2. Februar 2022 Otto König/Richard Detje: Ukraine-Konflikt – abrüsten, statt an der Eskalationsschraube drehen
Mediales Trommeln für den Krieg
»Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!«, so überschrieb Die Zeit am 5. Dezember 2014 einen Appell von mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, die eindringlich vor einem Krieg mit Russland warnten und eine neue Entspannungspolitik für Europa einforderten.[1]
Acht Jahre nach der »Einfrierung« des Konflikts in der Ostukraine und auf der Krim herrscht wieder eine Kriegsrhetorik vor, die die Angst vor einer umfassenden militärischen Auseinandersetzung neu belebt. Dazu hat beigetragen, dass die NATO ihre Militärpräsenz in den mitteleuropäischen und baltischen Ländern mit neuen Waffensystemen und Streitkräften unmittelbar an der Grenze zu Russland verstärkt, und Georgien ebenso wie die Ukraine die Mitgliedschaft im westlichen Militärbündnis anstrebt. Russland treibt die Modernisierung seiner Waffenarsenale voran[2] und erhöhte in den letzten Monaten seine Militärpräsenz auf eigenem Territorium an der Grenze zur Ukraine.
Vor acht Jahren tendierte die öffentliche Meinung in Richtung Entspannung, heute wird medial für den Krieg getrommelt. Die Grenzen von werte- zu waffenbasierter Politik sind fließend. Das Narrativ derjenigen, die über eine »unmittelbar drohende Kriegsgefahr« fabulieren, lautet: NATO-Truppen an der Grenze zu Russland sind nur zur Verteidigung bzw. Abschreckung da, russische Truppen hingegen dienen zur Vorbereitung eines Angriffskrieges auf die Ukraine.
»Ein Krieg wird wahrscheinlicher«, titelte die Süddeutsche Zeitung (15./16.1.2022). Glaubt man den Mainstream-Medien, trägt Russland dafür die Verantwortung. Aber auch die deutsche Bundesregierung kommt nicht ungeschoren davon: »Die deutsche Politik wisse derzeit im Umgang mit Russland vor allem, was sie nicht will: keinen Stopp von Nordstream 2, keine Waffen an die Ukraine und keinen Rauswurf aus dem Swift. Die fatale Botschaft: Moskau hat vom Westen nichts zu befürchten«, liest man in der SZ zwei Tage später. Dabei stehe fest, dass »diese Deutschen« vom »transatlantischen Bündnis noch kaputt machen, was übrig ist«.
Zu Recht kommentiert Lutz Herden: »Es ist zunehmend verstörend und quälend, dem Sound einer Politiker- und Journalisten-Generation ausgesetzt zu sein, die bestenfalls die Spätphase des Kalten Krieges bewusst miterlebt hat, mit sich selbst hochzufrieden ist und ein Hochgefühl der moralischen und kulturellen Überlegenheit gegenüber Russland auskostet, wie es geschichtsloser kaum sein kann.«
Vorwiegend transatlantisch orientierte Journalist*innen nehmen aktuell vor allem jene Teile der SPD ins Visier, die Elemente der Entspannungspolitik Willy Brandts aufgreifen und sich für einen Dialog sowie einen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit der russischen Föderation stark machen. Der Eindruck ist: Jene Teile der Ampel-Koalition, die noch nicht auf eine gefährliche Konfrontation gegenüber Russland eingeschwenkt sind, sollen gefügig gemacht werden.
Unter dem Titel »Die SPD hat ein Russland-Problem« beklagt der Leiter des Spiegel-Auslandsressorts, Mathieu von Rohr, Russlands Präsident Wladimir Putin drohe mit Krieg, aber: »Die Bundesregierung findet keine klare Antwort darauf. Das liegt vor allem an der Partei von Kanzler Olaf Scholz.« Moskau könne sich in seinem Vorgehen nur ermutigt fühlen, so schwach und zerstritten Deutschland gerade wirke. Kurz zuvor hatte der Kolumnist Nikolaus Blome auf Spiegel online schwadroniert »Der große Krieg ist möglich in Europa, und er ist nah«, dabei wiederum die Sozialdemokratie ins Visier nehmend: »Die neue Ministerin (Annalena Baerbock) macht sich auf ihren bislang schwersten Weg, und SPD-Promis stellen ihr ein Bein, wo sie nur können. Das ist nicht nur unterlassene Hilfeleistung. Das ist Sabotage.«[3]
Die Leitartikler von taz bis Bild bezichtigen jeden, der es wagt, für einen Dialog mit Russland einzutreten, ein Putin-Freund zu sein. Scholz müsse offenbar »Rücksicht auf die Leute in seiner Partei nehmen, die in der Ukraine-Krise die Amerikaner für die Kriegstreiber halten und Putin für das missverstandene Opfer«, polemisiert Hubert Wetzel.
