12. August 2014 Uli Cremer: Aufklärung ist dringend gefordert

MH17: Kiew in Erklärungsnot

Muss man sich drei Wochen nach dem Abschuss der MH17 über der Ostukraine noch mit den Einzelheiten befassen und fragen, wie was am 17. Juli 2014 genau geschah? Muss man noch die letzten Opfer bergen und die Wrackteile untersuchen? Man muss – gerade angesichts vieler Informationen, die die westliche Darstellung und Interpretation der Ereignisse erschüttern und die ukrainische Zentralregierung bzw. das ukrainische Militär und auch die mit Kiew verbündeten westlichen Regierungen in Erklärungsnot bringen.


Die ukrainische Darstellung

Die Kiewer Erzählung des MH17-Abschusses basiert auf dem unbestreitbaren Tatbestand, dass nur die Separatisten vor dem 17.Juli irgendwelche Flugzeuge über der Ostukraine abgeschossen haben, natürlich allesamt Militärflugzeuge bzw. -hubschrauber. Den umgekehrten Fall gab es nicht, da die Separatisten über keine eigene Luftwaffe verfügen.

Insofern klingt die Behauptung plausibel, das malaysische Zivilflugzeug sei mit einem ukrainischen (militärisch genutzten) Transportflugzeug verwechselt worden und insofern »aus Versehen« abgeschossen worden. Aber wie genau? Denn bisher waren alle abgeschossenen Militärflugzeuge in niedrigerer Höhe geflogen. Eine Maschine in 10.000 Meter Flughöhe abzuschießen, bedarf anderer qualitativ hochwertigerer Militärtechnik.

Dazu in der Lage wäre das Raketenwaffensystem BUK, das sowohl Russland als auch die Ukraine im Arsenal haben. Die im Juni berichtete Erbeutung eines entsprechenden Systems durch die Separatisten wird von Kiew bestritten: Der ukrainische Generalstaatsanwalt Witali Jarema hat am 18.7.14 (also nach dem Abschuss) klar gestellt, die Aufständischen verfügten über kein einsatzfähiges solches System (siehe »Das Ende eines Fluges«, FAZ vom 19.7.2014).

Wie kommt dann solch ein System in die Hände der Separatisten? Ganz einfach: die russischen Streitkräfte hätten es zur Verfügung gestellt. Und danach geschwind wieder über die Grenze zurück nach Russland transportiert. Ein entsprechendes Video wurde offenbar vom ukrainischen Geheimdienst fabriziert und vom Innenminister veröffentlicht. Allerdings verweist die russische Seite darauf, dass die Aufnahme nicht im Grenzgebiet gemacht wurde, sondern sie »wurde in Wirklichkeit auf dem von Kiew kontrollierten Territorium aufgezeichnet«. So der russische UN-Botschafter Tschurkin vor dem UN-Sicherheitsrat. Es wäre also ein ukrainisches BUK-System abgelichtet und als russisches ausgegeben worden.

Hätte Kiew Recht, so stellte sich zunächst die Frage, wer das hoch komplexe System konkret bedient haben soll. Verfügen die Separatisten über entsprechend geschultes Personal? Die Logik wäre hier: Jein; das Personal hätte das System nicht voll beherrscht und insofern ja aus Versehen die MH17 erwischt, die es mit einem militärischen Transportflugzeug verwechselt hätte.

Bei Spiegel Online schloss der Chefberater für Luftverteidigungssysteme beim europäischen Rüstungskonzern MBDA ein Versehen jedoch ausdrücklich aus: »Die Abwehrstellung kann zivile Flugzeuge normalerweise mit Hilfe der so genannten Freund-Feind-Erkennung, auch bekannt als IFF (Identification Friend or Foe), erkennen. ›Jedes zivile Linienflugzeug hat einen IFF-Transponder‹, sagt Karl-Josef Dahlem, Chefberater für Luftverteidigungssysteme beim europäischen Rüstungskonzern MBDA. […] Selbst ohne IFF-Antwort hätte es für die BUK-Mannschaft deutliche Anzeichen gegeben, dass es sich um eine zivile Maschine handelte. […] Ein Unfall durch einen Bedienungsfehler sei deshalb unwahrscheinlich, meint Dahlem. ›Auch wenn es sich um einen Irrtum handelte: Der Verlauf war bis zum Einschlag so gewollt.‹«

