität und Schaffung von Arbeitsplätzen.« Atom sei der Schlüssel (denn da ist Frankreich führend).
Die EU habe den Fehler gemacht, »den europäischen Markt in Wasserstoff- oder Elektrotechnologien zu fragmentieren. Wir müssen absolut auf Technologieneutralität setzen«. Die deutschen Parteien haben sich bisher zu wenig der Herausforderung der CO2-neutralen Taxonomie von Energien gestellt. Der Kampf, in welchem Verhältnis Umweltverträglichkeit zu Klimaneutralität steht, wird aktuell in einem peinlichen Kleinkrieg über das Haus des Wirtschafts- und Klimaministers Robert Habeck (Grüne) ausgetragen.
Da die USA und VR China ihre Wirtschaft »übersubventionieren«, müsse Europa drittens eine neue Handelspolitik einleiten. Welche handelspolitischen Instrumente präferiert Macron? »Wenn ein Gut die Schlüsselstandards nicht erfüllt, dann sollte es nicht einfach so in die Union einreisen können, als wäre nichts geschehen.« Dass dafür die Marktmacht mit 450 Mio. Konsument*innen ausreicht, glaubt zumindest er. »Die Kohlenstoffsteuer an den Grenzen ist ein wegweisendes Instrument, und wir müssen es ausweiten, ergänzen und verbessern, damit es nicht umgangen werden kann und damit sie verarbeitete Produkte trifft.« Das Memorandum der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik aber auch Autoren des SPD-Wirtschaftsforums haben im vergangenen Jahr in dieselbe Richtung argumentiert.
Die fünfte Säule eines Paktes für gemeinsamen Wohlstand ist der Kampf um Innovation und Forschung, wofür »man vor allem eine Obsession haben muss, nämlich die der Produktivität […] Dazu müssen wir das Ziel bekräftigen, dass 3% des europäischen BIP für die Forschung ausgegeben werden sollen.«
Die Kosten der Transformation
In Summe stehe Europa, nachdem was Enrico Letta und Mario Draghi in ihren Berichten für die Kommission aufgeschrieben haben, vor einer Mauer von Investitionen in Höhe von 650 bis 1.000 Mrd. Euro pro Jahr: »Eine erste Sache scheint mir hinfällig: Man kann keine Geldpolitik betreiben, die als einziges Ziel ein Inflationsziel hat, noch dazu in einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem die Dekarbonisierung ein Faktor für strukturelle Preissteigerungen ist. Wir müssen die theoretische und politische Diskussion darüber, wie man in die Ziele der Zentralbank zumindest ein Wachstumsziel, wenn nicht sogar ein Ziel der Dekarbonisierung, zumindest eines Klimaziels, einbaut, endlich beginnen.«
Zweitens betrachtet Macron nationale staatliche Beihilfen als kontraproduktiv, weil sie keine dauerhafte Antwort auf die von ihm skizzierten Herausforderungen darstellen und den gemeinsamen Markt fragmentieren: »Wir brauchen also eine gemeinsame Kapazität und neuerlich einen gemeinsamen Investitions-Schock, einen großen kollektiven Haushaltsplan.« Es gehe nicht um Kreditaufnahmefähigkeit oder um Stabilitätsmechanismen, sondern um die Verdopplung der europäischen Handlungsfähigkeit. »Wir brauchen diesen öffentlichen Investitionsschock, um öffentliche Gelder in diese Bereiche zu investieren. Dies setzt voraus, dass die so heikle Frage der Eigenmittel der Union wieder geöffnet wird.«
Zu diesen möglichen genuinen Haushaltseinnahmen der EU zählt Macron: Zoll auf kohlenstoffbasierte Produkte, Finanztransaktionssteuer, europäischer CO2-Gebühren, Besteuerung von transnationalen Unternehmen und eine Steuer, die von Nicht-EU-Bürger*innen bei der Einreise in die EU gezahlt wird.
