31. Januar 2022 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Meuthen, die AfD und die Querdenker*innen

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Der langjährige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen kehrt der Partei den Rücken. Er legte sein Amt nieder und trat aus, weil er »totalitäre Anklänge« erkennt und seine Mission als gescheitert ansieht.

Meuthen gibt sich damit im Richtungsstreit geschlagen. Er hatte zuletzt immer mehr an Einfluss verloren. Der Amtsverzicht und Parteiaustritt kommen nicht überraschend. Der Bundesvorstand der Partei erklärt dazu, er nehme den Parteiaustritt Meuthens »mit Bedauern« zur Kenntnis und bedanke sich bei ihm »für die Weiterentwicklung der AfD als einzige Oppositionspartei in Deutschland«. Alleiniger Parteichef ist jetzt bis zur Neuwahl der Parteispitze der bisherige Co-Vorsitzende Tino Chrupalla.

Den Parteiaustritt wertet Meuthen selbst als Konsequenz einer Niederlage im Machtkampf mit dem als rechtsextrem eingestuften und formal aufgelösten »Flügel«: »Das Herz der Partei schlägt heute sehr weit rechts und es schlägt eigentlich permanent hoch.« Teile der Partei stehen, so Meuthen weiter, »nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung«. Allenfalls als ostdeutsche Regionalpartei sehe er noch eine Zukunft für die AfD.

Der jetzt ausgetretene Frontmann war im Sommer 2015 als einer von zwei Co-Vorsitzenden an die Parteispitze gewählt worden, damals an der Seite von Frauke Petry, die gut zwei Jahre später die Partei verließ. Während das Verhältnis der beiden als angespannt galt, kooperierte Meuthen lange Zeit mit dem späteren Co-Vorsitzenden Alexander Gauland. Nach und nach erlangte er mehr Einfluss und wurde zum in der Partei weithin akzeptierten Funktionär.

Mit den Flügel-Leuten, die er zuletzt bekämpfte, hat Meuthen lange gemeinsame Ziele verfolgt. So besuchte er mehrfach deren Treffen am Kyffhäuser und sprach in der Denkfabrik der Neuen Rechten, dem Institut für Staatspolitik in Schnellroda. Das Verhältnis zwischen Meuthen und Chrupalla, der die völkisch-nationalistische Strömung toleriert, war von Anfang an gespannt.

Schon im Laufe des vergangenen Jahres musste Meuthen, der Abgeordneter im Europaparlament ist, zur Kenntnis nehmen, dass die Unterstützung für ihn in der AfD immer mehr schwindet. In einem Brief an die Parteimitglieder hatte er im Oktober mitgeteilt, dass er auf dem nächsten Parteitag nicht wieder für den Vorsitz kandidieren werde. In den zurückliegenden zwei Jahren hatte sich Meuthen als Verfechter eines gemäßigteren Kurses der AfD eingesetzt und forderte eine Abgrenzung gegenüber den radikaleren Kräften. Er begründete die Notwendigkeit der Distanzierung auch damit, dass die AfD bei weiterer Tolerierung der rechtsradikalen Kräfte Gefahr laufe, vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden.

Auf dem Bundesparteitag der AfD im April 2021 folgte die Mehrheit dem Rechtsaußen der Partei, dem thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke. Der Parteitag sprach sich gegen Meuthens Willen für einen Austritt Deutschlands aus der EU aus. Wichtiger war zudem, dass die Mehrheit sich mit den Querdenker*innen solidarisierte. Ganz im Sinne dieser neuen Protestbewegung wurden Corona-Tests und Impfungen abgelehnt.

In den Monaten vor der Bundestagswahl verlor Meuthen weiter an Einfluss. Um die Spitzenkandidatur seiner innerparteilichen Gegner Chrupalla und Alice Weidel zu verhindern, unterstützte er als Gegenkandidaten die hessische Bundestagsabgeordnete Joana Cotar und den Bundeswehrgeneral a.D. Joachim Wundrak – sie verloren in einem Mitgliederentscheid aber deutlich gegen Chrupalla/Weidel, die nun auch die neue Bundestagsfraktion führen.