Professionellem russischen Personal hätte der Fehler also nicht unterlaufen können. Oder der Abschuss wäre mit Absicht geschehen, z.B. um die Tat anschließend der Kiewer Regierung in die Schuhe zu schieben. Ob die Russen ihre PR-Chancen in der internationalen Öffentlichkeit tatsächlich so optimistisch einschätzen, sei einmal dahin gestellt.

Insofern ist der letzte Schrei aus den Kiewer Propagandastuben (konkret von Valentyn Nalyvaychenko, dem Chef des Geheimdienstes SBU) die Verschwörungstheorie, eigentlich hätten die Russen ein eigenes Zivilflugzeug, eine Aeroflot-Maschine, abschießen wollen. Aber es sei eben zu dieser Verwechselung gekommen, weswegen das unfähige Personal nun hätte gehen müssen.

Populärer Bestandteil der Kiewer bzw. westlichen »Indizienkette« sind (später gelöschte) Facebook-Einträge und Telefonmitschnitte des ukrainischen Geheimdienstes, in dem Separatisten sich quasi zu dem Abschuss bekennen. Der russische UN-Botschafter Tschurkin bemerkt dazu: »Der bekannt gewordene Mitschnitt von Funkgesprächen zwischen Volkswehr-Kommandeuren wurde, wie es sich herausstellte, aus mehreren Gesprächen zusammengebastelt, von denen einige vor dem Vorfall am 17. Juli stattgefunden hatten«. Dass der ukrainische Geheimdienst, der mit den Profis der US-Geheimdienste zusammenarbeitet, so etwas zusammenfingern kann, muss man zumindest in Betracht ziehen. Insofern ist hier Vorsicht angebracht, zumal die Basistheorie, die MH17 sei von einer Boden-Luft-Rakete des Systems BUK getroffen worden, immer zweifelhafter wird. Doch dazu weiter unten mehr.


Die russische Darstellung

Auch die russische Seite hält den Abschuss durch ein BUK-Raketensystem für hochwahrscheinlich. Allerdings beschuldigt das russische Verteidigungsministerium die ukrainische Seite: »›Russische funktechnische Mittel haben am 17. Juli den Betrieb der Radarstation Kupol registriert‹ ... Diese Radarstation gehöre zur ukrainischen Batterie der Fla-Raketensysteme BUK-M1, die im Raum Styla, 30 km südlich von Donezk stationiert sei. ›Die technischen Eigenschaften von BUK-M1 ermöglichen einen Datenaustausch zwischen mehreren Batterien über Luftziele. Deshalb hätte die Rakete von jeder der Batterien abgefeuert werden können, die in Awdejewka (acht km nördlich von Donezk) oder Grussko-Sorjanskoje (25 km östlich von Donezk) stationiert sind‹, so das Verteidigungsministerium Russlands.«

Nach der zugrundeliegenden Theorie hätte Kiew das Zivilflugzeug mit Absicht abgeschossen, um die Tat dann den Separatisten anzuhängen. Das wäre dann zumindest gelungen. Auch ein versehentlicher Abschuss durch die ukrainischen BUK-Batterien ist nicht so abwegig, wie manche denken mögen: im Jahre 2001 wurde bei einer Militärübung ein russischen Passagierflugzeug durch eine ukrainische Rakete abgeschossen; damals starben 78 Menschen.