Darüber hinaus benennt Macron drei weitere Finanzquellen: die Abschöpfung der hohen nationalen Ersparnisse (die in der aktuellen französischen Haushaltsplanung mit einer Zwangsanleihe auf das sogenannte Sparbuch B abgeschöpft werden), die Umlenkung der Ausleihungen an die USA von rd. 300 Mrd. Euro pro Jahr und die Erhöhung der geringen Risikobereitschaft (»Denn wir haben eine Wirtschaft, die sehr über Banken und Versicherungen abgewickelt wird, und wir haben Regeln auferlegt, die es uns nicht erlauben, auf Eigenkapital und Risiko zu setzen.«) Er schlägt weiter vor, innerhalb von zwölf Monaten die Kapitalmarktunion zu vollenden, dabei predige er nicht eine Kultur der Verantwortungslosigkeit, sondern eine neue Risikokultur.
Der Kampf um die ideologische Hegemonie in Europa
Macht, Wohlstand und Humanismus sind für Macron die Schlüsselbegriffe für ein neues Europa. Die dritte Herausforderung neben der militärischen und der ökonomischen sieht er auf ideologischem Gebiet: »Wir sind lange Zeit von unserem unwiderstehlichen Modell ausgegangen, der Demokratie, die sich ausbreitet, den Menschenrechten, die Fortschritte machen, die europäische Soft Power triumphiert. Dann ist die Demokratie weiterhin attraktiv für viele in der Welt.«
Das Modell steht in der Kritik. Auch innerhalb Europas sind »unsere Werte, unsere Kultur bedroht. Die meisten Menschen glauben, dass sie und unsere Träume nicht mehr funktionieren.« Trotz einer durchgängigen reaktionären Note hat kaum eine Führungskraft in Europa die Wertkrise der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus von heute so klar benannt, auch wenn Macron diese Feststellung nicht organisch mit der Transformationskrise verknüpfen kann.
Die Rechtfertigung seiner europäischen Vision sei »keine naive Entscheidung, die darin besteht, unser Leben an große industrielle Akteure zu delegieren, weil diese zu stark sind. Diese ist nicht im Einklang mit der europäischen Option und dem europäischen Humanismus. Es ist eine Entscheidung, die es ablehnt, unser Leben an staatliche Kontrollmächte zu delegieren, die die Freiheit des rationalen Individuums nicht respektieren. Es ist ein Vertrauen in das freie, vernunftbegabte Individuum. Es ist ein Vertrauen in das Wissen, die Freiheit und die Kultur. Es ist eine ständige Spannung zwischen einer Tradition und Beständigkeit und einer Modernität.«
Und hier komme dem Begriff der Nation eine neue Bedeutung zu: »In meinen Augen ist von Europa zu sprechen immer auch von Frankreich zu sprechen. [...] Unser Europa kann sterben, wie ich bereits sagte, und es kann durch eine Form von List der Geschichte sterben. Es hat nämlich in den letzten Jahrzehnten sehr viel erreicht; die europäischen Ideen haben in gewisser Weise den Gramscianischen Kampf gewonnen.