Auf dem Bundesparteitag Ende 2020 in Kalkar hatte Meuthen bereits die Hälfte der Delegierten gegen sich aufgebracht und wurde nur knapp wiedergewählt. In einer von Buhrufen unterbrochenen Rede appellierte er an die Mitglieder, nicht »immer aggressiver, immer derber, immer enthemmter aufzutreten«. Als »konservative Rechtsstaatspartei« werde die AfD scheitern, wenn sie weiterhin »Revolution oder Politkasperle« spiele.

Meuthen kritisierte vor allem die strategische Option einer Anlehnung von Teilen der Partei an die Protestbewegung gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. Obgleich er sich selbst gegen das Virus impfen ließ, trat er vehement gegen eine Impfpflicht ein. Aber: Für AfD-Politiker*innen, die von einer »Corona-Diktatur« fabulierten, habe er kein Verständnis, betonte er.

Seine Rede war ein Paukenschlag, ein Wutausbruch, bei dem er sich eindeutig gegen Mitglieder der AfD aussprach, die sich mit den Querdenker*innen gemein machen. Er griff Fraktionskollegen im Bundestag »als pubertierende Schuljungen« an, die zeigen wollten, »was für tolle Kerle« sie sind. Über die Querdenker-Bewegung urteilte er: »Da engagieren sich auch nicht ganz wenige Zeitgenossen, deren skurrile, zum Teil auch offen systemfeindliche Positionen und Ansichten den Verdacht nahelegen, dass bei ihnen tragischerweise noch nicht einmal das Geradeausdenken richtig funktioniert, geschweige denn echtes Querdenken.«

Die »Querdenken«-Bewegung demonstriere gegen die Corona-Maßnahmen, sei gleichwohl heterogen, denn es liefen auch Rechtsextremisten und Verschwörungsgläubige mit. Meuthen spitzte die Richtungsauseinandersetzung zu: Wolle man auf die Straße, zu den Demonstrierenden, da hin, wo die Partei herkomme? Oder wolle man Parlamentspartei sein, sich zumindest sprachlich mäßigen?


Meuthen kritisiert Gaulands Diktatur-Vergleich

Die AfD bleibt seitdem bis in den Bundesvorstand über die Frage zerstritten, wie nah man der »Querdenken«-Bewegung kommen soll. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland hat wenig Berührungsängste. In Cottbus war er mit Höcke auf einer Querdenken-Demo aufgetreten. Im Bundestag hatte er gar von einer »Corona-Diktatur« gesprochen.

Meuthen griff das in seiner Rede an: Er frage sich: »Ist es wirklich klug, von einer Corona-Diktatur zu sprechen?« Der Dissens zu Gauland war deutlich. Auch NS-Vergleiche rund um die Corona-Politik und das verabschiedete Infektionsschutzgesetz kritisierte er. Sein Fraktionskollege, Bernd Baumann, hatte von einer »Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab« gesprochen und damit auf das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten angespielt, mit dem sich der Reichstag 1933 selbst entmachtet und den Weg zur Diktatur unter Hitler ermöglicht hatte. Dergleichen geschichtslose und politisch haltlose Vergleiche tauchen  auch bei »Querdenken«-Demos immer wieder auf.

Nachdem AfD-Abgeordnete vor der Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz Corona-Leugner*innen und rechte Blogger*innen ins Parlament eingeladen hatten und diese Abgeordnete bedrängten, distanzierte sich Meuthen: »Das kann und darf so keinesfalls weitergehen!« Er forderte mehr Disziplin – »vom Parlament bis zum Straßenrand«.

