9. September 2024 Bernhard Sander: Macron hat einen Ex-Gaullisten zum Ministerpräsidenten ernannt

Michel Barnier oder das Chaos?

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat im dreigeteilten Parlament noch keine belastbare Mehrheit gefunden. Seine Versuche, mit einer verselbständigten Exekutive einen Austeritäts-Haushalt für 2025 durchzusetzen und die Sozialdemokraten zu zerlegen, fand in den besitzenden Klassen keinen Anklang.

Hier hält man daran fest, mit den bewährten parlamentarischen Mechanismen halbwegs einen Konsens in den eigenen Reihen organisieren zu können. Um auf diese Weise mitgestalten zu können, akzeptiert man die Verbreiterung der eigenen politischen Basis durch Zugeständnisse an die sozial-nationalistische Fraktion des Rassemblement National (RN) unter der Leitung von Marine Le Pen.

Grund für die neuerliche Rechtskehre war, symbolisiert durch die Präsidentschaftskandidatur von Macrons erstem Premierminister Edouard Philippe, die Sorge um den Staatshaushalt und Gedankenspiele über Steuererhöhungen sowohl bei der Rechten als auch in der Sozialdemokratie. »Die scheidende Regierung hat ein Defizit von 154 Mrd. Euro hinterlassen, das heißt 5,5% des Bruttoinlandsprodukts statt der angekündigten 4,9%. […] Wir sind am Rande des Abgrunds. […] Wenn die politische Instabilität andauert oder die kommende Regierung weitere Maßnahmen ergreift, die unseren Verpflichtungen widersprechen, dann riskieren wir den Super-GAU«, begründet Philippe seine Bereitschaft zur Kandidatur, die auch ein Szenario des Rücktritts von Macron einschließt. In diesen politischen Kreisen war der europäische Corona-Recovery-Fonds von 750 Mrd. Euro als Sündenfall angefeindet worden. Diese Häresie dürfe sich – so die Auslegung des EU-Wahlergebnisses – nicht wiederholen.

Nicht nur Frankreich steht vor immensen finanziellen Herausforderungen: Die immer neuen Forderungen zur militärischen und zivilen Unterstützung der Ukraine werden, da kein politisches oder militärisches Ende absehbar, ebenso zur Etat-Belastung beitragen wie die Herausforderungen einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur (bei schwindenden Kräften der USA und Herausforderungen gegenüber der VR China). Die steigenden Kosten für Energie und Rohstoffe im Kampf um strategische Autarkie und Hegemonie, die Kosten von Klimakatastrophen immer größerer Reichweite, das sich ausbreitende Gefühl des Staatsversagens vor allem im Gesundheitswesen und in der demografischen Entwicklung sowie die erwartbaren Kosten zur Bewältigung der nächsten Volksemeuten – all das läuft den eingegangenen »Verpflichtungen« zuwider.

Die Ressourcen der Pariser Republik reichen dafür bei weitem nicht, was nicht nur das Wahlvolk ahnt. Europäischer Stabilitätspakt, Schuldenbremse, Verweigerung steuerlicher Umverteilung stehen aber zurzeit in der politischen Theologie des Bürgertums vorne unter den zehn Geboten. Im Volke wiederum grassiert die Sorge vor unbeherrschbar sich beschleunigenden Neuerungen in den Produktionstechnologien (Digitalisierung, Dekarbonisierung, Lebensgewohnheiten).

Die Angst vor Kontrollverlusten im Lebensalltag steigert sich bei zufälligen Anlässen bis hin zur Erwartung eines Armageddon. Antworten scheint darauf nur RN zu haben mit der unterkomplexen Ausschließung von allen, die anders sind. Die Neue Volksfront Frankreichs (NFP) ist ein verzweifelter Notbehelf einer zwischen 1989 und 2017 ideologisch zertrümmerten Linken. Sie kommt über die Differenzen nur fallweise hinweg, wie der Nominierungsmarathon für das Ministerpräsidentenamt zeigte.

RN-Fraktionsvorsitzende Marine le Pen hatte Macron bereits angekündigt, dass sie mit ihrem eigenen oder der Unterstützung eines Parlaments-Vetos anderer Fraktionen jeden Ministerpräsidenten zu Fall bringen wird, der ihr nicht passen würde. So hatte sie in den Sondierungsgesprächen Macron die Nominierung des Republikaners Xavier Betrand (Fraktion La Droite) und des Rechtssozialdemokraten Bernard Cazeneuve abgeschlagen.

