23. März 2022 Otto König/Richard Detje: Die Betriebsratswahlen 2022

Mehr Demokratie wagen

Am 1. März starteten in rund 28.000 Betrieben in Deutschland die Betriebsratswahlen. 180.000 Vertreter*innen der Beschäftigten werden gewählt. Bis Ende Mai können die Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben. Die Grundlage dafür bildet in Privatbetrieben das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) in seiner reformierten Fassung von 1972; im öffentlichen Dienst gibt es Personalräte, in kirchlichen Betrieben sogenannte Mitarbeitervertretungen.

Wo ein Betriebsrat ist, kann die Kapitalseite »nicht durchregieren«, so Johanna Wenckebach, Direktorin am Hugo-Sinzheimer-Institut der Hans Böckler Stiftung.[1] Bereits bei der Reform 1972 warten die Arbeitgeberverbände BDA, BDI und Gesamtmetall vor einer »Vergewaltigung« der Eigentümer. Heute fordert BDA-Präsident Rainer Dulger, die Mitbestimmung müsse »entstaubt«, billiger, schneller und »unbürokratischer« werden, sprich die Arbeitnehmerrechte haben sich der Wettbewerbsfähigkeit unterzuordnen.[2]

In nur 9% aller Betriebe, in denen ein Betriebsrat zulässig wäre, gibt es ein gewähltes Gremium – zwei Jahrzehnte zuvor waren es noch 12%. Insgesamt arbeiten in der deutschen Privatwirtschaft rund 42% der Beschäftigten im Westen und 35% im Osten in Betrieben mit Betriebsrat. Laut einer Erhebung des IAB der Bundesagentur für Arbeit hatte 2020 lediglich jeder 22. Kleinbetrieb (bis 50 Beschäftigte) im Westen einen Betriebsrat. Unter den Großbetrieben (mehr als 500 Beschäftigte) beträgt die Quote dagegen 85%.

Zu den Ursachen des Rückgangs der mitbestimmten Betriebe zählt u.a. der Strukturwandel in klassischen Branchen wie der Stahl- und Werftenindustrie, verbunden mit Standortschließungen und dem Abbau von Arbeitsplätzen, aber auch Betriebsaufspaltungen und das Outsourcen von Unternehmensteilen trugen dazu bei. Hinzu kommt, dass Tech-Konzerne als Gewinner der großen wirtschaftlichen Veränderungen häufig sowohl Mitbestimmung als auch Tarifbindung bekämpfen.

Die Hürden bei der Betriebsratswahl sind seit der Verabschiedung des »Betriebsrätemodernisierungsgesetzes« im Juni 2021 etwas niedriger gelegt worden, z.B. durch verkürzte Fristen beim »vereinfachten Wahlverfahren«. Dennoch zeigen aktuelle Fälle von »Union Busting«, sprich der Bekämpfung von Betriebsratsgründungen wie z.B. beim Lieferdienst Gorillas, der online-Bank N26 oder dem Autovermieter Sixt, dass das nach wie vor nicht so einfach ist. Weiterhin stößt die Gründung von Betriebsräten vor allem in mittelständischen Unternehmen und Start-Ups auf Widerstand. Eine Erhebung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2020 liefert Hinweise darauf, dass schätzungsweise jede sechste Betriebsratsneugründung behindert wird.

Die Bandbreite der Behinderungen ist groß: Mal werden Firmen aufgespalten, um eine wirksame Interessenvertretung zu unterbinden. Oder es wird mit Insolvenz und anschließender Neugründung gedroht. Spezialisierte Anwaltskanzleien schüchtern Kandidat*innen ein, betreiben Mobbing und leiten fadenscheinige Kündigungsverfahren ein. Start-ups haben vielfach keinen Betriebsrat, weil das Management der Auffassung ist, »das passt nicht in unsere Kultur, das macht uns langsam«, aber auch weil Beschäftigtengruppen sich aufgrund ihres Spezialwissens in einer starken Verhandlungsposition wähnen und in der Installierung eines Betriebsratsgremiums für sich keinen Vorteil sehen.

Darüber hinaus gibt es Bemühungen, die betriebliche Mitbestimmung zu unterlaufen bzw. das Zugangsrecht der Gewerkschaften zu erschweren, wie in der neuen Tesla-Fabrik des US-amerikanischen Investor Elon Musk in Grünheide bei Berlin. Bei der jüngst stattgefundenen Wahl erreichte die arbeitgebernahe Liste »Gigavoice« die Mehrheit der Sitze. Die Ursache liegt im »Tesla Speed«: Die Firma stellte zuerst das Management und Ingenieure und erst später Beschäftigte in der Produktion ein, die an diesem frühen Termin zu einem großen Teil weder wählen konnten, noch wählbar waren. Denn das BetrVG schreibt vor, dass Arbeitnehmer*innen sechs Monate im Betrieb arbeiten müssen, bevor sie sich zur Wahl stellen können.