Meuthen wollte die AfD als rechtskonservative Partei neben der christdemokratischen Union aufgestellt sehen. Aufgrund dieser politischen Zielsetzung wurde der Konflikt mit der Rechtsaußen-Strömung um Höcke immer zugespitzter. Zuletzt hatte es für Meuthens Vorschläge im Parteivorstand oft keine Mehrheiten gegeben. So ist beispielsweise im August 2021 sein Versuch gescheitert, den Parteiausschluss des nordrhein-westfälischen AfD-Bundestagskandidaten Matthias Helferich zu beantragen, der sich als menschliches Gesicht des NS-Regimes inszenierte.

Auch die immer wieder durchbrechende Logik der Provokationen als Mittel zur Erzeugung von Aufmerksamkeit lehnte Meuthen ab: So nominierte der AfD-Bundesvorstand den weit rechtsstehenden irrlichternden CDU-Mann, Max Otte, Mitglied der sogenannten Werteunion der CDU, als Kandidaten der AfD für die anstehende Wahl des Bundespräsidenten.

Für die Entscheidung für Otte erhält der AfD-Vorstand deutlichen Beifall von Götz Kubitschek vom rechten Think tank, Institut für Staatspolitik: »Hat die AfD also alles richtig gemacht? Ja, in dreifacher Hinsicht: 1. Die AfD hat ihre medial zugeschriebene Rolle als unberührbarer Buhmann durch diesen Coup unterlaufen. [...] 2. Die AfD hat ihren Wählern an einem konkreten Beispiel gezeigt, daß man keinerlei Hoffnung auf eine Merz-CDU setzen dürfe. Auch unter der Führung eines Mannes, der als Merkels Opfer, als hagerer, großer Grübler und als harter Wirtschaftsmann für viele, auch AfD-nahe Konservative akzeptabel zu sein scheint, wird die CDU keinen halben Schritt auf die AfD zu machen. [...] 3. Wenn Chrupalla und Höcke für den CDU-Mann Otte votierten, Meuthen aber dagegen, wurzelt letzterer in der Luft. Er wird untergraben oder überbrückt, jedenfalls umgangen, ist also überflüssig, wenn es darum geht, das Überraschende zu tun und die Kampfzone zu erweitern. [...] Ottes Nominierung bedeutet auch, daß man den entscheidenden Schritt gemacht hat. Jetzt rutschen andere aus.«[1]

Meuthen hatte sich gegen Ottes Nominierung gewandt, war aber im Vorstand unterlegen. Er halte die Entscheidung, mit der die AfD der CDU einen Streich spielen wolle, »inhaltlich für falsch und strategisch für unklug«. Otte stehe mitnichten in der Mitte der AfD. Schlussfolgerung aus diesen Niederlagen: Der Austritt von Meuthen war überfällig.


Stimmen und Reaktionen zum Austritt: »Gute Entscheidung«

Einer von Meuthens Gegenspielern, der Vize-Parteichef und Thüringer Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner, begrüßt den Parteiaustritt. »Ich finde, es ist eine gute Entscheidung und auch konsequent […] Er hat in den ersten vier Jahren eine super Arbeit gemacht für die Partei, leider hat er später eingerissen, was er da aufgebaut hatte.«

Mit dem Austritt seines bisherigen Co-Chefs Meuthen sieht Chrupalla die Spaltung der Partei überwunden. »Insgesamt, sag ich ganz ehrlich, hat Jörg Meuthen mit dem heutigen Tage die Spaltung der AfD beendet«, sagte er im ZDF. »Das ist wichtig und richtig.« Er werde die Partei jetzt »zusammenführen, zusammenhalten«. »Wir werden sie auf einen erfolgreichen Kurs führen. Wir haben schon einige Austritte verkraftet.« Er sehe das »durchaus positiv«. Angesprochen auf Aussagen Meuthens, wonach er Teile der Partei nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung sieht, erwiderte er: »Das ist natürlich absoluter Quatsch, was er dort erzählt hat.«