Aber die russische Seite zieht auch eine zweite Möglichkeit in Betracht: Die MH17 könnte durch einen ukrainischen Kampfjet des Typs Suchoi-25 oder 27 abgeschossen worden sein. Entsprechende Flugbewegungen hatte Russland registriert. Der Jet sei »›drei bis fünf Kilometer‹ von der Boeing entfernt gewesen«. Die entsprechenden Beweisstücke wurden den internationalen Ermittlern zur Verfügung gestellt. Kartopolow, ein Mitglied des russischen Generalstabs, sagte, »mit Luft-Luft-Raketen könne es solches Kampfflugzeug ein Ziel auf diese Entfernung gewiss zerstören.«

Von der Ukraine wurde Aufklärung verlangt. Kiew erklärte jedoch, am fraglichen Tage »seien in der Gegend keine ukrainischen Kampfflugzeuge in der Luft gewesen« (»Moskau: Ukrainisches Kampfflugzeug am Abschussort«, in: FAZ 22.7.2014). Das ist wenig glaubwürdig, weil die ukrainische Luftwaffe sowohl an den Tagen zuvor als auch an den Tagen danach ihrer Kampftätigkeit gegen die Separatisten nachging und in dem Zusammenhang bekanntlich auch zivile Ziele in der Ostukraine bombardierte.


Abschuss durch Kampfjet oder BUK-Raketenabwehrsystem?

Der westlich-ukrainische wie auch die russische BUK-Theorie scheinen jedoch nicht in Einklang mit den Naturwissenschaften zu stehen. Folgt man Oberst a.D. Bernd Biedermann, der früher an der NVA-Militärakademie in der Fachrichtung Flugabwehr-Raketentruppen unterrichtete, und 1990 als Oberst in die Bundeswehr übernommen wurde, ist es »eine gesicherte Erfahrung, dass Flugzeuge, die sich in Höhen unter 20 000 Metern bewegen, sofort in Brand geraten, wenn sie von den Splittern einer Flugabwehrrakete getroffen werden... Wenn ein Splitter mit dieser Energie die Konstruktion eines Flugzeugs durchschlägt, entfacht die dabei entstehende Reibungshitze alle brennbaren Materialien wie Treibstoff, Anstrich- und Kunststoffe, ja sogar Leichtmetalle. Die Verzögerung zwischen dem Treffer und dem Brand liegt im Bereich von wenigen Sekunden.«

Wäre also das malaysische Flugzeug »von einer Fla-Rakete getroffen worden, hätte es sofort Feuer gefangen.« Jedoch: »Auf den Videoaufnahmen vom Absturz war zu erkennen, dass große Wrackteile der Boeing 777 vom Himmel fielen und erst nach dem Aufschlag auf dem Boden vereinzelte Brände ausbrachen, offensichtlich dort, wo heiße Flugzeugteile mit brennbaren Materialien in Berührung gekommen waren.«

Auch verschiedene andere Befunde passen nicht zur BUK-Theorie. So stammt von Michael Bociurkiw, dem Sprecher der OSZE-Sondermission in der Ukraine, folgender Hinweis (CBC-Interview vom 29.7.2014): »Zwei oder drei Teile des Flugzeugrumpfes, die pockennarbig durchlöchert sind, es sieht fast so aus wie Maschinengewehrfeuer. Sehr, sehr schwerer Maschinengewehrbeschuss, was diese eindeutigen Spuren hinterlassen hat, die wir nirgendwo anders gesehen haben.« (Quelle: Hans Springstein, der Freitag 31.7.2014)

Da nicht zuletzt viele Journalisten auf der Absturzstelle herumtrampelten, entstanden zahlreiche Bilder von den Wrackteilen, die sich über das Internet schnell verbreiteten. Diese hat sich Peter Haisenko angeschaut, der 30 Jahre als Copilot und Flugkapitän im weltweiten Einsatz tätig war. Ihm fiel auf: »Das Cockpit zeigt Spuren von Beschuss. Man kann Ein- und Austrittslöcher sehen... Das Cockpit der MH 017 ist von zwei Seiten beschossen worden: Ein- und Austrittslöcher auf derselben Seite... Weiterhin zeigt ein Flügelsegment Spuren eines Streifschusses, der in Verlängerung direkt zum Cockpit führt.«