Im Vorfeld der diesjährigen Wahlen stellen die DGB-Gewerkschaften zudem eine größere Zahl von Wahllisten fest. Insbesondere in Betrieben der Automobilindustrie gibt es eine wachsende Zahl von Listen mit oppositionellen Gewerkschafter*innen aus den eigenen Reihen der IG Metall. Im VW-Stammwerk in Wolfsburg konkurrieren acht verschiedene Listen, davon sind sieben auch mit IG Metall-Vertretern besetzt.

Oppositionelle, die gegen die offizielle Liste der Gewerkschaft antreten, beklagen meist die fehlende Distanz der Betriebsratsspitze zum Management und fordern »mehr Transparenz«. In Stuttgart-Zuffenhausen können die rund 18.000 Porsche-Beschäftigten aus neun Wahllisten auswählen. Vor vier Jahren waren es nur drei Listen. Im Porsche-Entwicklungszentrum Weissach dominieren unter den 7.000 Angestellten Ingenieure, die nicht unbedingt die Nähe der IG Metall suchen. Wie in den Vorjahren gibt es fünf Listen für die Betriebsratswahl. Auch beim Automobilzulieferer ZF in Friedrichshafen treten im Bereich Nutzfahrzeugtechnik, Industrietechnik und Kundendienst vier Listen, im Bereich Zentralfunktionen, E-Mobilität und Gastronomie fünf Listen an. Im Duisburger Hüttenwerk Krupp-Mannesmann (HKM) hatten sich acht Listen mit insgesamt 264 Kandidat*innen zur Wahl gestellt.

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder führt die Entwicklung bei VW beispielsweise darauf zurück, dass »manche wohl den Eindruck (haben), die IG Metall Mehrheitsrichtung lasse zu wenig Raum für andere Ideen und abweichende Interessen«. Wenn Konkurrenz aufkomme, müsse sich »die IG Metall vermutlich auch einen Eigenanteil anrechnen lassen« (Braunschweiger Zeitung, 9.3.2022).

Am Stammsitz Wolfsburg gelang es der IG Metall dennoch, die mit Abstand meisten Stimmen zu holen. Bei der ersten Abstimmung mit Daniela Cavallo als Betriebsratsvorsitzende betrug der Stimmenanteil der IG Metall-Liste 85,5% – gegenüber 85,9% im Jahr 2018 (bei einem noch um zwei Sitze größeren Betriebsratsgremium). 66 von 73 Mandaten gingen an die IG Metall. Nächststärkste Kraft mit vier Sitzen wurde »Die Andere Liste« mit dem örtlichen Ex-IG-Metall-Bevollmächtigten Frank Patta.

Im Motoren- und künftigen Batteriezellwerk Salzgitter kam die IG Metall auf über 90% der Stimmen, desgleichen in Emden, Kassel und Braunschweig. In Hannover hatte sie zuvor etwas weniger erreicht. In Zwickau ist die IG Metall mit 93% der Stimmen und 35 Mandaten der klare Gewinner. Das »Bündnis freier Betriebsräte«, das von der rechtsextremen Partei »Freie Sachsen« unterstützt wird und zum ersten Mal angetreten ist, erhielt nur zwei der 37 Mandate.

Auch in Ingolstadt bei Audi bleibt die IG Metall mit Abstand stärkste Kraft im Betriebsrat. Dort holte sie 86,65% der Stimmen und damit 50 von 57 Sitzen. Auf die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) entfielen 8,62% (fünf Sitze) und 4,73% (zwei Sitze) wählten die Liste des Freien Unabhängigen Christlichen Betriebsrats (FUCB). Das gleiche gilt bei Audi in Neckarsulm: Mit 86,16% der Stimmen wurde die IG Metall die dominierende Kraft. 3,68% der Beschäftigten wählten die Liste »Köppen, Michael; Eyer, Benjamin«, 3,66% die Liste »EFE (Ehrlichkeit für Euch)«, 3,35% die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) sowie 3,13% die Freien Metaller.

Bei den diesjährigen Betriebsratswahlen versucht das rechte »Zentrum Automobil«, das vor allem in Süddeutschland seit Jahren zur Betriebsratswahl antritt, wiederum Verunsicherung und Spaltung in die Belegschaften zu tragen. Die Gruppierung betrachtet sich als Opposition zu den DGB-Gewerkschaften, insbesondere zur IG Metall. Schlüsselfiguren wie der Mitbegründer Oliver Hilburger haben eine einschlägige Vergangenheit als Rechtsradikale. Bei der Wahl vor vier Jahren konnte das Zentrum insgesamt 21 Mandate an sieben Standorten erringen: Daimler Untertürkheim, Daimler Sindelfingen, Daimler Rastatt, Opel Rüsselsheim, BMW Leipzig, Porsche Leipzig und Stihl in Waiblingen. Ein rechter Flächenbrand in den Betrieben konnte verhindert werden.