In einem Gespräch mit den Deutschen-Wirtschafts-Nachrichten (24 /25.12.2021) erklärte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General Harald Kujat: »Das gemeinsame Bemühen um einen Interessenausgleich ist der einzige Weg aus einer jahrelangen Sackgasse, an deren Ende ein Konflikt steht, den niemand will. Die NATO, einschließlich der Vereinigten Staaten, sollte mehr Verständnis für die russisch-ukrainische Geschichte aufbringen und Russlands Sicherheitsinteressen respektieren.« Schließlich sind Moskaus Befürchtungen, »durch eine Ausdehnung des Westens unter der Führung der USA« eingekreist zu werden, nicht unberechtigt.
Doch trotz des diplomatischen Aktivismus wurde bisher nichts getan, um Russland und seinen legitimen Sicherheitsbedürfnissen entgegenzukommen. Auf die von der russischen Seite Anfang dieses Jahres übermittelten Vertragsentwürfe an die Biden-Regierung und die NATO gibt es bis heute keine adäquate Antwort.
Der Westen sieht Russlands Vorschläge hinsichtlich einer Garantie, die NATO nicht noch weiter nach Osten an die russische Grenze zu erweitern, als nicht akzeptabel an. Die NATO-Mitgliedstaaten pochen auf das Selbstbestimmungsrecht der russischen Nachbarstaaten. Richtig ist, dass das Recht auf »freie Bündniswahl« in zahlreichen internationalen Vereinbarungen ausdrücklich festgehalten ist. Allerdings ist dieses Recht eingebunden in einen Rahmen, der sicherstellen soll, dass die freie Bündniswahl nicht zu einer Eskalation von Konflikten führt.[4]
So heißt es im KSZE-Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit aus dem Jahr 1994, »Sicherheit« sei »unteilbar«: Die KSZE-Staaten dürften »ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen«, sondern müssten »ihre eigenen Sicherheitsinteressen« stets »im Einklang mit den gemeinsamen Bemühungen um die Festigung der Sicherheit und der Stabilität im KSZE-Gebiet und darüber hinaus verfolgen«. (GFP 18.1.2022)
Auf diesem Hintergrund kritisierte kürzlich der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, die Inanspruchnahme international verbürgter Rechte durch die westlichen Mächte. Für Gujer trägt der Westen »Mitschuld« an der gegenwärtigen Eskalation: Der Westen »ignoriere eine zentrale Lehre der europäischen Geschichte, wonach die beste Voraussetzung für Stabilität ein Gleichgewicht der Mächte ist, das von den Beteiligten als fair erachtet wird«. Seit Beginn der 1990er Jahre habe sich auf dem europäischen Kontinent jedoch »ein Ungleichgewicht ausgebildet«: »Das russische Imperium wurde ... weit nach Osten zurückgedrängt.« »Aus russischer Warte ist das kein Gleichgewicht und fair erst recht nicht«, konstatiert Gujer und plädiert dafür, »das russische Mitspracherecht und eine Neutralität der Ukraine zwischen den Machtblöcken [zu] akzeptieren«.[5]
Doch statt rhetorisch abzurüsten, heizt die Regierung der USA die Situation noch auf, indem sie demonstrativ ihre Botschaftspräsenz in Kiew just zu einem Zeitpunkt verringert, in dem die ukrainische Regierung auf der Webseite Ukrainska Prawda eine Studie veröffentlichte, wonach »ein großangelegter Angriff auf die ganze oder Teile der Ukraine in den bevorstehenden Wochen unwahrscheinlich« sei. Die Sicherheitslage habe sich »nicht grundlegend verändert«. Die Bedrohung durch Russland sei bereits seit 2014 konstant, teilte das Außenministerium mit. Russische Truppen nahe der Staatsgrenze seien bereits im April 2021 aufmarschiert.