Und weiter: »Bei Sichtung der verfügbaren Bilder fällt eines auf: Alle Wrackteile der Sektionen hinter dem Cockpit sind weitgehend unversehrt, wenn man davon absieht, dass es sich um Fragmente eines Ganzen handelt. Nur der Cockpit-Teil ist wüst zerstört. Daraus lässt sich bereits eines schließen: Dieses Flugzeug wurde nicht von einer Rakete in der Mitte getroffen. Die Zerstörung beschränkt sich auf den Cockpit-Bereich.«

Also kein BUK-Raketensystem – aber wie dann? Die malaysische Zeitung New Straits Times berichtet am 6.8.2014, dass seitens der Ermittler mittlerweile geprüft werde, ob »Malaysian Airlines Flug MH17 von einer Luft-Luft-Rakete flugunfähig gemacht und von Maschinengewehrfeuer eines Kampfflugzeuges erledigt wurde, das die Maschine beschattete«. (Übersetzung Hans Springstein) Die Zeitung verweist auf US-Intelligence-Analysts, die glauben, »dass die ukrainische Regierung damit etwas zu tun hat«.

Denn mit der Luft-Luft-Rakete und dem Maschinengewehrbeschuss kommt der von Russland gesichtete ukrainische Kampfjet des Typs Suchoi-25 wieder ins Spiel. Dieser hat eine Dienstgipfelhöhe von 14.600 Meter und ist mit entsprechenden Waffen bestückt. (Siehe die bereits erwähnten Beobachtungen von Peter Haisenko)

Handelte es sich um eine modernere Suchoi-27 (auch dieser Typ wird verschiedentlich genannt) so beträgt die Dienstgipfelhöhe sogar 18.000 Meter. Auch dieses Flugzeug verfügt über entsprechende Bewaffnung und ist ebenfalls im ukrainischen Arsenal vertreten. (Siehe dazu FAZ vom 27.7.2002)

Dass noch Einiges zu klären wäre, belegt auch ein Video seitens der britischen BBC vom 25.7.2014., »in dem Anwohner der Absturzstelle berichten, dass sie zwei Kampfflugzeuge bei der malaysischen Boeing gesehen haben.« (Hans Springstein am 31.7.2014)]


Kiewer Regierung in Erklärungsnot

Offenbar ist die Kiewer Regierung in Erklärungsnot. Vor diesem Hintergrund wendet sich der Vorwurf Kiews an die Separatisten, diese würden in der Abschussregion die Bergung und die Sicherung von Beweismaterial torpedieren, gegen Kiew selbst. Denn niemand anders hat in der fraglichen Gegend eine Militäroffensive begonnen und damit das eigene Wort, in 40 km Umkreis einen Waffenstillstand einzuhalten, gebrochen.

Kurzzeitig gelangten durch Druck des niederländischen Ministerpräsidenten zwar wieder internationale Ermittler auf das Gelände. Doch inzwischen wird erneut gekämpft. Wie sollen so Wrackteile gesichert werden, um den Abschuss aufklären zu können? Während Moskau sein Beweismaterial den internationalen Ermittlern zur Verfügung gestellt hat, verweigert Kiew bisher die Herausgabe der Aufzeichnungen der Flugkontrolle vom Absturztag und unterstützt die Aufklärung nicht.

Das Verhalten Kiews ist zumindest höchst zynisch nach dem medialen Sieg in der Propagandaschlacht um den Absturz, der mit neuen westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland gekrönt wurde. Genauso wie das Verhalten der US-Regierung, die es ebenfalls nicht für nötig hält, die eigenen Radar- und Satellitendaten des Absturztages offenzulegen. So ist die Poroschenko-Regierung zwar in Erklärungsnot, aber nicht allein.

Vielleicht sollten die westlichen Schutzmächte der Kiewer Regierung sich weniger dem Wirtschaftskrieg gegen Russland widmen und stattdessen einmal Druck auf Kiew ausüben. Jedenfalls sofern sie einen Beitrag zur Aufklärung des MH17-Abschusses leisten wollen.

Uli Cremer ist einer der Initiatoren der »Grünen Friedensinitiative« und Autor des Buches Neue NATO – die ersten Kriege (VSA: Verlag Hamburg 2009).

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