Auch Erika Steinbach, die bereits 2017 der CDU vor allem aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung unter Angela Merkel den Rücken gekehrt hatte und nicht vorhatte, »nochmals einer Partei anzugehören«, reagierte und verkündete auf Twitter, dass sie nun der AfD beitreten werde. »Die AfD, mit ihrem zutiefst bürgerlichen Programm, hat durch das Engagement zahlloser Mitglieder einen in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Aufstieg genommen«, begründete sie ihre Entscheidung. Die Partei sei »ein politischer Hoffnungsschimmer in ziemlich verdunkelter Zeit« und kritisierte zugleich Meuthen wegen seines Rück- und Austritts scharf: »Der bewusst zerstörerische Austritt von Jörg Meuthen, der wohlsituiert sein Europamandat behält, ist für viele, die hinter ihm standen, ein Schlag ins Gesicht.« In einem vorherigen Tweet hatte Steinbach Meuthen als »politikunfähig« bezeichnet, der sachlichen Argumenten nicht mehr zugänglich sei.


Die rechtsradikale Partei nun endgültig in der Krise?

Die von Meuthen bei seinem Parteiaustritt vorgetragene These der Gefahr einer Verkümmerung der AfD zur ostdeutschen Regionalpartei ist nicht neu und wenig realistisch. Schon nach der Bundestagswahl hatte er den Wahlkampf und die inhaltliche Ausrichtung der Partei für ihr schlechtes Abschneiden vor allem Im Westen verantwortlich gemacht. Die Warnung vor einer Verzwergung der AfD zur »Lega Ost« bliebt innerparteilich folgenlos.

So hat sich im Gegenteil für die Thüringer AfD ihr konsequenter »sozialpatriotischer Kurs« bewährt: Die CDU, die in ihrer früheren bundesweiten Hochburg in diesem Bundesland zu Zeiten des CDU-Ministerpräsidenten Bernhard Vogel noch mit absoluter Mehrheit regieren konnte, sei bei dieser Bundestagswahl bei dürftigen 16,9% angekommen. Damit habe die Union den zur Landtagswahl 2019 eingeleiteten Sinkflug fortgesetzt. Besonders schmerzhaft dürfte für die CDU sein, so die Einschätzung des Thüringer AfD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Höcke, dass sie auch fast alle Direktmandate verloren hat. Das Agieren der AfD im Landtag habe dafür gesorgt, dass sich die CDU »ehrlich machen musste«. Sie habe sich für die Rolle als Mitläufer des bunten Zeitgeistes entschieden. Vielen heimatliebenden Thüringer*innen, so Höcke weiter, seien hier durch die AfD die Augen geöffnet worden.

Die AfD hat die Union als erfolgreichste bürgerliche Kraft in Thüringen abgelöst. Im Osten wurde überwiegend die Argumentation »bespielt«, die AfD sei die einzige »patriotische Alternative« zum Kartell der Altparteien, nicht das »bürgerliches Korrektiv« einiger falscher Merkel-Weichenstellungen. Und diese »patriotische Alternative« gelte es nun, so Höcke, in der AfD insgesamt durchzusetzen: »Mir scheint, als stehe uns eine innere Reform bevor. Sie wird, wenn sie notwendig werden sollte, vor allem zweierlei zeigen: Die AfD ist erstens nicht ›radikal‹ — das sind Zuschreibungen unserer Gegner. ›Deutschland. Aber normal.‹, das ist unser Ziel, und unsere Wähler wissen das längst. Zweitens: Es gibt keine ›gemäßigte‹ Alternative zur Alternative. ›Mäßigung‹ würde bedeuten, dass wir unseren Anspruch aufgeben, Politik für unser Volk, unser Vaterland und unsere Kinder zu machen.«

Auch das bundespolitische Spitzenduo Weidel und Chrupalla wollte sich das Ergebnis seines Wahlkampfes nicht schlechtreden lassen. Die Partei habe sich mit dem Ergebnis von 10,3% endgültig etabliert, selbst wenn man aufgrund des schlechteren Abschneidens gegenüber 2017 nicht »einhundertprozentig zufrieden« sein könne, so Chrupalla.