Die Wählerschaft hatte im zweiten Wahlgang überraschend deutlich die extreme Rechte zurückgewiesen, was aber Macron nicht anficht. Der jetzt von der Macronie berufene Ministerpräsident Michel Barnier (gaullistischer Minister mehrerer Ressorts, Befürworter des neoliberalen EU-Verfassungsvertrages von 2005, EU-Kommissar und Wahrer europäischer Interessen in den Brexit-Verhandlungen) bietet ihr eine Gewähr für das Wohlverhalten des RN und Le Pens, insofern er als Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur in die Vorwahl der Republikaner mit einem dezidiert rechten Programm gegangen war: Frankreich werde die Aufnahme von Asylbewerber*innen für drei bis fünf Jahre aussetzen, Familienzusammenführungen verhindern und Aufenthaltsberechtigungen für ausländische Student*innen halbieren.

Le Pen wird mit Barnier ihr Programm der »Nationalen Präferenz« bei sozialstaatlichen Leistungen (»Franzosen zuerst!«), Grenzschließung gegen Migrant*innen usw. eher durchsetzen können, und dafür ihre »linken« Tagesforderungen (Herabsetzung des Rentenalters, Erhöhung des Mindestlohns usw.) tendenziell zurückschrauben.

Der RN-Fraktionsvorsitzende im Europa-Parlament, Jordan Bardella, gab zu erkennen, dass man Barniers Kabinettsleistung danach beurteilen werde, ob er in den wichtigsten Fragen der Einwanderungskontrolle, inneren Sicherheit, Sicherung der Kaufkraft im Sinne seiner Partei agieren werde. Es handele sich bei der vorläufigen Duldung nicht um einen »Blanko-Scheck«.

Als nur noch viertstärkste Fraktion ist »Die Rechte« (so der Name der Sarkozy-Republikaner im Parlament) nur in der Lage, maximal 235 der notwendigen 289 Sitze hinter Barnier zu versammeln und ist damit existenziell auf die Unterstützung oder die Neutralität des RN angewiesen.

Wir haben nun also nach den Niederlanden, Belgien und Schweden ein weiteres Land in der EU, in dem die bürgerliche Regierung vom Wohlwollen gesichert rechtsextremer Parteien abhängt. Die mögliche Aufnahme des italienischen Europa-Ministers und ehemaligen Vorsitzenden der im EU-Parlament Rechtsaußen stehenden EKR-Fraktion in den Kreis der Vizepräsidenten der EU-Kommission zeigt ebenfalls an, dass sich die bürgerliche Rechte (unter Protest der Liberalen) dem gestiegenen Gewicht der Rechtsextremen beugen will, um nicht länger auf grüne oder sozialdemokratische Unterstützung angewiesen zu sein.

Für die »Neue Volksfront«, die nach den Neuwahlen selbst über keine Gestaltungsmehrheit im Parlament verfügt und darüber auch nur halbherzig verhandeln konnte aufgrund der eigenen instabilen Konsense, greift Jean-Luc Mélenchon den Verschwörungsmythos von der »gestohlenen Wahl« auf, statt die wirtschaftlichen und haushaltstechnischen Wahrheiten zu erklären, die zu Macrons Entscheidung geführt haben. Macron stehe nach seinem »Raubüberfall« auf die Demokratie »unter Vormundschaft Le Pens« (C. Autain). Es fehlt der französischen Linken an einem stimmigen Deutungsangebot für die vielfältige Krise und insbesondere die ökonomische Stagnation, die nicht nur Frankreich seit der Finanz- und Währungskrise prägt.

Barnier ist keinesfalls der kompromissorientierte, rhetorisch langweilige »sleepy Joe«, als der er von Teilen der Presse dargestellt wird. Mit solchen Gesten wie der Ankündigung einer Krankenhaus-Visite (»eines der wichtigsten Dossiers der nächsten Zeit«) und »Nachverhandlungen bei der Rentenreform« zugunsten von »Menschen, die lange und hart gearbeitet haben«, trägt er der Tatsache Rechnung, dass RN das Renteneintrittsalter auf 62, die Volksfront gar auf 60 Jahre senken wollen und zusammen über eine absolute Verhinderungsmehrheit in der Nationalversammlung verfügen.

Die wichtigste Botschaft, bevor er eine Kabinettsliste präsentiert, lautet: »Von einem Premierminister wird erwartet, dass er die Wahrheit über die finanzielle und ökologische Verschuldung sagt.« Dazu gehöre die Wahrheit über die angespannte Finanzlage des Staates und er lasse sich täglich vom Schatzamt über die Schuldensituation unterrichten. Diese Botschaft richtet sich vor allem an die »Märkte«, die europäischen Partner und die internen Kritiker um Edouard Philippe.

