22. März 2025 Redaktion Sozialismus.de: Erdoğan beschädigt einmal mehr die Demokratie

Massive Proteste in der Türkei

In der Türkei haben am Freitag erneut sehr viele Menschen gegen die am Mittwoch erfolgte Festnahme des Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu protestiert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte seinen ärgsten politischen Widersacher festnehmen lassen. In Istanbul hatten die Behörden ein Versammlungsverbot erlassen, dem sich mehr als 300.000 Menschen widersetzten.

Nach Angaben von İmamoğlus Partei CHP kamen sie an verschiedenen Orten der Stadt zusammen und zogen unter anderem zum Rathaus. Die Polizei ging teils mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vor. Auch in der Hauptstadt Ankara und in Izmir gab es erneut Proteste. Laut dem Innenministerium wurden mindestens 97 Menschen festgenommen.

Der türkische Präsident hatte die Kundgebungen als »Straßenterror« bezeichnet und ein hartes Durchgreifen angekündigt. Die Proteste werden gleichwohl mit Sicherheit bis Sonntag anhalten, denn bis dahin darf die Polizei İmamoğlu in ihrem Hauptquartier festhalten, bis Richter entscheiden müssen, wie lange er inhaftiert bleibt.

Am Mittwochmorgen war İmamoğlu, der auch Istanbuler Bürgermeister ist, gemeinsam mit vielen weiteren Menschen festgenommen worden. Die Erdoğan hörige Instabuler Staatsanwaltschaft hatte dies mit Terror- und Korruptionsvorwürfen begründet und am Donnerstag außerdem die Vermögenswerte eines Bau- und Handelsunternehmens seiner Familie, an der er beteiligt ist, beschlagnahmen lassen. Zudem hatte die Universität Istanbul İmamoğlu seinen Abschluss aberkannt, damit könnte er von einer Kandidatur bei der nächsten Präsidentschaftswahl ausgeschlossen werden, für die ein Hochschuldiplom eine der Voraussetzungen ist.

Seine Partei CHP wirft Erdoğan und der Regierung vor, hinter der Festnahme zu stecken, um damit einen politischen Konkurrenten auszuschalten. Der Istanbuler Oberbürgermeister gilt bei der für 2028 angesetzten Präsidentenwahl als potenziell aussichtsreichster Herausforderer des autokratisch regierenden Amtsinhabers und sollte am Wochenende zum Präsidentschaftskandidaten der sozialdemokratisch und kemalistisch geprägten CHP ernannt werden.

Der Hintergrund: Bereits bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2024 zeigte sich, dass die AKP von Präsident Erdoğan nicht mehr die stärkste Partei der Türkei ist und landesweit von der oppositionellen CHP überholt wurde. Am sichtbarsten war die Abkehr von der AKP in den großen Städten. Wir hatten darüber bereits in einer Kurzanalyse vom 1. April 2024 informiert und führen die zentralen Aspekte daraus hier noch einmal auf.

Nicht nur die traditionell kemalistisch geprägten Küstengebiete im Westen haben dieses Mal die CHP gewählt, sondern auch große Teile Anatoliens. Die Partei des Staatsgründers Atatürk hat selbst traditionelle AKP-Hochburgen wie Bursa erobern können. Am wichtigsten aber ist, dass sie neben der Hauptstadt Ankara auch Istanbul gehalten hat. Die Bosporus-Metropole ist mit 16 Millionen Einwohnern die mit Abstand größte Stadt und das Kraftzentrum des Landes. [...]

Obwohl er selbst kein Kandidat war, hatte Erdoğan den Kampf um die Rathäuser zur Schicksalswahl erklärt. De facto war es ein Duell zwischen dem türkischen Präsidenten und dem Bürgermeister von Istanbul, in der 18% aller Türk*innen leben. Viele sehen Ekrem İmamoğlu bereits als Erdoğans Nachfolger an der Staatsspitze. Allerdings sind es bis zu den nächsten Wahlen noch vier lange Jahre, in denen die AKP weiter den Staatsapparat beherrschen wird. Erdoğans Pläne zum Umbau der Türkei – eine Verfassungsänderung für mehr Islam, Nationalismus und Autoritarismus – haben jedoch einen schweren Dämpfer bekommen. Insofern ist auch der autokratische Präsident große Verlierer der Kommunalwahlen.