Unbestritten hat die AfD in Ostdeutschland starke Ergebnisse bei der Bundestagswahl eingefahren. Gleichwohl wäre es falsch, den gesamten Osten als eine einzige AfD-Hochburg zu beschreiben. »Den« Osten gibt es nicht. Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sind klar SPD-dominiert. In Sachsen-Anhalt ist das Bild gemischt, wobei hervorzuheben ist, dass selbst das schlechteste Ost-Ergebnis der AfD (18% in Mecklenburg-Vorpommern) das beste Westergebnis (10% im Saarland) um fast das Doppelte übertrifft.


Die AfD und Querdenker*innen

Entscheidender für die weitere Perspektive der AfD ist das Milieu und die Protestbewegung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung. Die Querdenker*innen-Bewegung ist in den letzten Monaten erheblich angewachsen, die Zahl der Teilnehmer*innen auf Corona-Demos steigt deutlich. Auch wenn die Pandemie im Laufe des Jahres in eine endemische Phase übergehen sollte, wird sich die Bewegung gegen die repressive Biopolitik nicht schnell verflüchtigen. Der AfD ist hier ein gesellschaftlicher Nährboden zugewachsen, den sie weiter bearbeiten wird.

Auf den Veranstaltungen vermischen sich immer wieder Impfgegner*innen, Verschwörungstheoretiker*innen und Neonazis, um gemeinsam gegen die Corona-Regeln vorzugehen. Die AfD gilt mittlerweile den anderen Parteien als treibende Kraft bei der Radikalisierung von Querdenker*innen. Sie ist omnipräsent auf Anti-Corona-Demos und wettert ungeniert gegen die Bundesregierung. Wichtig ist allerdings: Die Ursache für diese Bewegung liegt in der Pandemie und den Schwächen der gouvernementalen Auseinandersetzung durch die überlieferten Parteien.

Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung[2] zeigt die Querdenken-Bewegung große Unterschiede, je nach Bundesland, in dem demonstriert wird. So rekrutieren sich die Demonstrant*innen in Ostdeutschland in deutlich höherer Zahl aus AfD-Wähler*innen als in Baden-Württemberg. Dort ist das Querdenken-Klientel eher geprägt durch ehemalige Grünen- und LINKE-Wähler*innen, besonders präsent sind Esoteriker*innen und Anhänger*innen einer anthroposophischen Weltsicht.

Die Annahme, es handle sich um Demonstrierende aus dem (ehemaligen) linksalternativen Milieu, ist der Studie nach jedoch falsch. So hätten die Weltanschauungen mit linken Politikformen und linken Werten wie Solidarität und Gleichheit »im Grunde nichts mehr zu tun«. Die Autor*innen der Studie haben ermittelt, dass die Protestierenden ein tiefes und großes Misstrauen gegenüber der parlamentarischen Politik und den Parteien, aber auch anderen öffentlichen Institutionen wie den Medien gegenüber ausgebildet haben. Insgesamt kann die Dynamik so beschrieben werden, dass die Bewegung mit ihren Ansichten ursprünglich teilweise links geprägt war, sich jedoch immer weiter nach rechts bewegt.

Die Querdenken-Gründer*innen haben sich bei der Etablierung ihrer Organisation nicht nur Inspiration von vorangegangenen Protestformen geholt, wie die Studie zeigt. Die Demonstrations-Teilnehmenden sind auch geprägt von der Entstehungsgeschichte der Grünen. Als Protestpartei hat diese zu Anfang die Kernelemente der alternativen und anthroposophischen Milieus angesprochen, gegen das Establishment zu sein und nach außen hin staatskritisch zu wirken. Durch ihr Bemühen, Regierungsverantwortung zu übernehmen, haben sich die Grünen stark verändert, sich von ihrer ursprünglichen Ausrichtung gelöst und sind heute deutlich in den staatlichen Sektor eingeschlossen. Somit sind sie keine »Anti-Parteien-Partei« mehr und auch kein entsprechender Anlaufpartner für Menschen, die genau das politisch wollen.