Macron selbst unterrichtete den deutschen Bundeskanzler in einem Vier-Augen-Gespräch über die Grundzüge des nächsten Haushalts, der spätestens am 1. Oktober dem Parlament vorgelegt werden muss. Am Risikoaufschlag auf französische Staatsanleihen, der zuletzt so hoch war wie in der sogenannten Griechenland-Krise, und an der Unterperformance des französischen Aktienmarktes hat sich mit der Nominierung Barniers noch nichts geändert.

Darüber hinaus bieten Barniers programmatischen Äußerungen der letzten Jahre das übliche bürgerliche Folterwerkzeug an. »Frankreich ist bei niedrigen Löhnen wettbewerbsfähig, weil da gezielte Maßnahmen zur Abgabenbefreiung ergriffen wurden, aber das ändert sich von 2.800 Euro an«, mahnt der Arbeitgeberpräsident. Also muss sich Barnier mit dem ausgesetzten Dossier der Reform der Arbeitslosenversicherung auseinandersetzen, bei der er für eine Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld plädiert hat. Arbeit müsse besser wertgeschätzt werden als Untätigkeit, lautet auch in Frankreich das bürgerliche und rechtsextreme Credo.

Barnier vertritt zudem, dass der Verteidigungshaushalt auf 3% des BIP angehoben gehört. In der Umweltpolitik stellte er sich als Vertreter des Roll-back dar. Die EU-Vorgaben (Verbrenner-Aus bis 2035, Senkung der CO2-Emmissionen von LKWs um 90% bis 2040, Halbierung des Pestizid-Einsatzes bis 2030) seien nicht ausreichend »analysiert, bewertet und abgefedert«. Das Agrar-Gesetzespaket nach den Bauernprotesten liegt seit der Neuwahl auf Eis. In der Energiepolitik vertritt Barnier einerseits den nationalen Konsens (Ausbau der Atomindustrie plus schrittweise der Erneuerbaren), doch andererseits den RN-Standpunkt des Verbots von Windrädern, die »großen Schaden anrichten«.

Immerhin ließen sich zum Massenprotest, der von LFI und anderen in der Neuen Volksfront noch als Protest gegen die blockierte Regierung und der konsequenten Ablehnung der NFP-Kandidatin Lucie Castets angekündigt worden war, mehrere zehntausende Menschen in Paris und an 100 anderen Orten auf die Straße bringen. Grotesk schwanken die Teilnahmezahlen allein für die Pariser Kundgebung zwischen 26.000 (Polizeipräfektur) und 160.000 (LFI), aber beide Zahlen sind eine Enttäuschung für Mélenchon, der zur »möglichst mächtigen Mobilisierung« aufgerufen hatte. Die Leute beobachten, dass mit der Nominierung Barniers das übliche Spiel der politischen Kaste beginnt, von dem sie nichts zu erwarten haben, und ziehen sich transformations- und kampfesmüde vorläufig dahin zurück, wo sie Agitations-, Schulungs- und Organisierungsbemühungen kaum mehr erreichen.

Der Vorsitzende der PS, Olivier Faure, hat bereits eine Beteiligung seiner Fraktion an einer »Regierung der Sammlung« unter Barnier ausgeschlossen, frontale Opposition angekündigt und sich geweigert, Barnier das Vertrauen auszusprechen. Macrons Entscheidung nimmt etwas Druck von der Neuen Volksfront und insbesondere der Sozialdemokratie (PS). Für sie schließt sich einstweilen das Fenster einer Regierungsbeteiligung, was einzelne Prominente (Ex-Staatspräsident François Hollande sitzt immerhin im Parlament) nicht hindern würde, zu gegebener Zeit in ein Kabinett Barnier einzutreten. Aber auch die NFP muss sich von dem alten Schema lösen, das (außerparlamentarischer) Protest schon Programm genug sei.

Verglichen mit der politisch unerfahrenen Beamtin aus dem Pariser Rathaus, die die linke Volksfront vorgeschlagen hatte, ist Barnier in den Augen der Bourgeoisie diesseits und jenseits des Rheins eine gute Wahl für Frankreich, das vor keinen geringeren Herausforderungen steht als Deutschland.

Die große Frage ist, ob er auch eine stabile Wahl ist. Barnier wird sich Mehrheiten suchen müssen in der fragmentierten Nationalversammlung, die die überrumpelten französischen Bürger*innen im Sommer gewählt haben. Die Zertrümmerung des Parteiensystems, wie man es seit zwei Jahrzehnten in Italien, Niederlande, Frankreich und (verborgen durch das Mehrheitswahlrecht) in Großbritannien beobachten kann, setzt sich mit verringertem Tempo fort. Sollte Barnier am Ende vom RN abhängen, wäre Macron doppelt gescheitert.

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