Die Nationalisten wagen es nicht mehr zu sagen, dass sie aus dem Euro und aus Europa austreten werden. Aber sie haben uns alle an einen Diskurs gewöhnt, der das ›Ja-aber‹ ist, der darin besteht zu sagen: ›Ich stecke alles ein, was Europa gemacht hat, aber ich werde es tun, indem ich die Regeln nicht einhalte, indem ich seine Grundlagen mit Füßen trete.‹ Im Grunde schlagen sie nicht mehr vor, das Gebäude zu verlassen oder es abzureißen; sie schlagen lediglich vor, keine Eigentumsregeln mehr zu haben, nicht mehr zu investieren, keine Miete mehr zu zahlen. Und sie sagen: Das wird funktionieren.« Macron beharrt auf dem Eigentumsvorbehalt, dass Europa dem Kapital gehört.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Visier
Diese Nationalisten haben in Frankreich vor den Europawahlen allerdings die Oberhand. Nach den Umfragewerten steigt seit Anfang des Jahres zwar auch die Zustimmung zu den Sozialdemokraten (PS) geringfügig um 2% auf jetzt 13%, deutlicher aber noch die zum Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen von 28% auf 31%. Das macronitische Parteienbündnis sinkt im selben Zeitraum von 19% auf 16%. Am radikalen rechten Rand sind zudem die Reconquête von Eric Zemmour und die Euro-kritische Sekte des ehemaligen RN-Vorsitzenden Florian Phillipot mit 1% vertreten. Die Grünen, die 2019 noch Hoffnungsträger waren, und die untergehenden konservativen Republikaner sind nur noch mit 6% bzw. 7% in den Umfragen vertreten. Das »Unbeugsame Frankreich«, in dem die Erben von Jean-Luc Mélenchon gegeneinander intrigieren, pendelt seit Anfang des Jahres um 8% und die traditionalistische Kommunistische Partei (PCF) steht stabil bei 3%.[3]
Ein Sozialist will ganz Europa aufwecken. »Réveiller l’Europe« ist der Wahlspruch von Raphaël Glucksmann, der bei den Europawahlen am 9. Juni für die Parti Socialiste et Place Publique antritt. Er will Reiche stärker besteuern und Europa mit dem Geld grüner und sozialer machen. Damit trifft Glucksmann einen Nerv, wie das erwähnte Umfragehoch von aktuell 13% zeigt. Aber der Sammlung plausibler Forderungen fehlt eine einordnende Interpretation der europäischen Zukunft, wie sie Macron dem bürgerlichen Lager bietet.
Die von diesem angesprochenen Themen seien den französischen Bürger*innen nicht unbekannt, analysiert die linke Zeitschrift »regards«. Er habe überzeugend von einem europäischen Souveränismus gesprochen und ein Plädoyer für die Unterstützung von Innovationen gehalten sowie vorgeschlagen, einige Säulen Europas in Frage zu stellen. Schließlich wolle er sich als Fortsetzung des europäischen, humanistischen und aufklärerischen Projekts verstehen.
Macron erkenne zwar ein Demokratiedefizit in Europa an. Es sei aber ein großes Problem, wenn man das europäische Projekt ohne eine demokratische Revolution akzeptiert. Macrons Rede sei gleichzeitig kohärent mit seiner wirtschaftsliberalen Ausrichtung und völlig dissonant in seinen Verweisen auf den Humanismus. Die Realität seiner nationalen Politik, sei es für Migrant*innen, Kinder, Arbeitslose oder die am meisten prekär Beschäftigten, sähe anders aus. Ein Recht auf Sicherheit, Schutz und Fortschritt für ihr Leben für die Europäer*innen komme in diesem Humanismus Macrons nicht vor.
Die französische Linke kann sich nicht auf ein gemeinsames Projekt verständigen. Sie müsste, wie Catherine Tricot in »regards« forderte, »mit einem Einstieg, der die menschliche Entwicklung zum Grund jeder Politik und zum Sockel jedes Wohlstands macht, sagen, wie sie die von Emmanuel Macron angesprochenen Themen auffasst.«
Denn Macrons Herausforderung hat Realitätsgehalt: Noch herrscht weder in den Nationalstaaten noch in der EU als ganzer Einigkeit über die Notwendigkeit und Dimension koordinierten Förderstrategien oder von Handelsbarrieren, Schutzzöllen usw. Nach der EU-Wahl besteht vielmehr zur Sorge Anlass, dass die reaktionären Strategien der Abschottung Friktionen auf den Weltmärkten heraufbeschwören, unter denen die europäischen Nationalökonomien leiden werden. Tempo und Reichweite der Transformation und der produktiven Basis stehen auf dem Spiel, wenn die neue Kommission von rechten und rechtsradikalen Fraktionen gestaltet wird
Anmerkungen
[1] https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2024/04/24/discours-sur-leurope. Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator, teilweise gekürzt und sprachlich bearbeitet. Auf Einzelnachweise wird zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
[2] https://www.jungewelt.de/artikel/474127.imperialismus-macron-plant-kriege-der-eu.html
[3] https://harris-interactive.fr/wp-content/uploads/sites/6/2024/04/GEQIRSHKRJBTQEZB.pdf (22.4.2024)