Anhänger*innen der Querdenken-Bewegung tendierten eher dazu – so die These –, sich bei der Wahl zu enthalten, die von Querdenken selbst gegründete Partei »die Basis« zu wählen oder zu der AfD überzulaufen. Tatsächlich beobachten Autor*innen der Studie, dass sich die AfD strategisch auf die Proteste bezogen hat, um die alternativen und anthroposophischen Milieus als Wähler*innen zu gewinnen. Durch ihr Auftreten symbolisieren sie ein Sprachrohr gegen die Corona-Maßnahmen und können damit besonders in Ostdeutschland an eine teilweise starke Entfremdung von staatlichen Institutionen anknüpfen.

Angesichts des Erfolgs im Osten hat die AfD reichlich Stoff zur Überprüfung und Weiterentwicklung ihrer politischen Strategie. Der Macht- und Richtungskampf innerhalb der AfD ist mit dem Austritt von Meuthen noch nicht abgeschlossen, wenngleich die Kräfteverhältnisse sich deutlich in Richtung nationalistisch-völkischer Ausrichtung verschoben haben. Sicherlich ist davon auszugehen, dass die gestärkten Ostverbände um den »Flügel« ihren Einfluss auch bei der strategischen Ausrichtung noch stärker geltend machen. Und die demokratischen Parteien stehen weiterhin vor der Herausforderung, in Ostdeutschland eine deutliche Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse einzuleiten. Die in der Pandemie sichtbar gewordene und teils verstärkte Entfremdung von der gouvernementalen Praxis und den Institutionen bieten rechten Parteien weiterhin Chancen der politischen Verankerung.


Politisch-gesellschaftlicher innerdeutscher Graben

Der tiefe wirtschaftlich-politische Graben zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern wird sich nicht von selbst verflüchtigen. Die AfD hat in Ostdeutschland 16 Direktmandate gewonnen und ist dort mit 19,1% nach der SPD zweitstärkste politische Kraft, während sie in den westdeutschen Bundesländern überall unter 10% geblieben ist. Die Ergebnisse der Bundestagswahl haben einen politisch-gesellschaftlichen Graben wieder sichtbar gemacht. 60 Jahre nach dem Bau und 32 Jahre nach dem Fall der Mauer fallen die beiden Landesteile auch politisch deutlich auseinander.

Die spezifische Benachteiligung großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung ist keineswegs ein demografisches Problem. Wegen der flächendeckenden Verbreitung von Mindestlohneinkommen, niedrigen Renten, aber auch großen Vermögensunterschieden fühlen sich ein Großteil der Ostdeutschen als Bürger*innen zweiter Klasse. Zunächst wurde diese strukturelle Benachteiligung von der politischen Linken thematisiert, in jüngster Zeit wird dieses Gefühl von der AfD erfolgreich aufgegriffen.

Bei der Bundestagswahl 2021 musste vor allem die CDU im Osten massive Verluste verarbeiten. Bundesweit sackten CDU/CSU im Vergleich zu 2017 um 8,8 Punkte ab auf 24,1% – in Ostdeutschland waren es 10,5 Punkte und im Durchschnitt der Ostländer stand die bürgerliche Partei bei 16,9%. In den ostdeutschen Bundesländern konnte sich hingegen die SPD hingegen deutlich erholen. Besonders groß war der CDU-Schock in Thüringen und Sachsen, wo die AfD auf Platz eins kam. In Sachsen jagten die Rechtspopulisten der Union 13 Direktmandate ab. Im Osten ist der Einbruch derart massiv und flächendeckend, dass nur ein Schluss möglich ist: Die Menschen in der ehemaligen DDR haben sich teilweise von der CDU abgewandt.