Die Wahlergebnisse sind Ausdruck der gewachsene Unmut über die hohe Inflation und die Enttäuschung über die Wirtschaftspolitik. Die Regierung ist zwar unter Finanzminister Mehmet Şimşek zu einer orthodoxen Zins- und Währungspolitik zurückgekehrt. Doch den Sinkflug der Lira hat sie nicht stoppen können, und die Teuerung hält unvermindert an. Gerade in Großstädten wie Istanbul und Ankara machen die exorbitanten Lebenshaltungskosten den Leuten schwer zu schaffen.

Der Wertverlust der türkischen Lira führte zu einer zunehmenden Verarmung weiter Kreise der Bevölkerung. Ein weiterer Faktor waren die Folgen des schweren Erdbebens im Februar 2023 im Südosten der Türkei im Grenzgebiet zu Syrien. Erdoğan hatte im Vorfeld der Wahl offen damit gedroht, dass dort, wo die Bevölkerung der AKP keine Mehrheiten verschaffen würde, weniger staatliche Gelder zum Wiederaufbau fließen würden.

Das Management der Erdbebenkrise und die bürokratischen Versäumnisse im Vorfeld der Katastrophe waren für die politische Enttäuschung gegenüber der AKP-Politik ausschlaggebend. Der Partei ist es offenkundig nicht gelungen, ihre Wähler zu mobilisieren. Die Wahlbeteiligung lag neun Prozentpunkte niedriger als bei der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr. Obwohl Präsident Erdoğan erneut durchs ganze Land getourt ist, hat er die Wähler*innen nicht in bisheriger Zahl an die Urnen bringen können. Auch sein ultrarechter Koalitionspartner Bahceli und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) haben enttäuscht. [...]

Der Präsident sagte zu, den neuen Bürgermeistern bei ihrer Arbeit behilflich zu sein. In den kommenden viereinhalb Jahren werde seine Partei an ihren Fehlern arbeiten. Unklar ist, ob diesem versöhnlichen Ton nun Taten folgen und vor allem, ob er auch für die kurdischen Gebiete gilt. Nach den letzten Lokalwahlen ließ die Regierung innerhalb eines Jahres alle Oberbürgermeister der prokurdischen HDP, die jetzt unter dem Namen DEM-Partei antrat, entfernen und durch Zwangsverwalter ersetzen. Nach der Wahl kündigte er am Sonntag an, den Kampf gegen »kurdische Terroristen« fortzusetzen.

Aus dem kurdischen Südosten wurden am Wahltag die meisten Unregelmäßigkeiten berichtet. Auch gaben erneut viele Sicherheitskräfte in den kurdischen Provinzen ihre Stimme ab, eine Strategie zur Stärkung der Regierungspartei. Dennoch schnitt die DEM-Partei besser ab als vor fünf Jahren

In den nächsten vier Jahren stehen in der Türkei keine Wahlen an. Seit der Verfassungsänderung 2017 hat der Präsident fast uneingeschränkte Macht. Auch im Parlament verfügen die AKP und ihre Verbündeten dank dem Sieg im vergangenen Jahr über eine komfortable Mehrheit. Es ist also verfrüht, das Ende der Ära Erdoğan auszurufen.

Niemand kann der Regierung bis dahin ihre Macht streitig machen. Und es ist keineswegs sicher, dass die Türk*innen und Türken bei der nächsten Präsidentenwahl so abstimmen werden wie jetzt bei der Wahl ihrer Bürgermeister und Stadträte. Der Urnengang letztes Jahr hat dies klar gezeigt. Um auch die Präsidentschaft zu gewinnen, wird sich die CHP anders aufstellen müssen.

Doch gibt der Sieg der Opposition neue Hoffnung. Er zeigt, dass die AKP nicht unbesiegbar ist. Auch ist nicht mehr zu übersehen, dass der alternde Präsident seinen Zenit überschritten hat. Die CHP wird künftig durch die Kontrolle der großen Städte mehr Ressourcen für den künftigen Wahlkampf haben. Und mit den beiden wiedergewählten Bürgermeistern in Ankara, Mansur Yavaş, und in Istanbul, Ekrem İmamoğlu, hat sie zudem zwei Politiker in ihren Reihen, die die Massen zu begeistern wissen. Und Letzterer hat schon bisher kein Geheimnis daraus gemacht, dass er auch nationale Ambitionen verfolgt. Mehr denn je ist der Istanbuler Bürgermeister für Erdoğan der gefährlichste Herausforderer.

Entsprechend optimistisch drückte sich der CHP-Vorsitzende Özgür Özel aus, für den das Wahlergebnis ein »historisches Ereignis« darstellt: »Die Wähler haben dafür gestimmt, das Gesicht der Türkei zu verändern. Sie wollen die Tür öffnen für ein neues politisches Klima in unserem Land.«

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