Neu sind bei den diesjährigen Wahlen Versuche aus dem Umfeld der »Querdenker-Bewegung«, sich in den Unternehmen festzusetzen. ver.di beobachtet z.B. intensiv, »ob aus der Szene von Impfskeptikern oder anderen Milieus heraus Listenverbindungen entstehen«. Diese Entwicklung treffe vor allem im Bereich der Krankenhäuser und der Altenpflege auf eine »schwierige Situation«. Es gebe rechtspopulistische Bestrebungen, »die Betriebsratswahlen für sich zu nutzen und den organisierten Rechtsextremismus in die Betriebe zu tragen«, konstatiert der DGB-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg Kai Burmeister. Die Expansionsstrategie der Rechtsradikalen sieht er jedoch als gescheitert an.

Dafür sprechen erste Ergebnisse bei den Betriebsratswahlen in der Automobilindustrie. So ist es gelungen, die braunen Gewerkschafter im Daimler-Konzern auf Distanz zu halten. Die IG Metall wurde an den beiden wichtigsten Mercedes-Standorten der Region Stuttgart erneut dominierende Kraft. In Untertürkheim hat sie bei einem Anteil von 75,4% an den gut 11.600 Stimmen 36 von 45 Betriebsratsmandate gewonnen. Damit verliert sie gegenüber 2018 einen Sitz. Die Liste des rechtsgerichteten Zentrums Automobil landete auf Platz zwei: 15,8% bedeuten sieben Sitze, einen mehr als bisher. Die Unabhängigen und die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) gewannen jeweils ein Mandat. In Sindelfingen errang die IG Metall-Fraktion mit 79,8% der Stimmen 48 von 59 Sitze, zwei mehr als vor vier Jahren. Dort landete das Zentrum auf Platz vier und errang mit einem Anteil von 3,9% wie gehabt zwei Mandate. Davor rangieren die »Basis« und die CGM mit je vier Sitzen, dahinter die Unabhängigen mit einem Sitz.

Die Berliner Ampel-Koalition hat sich eine »Weiterentwicklung« der betrieblichen Mitbestimmung vorgenommen. Was das heißt, lässt der Koalitionsvertrag offen. Konkreter wird es nur beim Thema »Behinderung der Betriebsratswahlen«. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das Betriebsverfassungsgesetz so ändern, dass die Justiz bei Verdacht auf Störung oder Behinderung einer Betriebsratswahl von Amts wegen ermitteln kann, ohne dass eine Anzeige vorliegen muss. Aus dem Antragsdelikt würde ein Offizialdelikt.

Bisher kann die Behinderung der Wahl oder der Arbeit von Betriebsräten nach § 119 des Betriebsverfassungsgesetzes nur auf Antrag von Betriebsräten, Gewerkschaften oder seitens des Unternehmens verfolgt werden. Es droht eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe. Allerdings haben die Staatsanwaltschaften und Ordnungsbehörden oft wenig Ahnung von dem Thema. Ein Grund, warum der DGB seit längerem die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften fordert. Schließlich sei die Behinderung von Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit kein Kavaliersdelikt ist, sondern eine Straftat.

Unstrittig ist: Die Kapitalseite kann ohne Betriebsräte auskommen. Nicht so die abhängig Beschäftigten, aus deren Perspektive es gewichtige Gründe gibt, die Strukturen der Mitbestimmung noch zu stärken. Um Themen wie Digitalisierung, Globalisierung und Transformation zu bearbeiten, benötigen sie erweiterte Mitbestimmungsrechte.

»Unsere zentralen Forderungen für das Betriebsverfassungsgesetz und die Unternehmens-mitbestimmung zielen darauf ab, dass Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen die strategische Ausrichtung der Unternehmen und Betriebe mitgestalten können. Dazu gehören auch generelle Mitbestimmungs- und Initiativrechte bei der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, Personalplanung und Beschäftigungssicherung«, so die 2. IG Metall-Vorsitzende Christiane Benner.[3] Wenn der ökologische und digitale Übergang ein sozialer und gerechter werden soll, gelingt das nur mitbestimmt. Wer angesichts der großen Herausforderungen mehr Fortschritt wagen will, muss mehr Mitbestimmung wagen.

 

Anmerkungen

[1] Johanna Wenckebach: Debatte um mehr Mitbestimmung: Fortschritt für wen?, GEGENBLENDE 18.1.2022.
[2] Rainer Dulger: Die Mitbestimmung fährt im Bummelzug, FAZ vom 12.1.2022.
[3] Christiane Benner: Bürger statt Untertan, IPG vom 17.2.2022.

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