Doch damit nicht genug: Inmitten einer orchestrierten Hysterie über einen bevorstehenden Krieg kündigen die USA und die NATO an, dass ihre Truppen in Osteuropa aufgestockt und Kiew mit noch mehr Waffen ausgestattet werden sollen. Dazu passt die hartnäckige Forderung der Ukraine, die deutsche Ampel-Regierung solle sich über ihren Koalitionsvertrag, in dem die Lieferung von Waffen in Spannungs- und Kriegsgebiete ausgeschlossen wird, hinwegsetzen. Der »Ernst der Lage« verlange ein »sofortiges Umdenken und eine Kursänderung in der Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine«, forderte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk im Handelsblatt. Die Weigerung, Waffen zu liefern, stelle die internationale Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit Deutschlands »massiv infrage«. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba twitterte: »Die deutschen Partner müssen aufhören, mit solchen Worten und Taten die Geschlossenheit zu untergraben und Wladimir Putin zu ermutigen, einen neuen Angriff auf die Ukraine zu starten.«
Der CDU-Verteidigungspolitiker Johann David Wadephul warf daraufhin der Ampel-Koalition einen »sicherheitspolitischen Blindflug« vor und warnte vor einem deutschen Reputationsverlust in der NATO. »Zu Recht« habe der heutige Vizekanzler Robert Habeck schon vor Monaten eine Debatte über die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine angestoßen. Ein Grund für die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Agnes-Mare Stack-Zimmermann (FDP), einen wesentlichen Punkt des Koalitionsvertrages der Ampel zur Disposition zu stellen, und zwar die Absage an Waffenlieferungen in Spannungs- und Kriegsgebiete. »Angesichts der aktuellen Lage und Betroffenheit unseres Kontinents sollten wir das im konkreten Fall überdenken«, meinte die FDP-Politikerin.
Es gehe in erster Linie um deutsche Kriegsschiffe, die zu den besten der Welt gehören, »die wir für die robuste Verteidigung der langen Küste im Schwarzen und Asowschen Meer dringend brauchen«, präzisierte Melny die Forderungen nach Defensiv-Waffen. Doch nicht nur was Kriegsschiffe anbelangt ist klar, dass es so etwas wie »defensive Waffen« eigentlich überhaupt nicht gibt.
Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München, stellt klar: »Die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen stammt aus früheren Jahrhunderten, wo sie noch Sinn ergeben hat. Mittlerweile lässt sich nahezu jede Waffe defensiv oder offensiv nutzen, das hängt immer von der Art und Weise der Operationsführung ab. […] Die Gefahr ist eben, dass diese Waffen doch für offensive Operationen eingesetzt werden […], was dann sicherlich eine massivere russische Antwort bedeuten würde […] Der Krieg in der Ostukraine würde also nochmals eskalieren.«[6]
Fest steht: Noch mehr Waffen in der Konfliktregion aufzufahren, bringt nicht mehr Sicherheit. Nicht Bedrohung führt aus dieser Konfrontation heraus, sondern Verständigung. Das gilt für alle Konfliktparteien. Gegenseitiger Respekt wäre dafür schon mal ein guter Anfang. Die Menschheitsfragen wie Krieg und Frieden, die ökologische Krise, die weltweite Coronakrise oder globale Armut sind nur in einer globalen Kooperation zu lösen. Eine Voraussetzung dazu ist, Feindbilder ab- statt aufzubauen.
Anmerkungen
[1] Zu den Unterzeichner*innen gehörten u.a. Gerhard Schröder, Roman Herzog, Horst Teltschik, Antje Vollmer, Gabriele Krone-Schmalz, Mario Adorf, Wim Wenders, Christoph Hein, Uli Jörges, Lothar de Maizière und Eugen Ruge.
[2] Die militärischen Potenziale sind dennoch ungleich verteilt. Westeuropa gibt fast viermal mehr für sein Militär aus als Russland. Auf die NATO entfallen rund 55% der weltweiten Militärausgaben, auf Russland ungefähr 3,5%.
[3] Nikolaus Blome: Russisches Säbelrasseln. Wehrpflicht statt Impfpflicht, Spiegel.de 17.1.2022.
[4] Die Neutralität der Ukraine, die den Beitritt zu jeglichen Militärbündnissen ausschließt, ist in den Gründungsurkunden des modernen ukrainischen Staats verankert, der Unabhängigkeitserklärung vom 16. Juli 1990 und der Verfassung vom 28. Juni 1996. Die Ukraine darf also keinem militärischen Block beitreten.
[5] Eric Gujer: Der Westen braucht eine neue Russland-Strategie: Was er im Umgang mit Moskau falsch macht. nzz.ch, 14.1.2022.
[6] Ukraine: »Defensivwaffen«, IMI-Aktuell 2022/031.