Auch unionsinterne Strategien im Vorfeld der Bundestagswahl zur Einhegung der AfD haben daran nichts ändern können. So hat der damalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), bundesweite Aufmerksamkeit durch seine Erklärung erhalten, weshalb die AfD in Ostdeutschland so nationalistisch-völkisch und dennoch sehr erfolgreich agiere: ein gewichtiger Teil der Bevölkerung dort habe »gefestigte, nicht demokratische Ansichten«, sei »teilweise in einer Form diktatursozialisiert, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind«. Nur ein geringer Teil der AfD-Wähler*innen sei »potenziell rückholbar«. »Wer eine rechtsradikale Partei wählt, ist für mich kein Demokrat – das macht ein anständiger Demokrat nicht – gerade nicht in Deutschland.« Dies ist selbst eine verschwörungstheoretische, mystische Erzählung.

Allerdings bleibt das Faktum, dass sowohl die bisherige ökonomische als auch die bevorstehende ökologische Transformation insbesondere für Ostdeutschland mit verschärfter sozialer Ungleichheit verknüpft war und sein wird, die politisch bearbeitet sein will. Anders als etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer will Wanderwitz nicht mehr mit allen reden: »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht bei diesem ständigen Hinterherlaufen dieser lauten, lärmenden, rechtsradikal wählenden Minderheit vergessen, Politik für die zu machen, die die Mehrheit sind und die mit uns gemeinsam am guten Zukunftskonzept dieses Landes weiterbauen wollen.« Deshalb haben weder Vermittlungsversuche noch Verständnis funktioniert.

Tatsache bleibt: In Sachsen hat die CDU alle ihre zehn Direktmandate an die rechte Partei verloren. Mit Ausnahme der größeren Städte färbte sich die Landkarte AfD-Blau. Sie ist mit 24,6% stärkste Partei, mit 17,2% landete die CDU nur noch auf Platz drei, noch hinter der SPD (19,3%). Die AfD gewinnt in Ostdeutschland etliche Direktmandate und ist auch in Thüringen stärkste Kraft, in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern landete sie auf Platz zwei. Im Schnitt wählen im Osten prozentual mehr als doppelt so viele Menschen die AfD wie im Westen.

Der AfD-Landesverband Thüringen unter der Führung von Björn Höcke ist die Hochburg des völkisch-nationalistischen Flügels, der nicht bereit ist, sich um eine eventuelle Ausweitung in Richtung unzufriedener konservativer Wähler*innen von den bisherigen Überzeugungen zu trennen oder Kompromisse zu machen. Nach dem Parteiaustritt von Meuthen hat diese Parteiströmung jetzt weitere Expansionschancen.

Stefan Möller, ebenso wie Höcke Landessprecher, sieht den Kurs seines Landesverbands durch das starke Ergebnis im parteiinternen Streit bestätigt. Die AfD solle nicht versuchen, sich an Milieus anzubiedern, die für sie nicht erreichbar seien. Die AfD müsse sich auf die Menschen konzentrieren, die um ihren Platz in der Gesellschaft kämpften. »Mit einem dezidiert wirtschaftsliberalen Kurs geht das nicht.« Es brauche eine starke sozialpatriotische Ausrichtung, z.B. eine deutliche Erhöhung der Renten »für Deutsche«.

Sollte die strategische Option der Annährung an die Querdenkerbewegung erfolgreich sein, kann die AfD als systemkritische Rechtspartei weiterhin ihr Unruhepotenzial in der politischen Arena der Berliner Republik entfalten. Sie wird weiterhin ein »wirrer Haufen« bleiben.

Anmerkungen

[1] Götz Kubitschek, Max Otte, die AfD und die Rutschpartie der CDU, Sezession 26. Janaur 2022.
[2] Nadine Frei, Oliver Nachtwey, unter Mitarbeit von Verena Hartleitner, Matthias Zaugg, Iljana Schubert und Annika Sohre, Quellen des »Querdenkertums«. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg, Studie im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg, Dezember 2021.

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