6. April 2019 Redaktion Sozialismus

Mietenwahnsinn in Deutschland

In Berlin, München, Köln, Dortmund, Dresden und Stuttgart wurde erneut gegen Wohnungsnot und steigende Mieten protestiert. Unter dem Motto »Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« hatten mehr als 200 Organisationen zu bundesweiten Aktionen aufgerufen.

Die größte Protestaktion fand in Berlin statt, die Veranstalter sprachen von rund 40.000 Teilnehmer*innen. Parallel dazu startete in der Hauptstadt ein Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungsbaugesellschaften.

Laut dem aktuellen repräsentativen Deutschlandtrend (ARD) gibt fast jeder zweite Großstadtbewohner (48%) an, Schwierigkeiten zu haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Auch wer nicht selbst auf Wohnungssuche ist, nimmt eine Verteuerung wahr. 77% der Befragten unterstrichen die Aussage: »Ich bekomme immer wieder mit, wie schwer es ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden.«

Diejenigen, die in den vergangenen fünf Jahren selbst eine Wohnung gesucht hat, stimmte dieser Aussage sogar zu 89% zu. Mehr als die Hälfte der Deutschen (59%) nimmt nach eigenen Angaben starke Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt wahr. Für 41% der Befragten ist klar: »Meine Ausgaben für Wohnraum belasten mich deutlich stärker als vor fünf Jahren.«

Ein Ende der der untragbaren Verhältnisse auf den großstädtischen Wohnungsmärkten ist nicht abzusehen. Wohnungen sind in den Städten Mangelware. Seit Jahrzehnten wird zu wenig gebaut. Es fehlen günstige Wohnungen, Sozialwohnungen und – in der alternden Gesellschaft von Singles – kleine Wohnungen.

Als »bezahlbar« gelten Mieten, die (inklusive Nebenkosten) nicht mehr als 30% des jeweiligen Haushaltseinkommens ausmachen. Experten schätzen, dass davon in Deutschland insgesamt mehr als zwei Millionen fehlen. Noch nicht berücksichtig ist bei dieser Zahl, dass Hinzu kommt, dass nicht wenige Haushalte dadurch Kosten sparen, dass sie eine für ihre Haushaltsgröße zu kleine Wohnung mieten, wie eine Studie des Sozialverbands Deutschland ergeben hat.

Immobilienmanager und ihre Investoren reiben sich die Hände, denn am Bau und der Vermietungen von Wohnungen kann auch weiterhin viel Geld verdient werden.

Arme Haushalte sind von der Wohnungsnot besonders betroffen. In den deutschen Großstädten gibt es über 2,6 Mio. Haushalte, deren Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze liegt. Für diese Gruppe fehlen fast 1,5 Mio. Wohnungen mit bezahlbaren Mieten.

Insofern ist nicht erstaunlich, dass fehlender bezahlbarer Wohnraum einerseits in Städten mit vielen einkommensschwachen Haushalten besonders eklatant ist – etwa in Berlin, Leipzig, Bremen und Dortmund. Andererseits fehlen solche Wohnungen in Großstädten mit allgemein hohen Mieten wie etwa München, Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf. Trauriger Spitzenreiter ist Berlin mit einer Lücke von über 310.000 Wohnungen. Im Ergebnis werden einkommensschwächere Haushalte zunehmend aus den Innenstädten verdrängt.

Der chronische Mangel an Wohnung ist preistreibend:

 

 

Miete als Umverteilungsmodus von Reichtum

Wohnen ist zum wichtigen Faktor der Umverteilung von Einkommen und damit zu einem Treiber der Armutsentwicklung geworden. In Zeiten des Wohnungsmangels leiden vor allem Menschen mit geringem Einkommen, sei es durch das abnehmende Angebot erschwinglicher Wohnungen, sei es durch die allgemeine Mietenexplosion.

Die Ausgaben für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung sind der größte Ausgabenblock der privaten Haushalte. Im Schnitt verwendeten sie im Jahr 2015 dafür 859 Euro bzw. knapp 36% ihrer privaten Konsumausgaben. Nach Daten der Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) lag der Median der Wohnkostenbelastung insgesamt zwischen 2010 und 2015 konstant bei etwa 22% des verfügbaren Nettoeinkommens.

 

Die Mietbelastung nimmt mit steigenden Einkommen ab. Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 1.300 Euro weisen überdurchschnittliche Mietbelastungen von 46% auf. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Haushalte, denen eine Überbelastung durch Wohnkosten droht, weil diese die Marke von 40% des verfügbaren Haushaltsnettoeinkommens überschreiten, leicht angestiegen: von 14,5% auf 15,6%. Mehr als die Hälfte der Haushalte, die wegen eines relativ geringen Haushaltsäquivalenzeinkommens als armutsgefährdet gelten, ist hiervon betroffen (52%).

Dieser Anteil ist seit dem Jahr 2010 um 10 Prozentpunkte angestiegen. Bei ihnen lag der Anteil der Wohnkosten am verfügbaren Haushaltseinkommen im Jahr 2015 im Durchschnitt bei 39%. Miet- und Energieschulden haben nach Erkenntnissen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung als Anlass von Wohnungslosigkeit erlangt und sind demnach in mehr als 18% der Fälle Auslöser eines Wohnungsverlustes.

Das Wohngeld hilft kaum: Zwar wurden die Wohngeldleistungen durch die zum 1. Januar 2016 in Kraft getretene Wohngeldreform an die gestiegenen Bruttowarmmieten und die Entwicklungen der Nominaleinkommen angepasst. Aber das Wohngeld steht in Wechselwirkung mit der Übernahme der Kosten der Unterkunft (KdU) im Rahmen von SGB II und SGB XII.

Mit dem Wohngeld und der Berücksichtigung der Bedarfe für Kosten der Unterkunft im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) unterstützt die öffentliche Hand rund 4,2 Mio. Haushalte mit jährlich 16,8 Mrd. Euro. Etwa ein Viertel aller Mietwohnungen wird von Haushalten bewohnt, die mit Wohngeld unterstützt werden oder Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II oder SGB XII erhalten.

Etwa 14% des gesamten Mietzahlungsvolumens übernimmt die öffentliche Hand. Personen in armutsgefährdeten Haushalten weisen mit 47% Mietbelastung deutlich höhere Quoten auf als solche in nicht-armutsgefährdeten Haushalten (27%).

Lediglich 1,2% der Haushalte in den Großstädten beziehen die Sozialleistung Wohngeld. Viele Mieter, die Wohngeld beantragen könnten, können dies nicht, da sie andere soziale Transfers beziehen. Damit sind sie vom Unterstützungssystem ausgeschlossen. Unter allen Sozialleistungen, die Mieter beziehen, erreicht das Wohngeld lediglich 13%.

Schlimmer noch: Das Wohngeld entfaltet kaum Wirkung. Im Durchschnitt beseitigt es keine wirtschaftliche Überforderung von Mietern, mindert sie nur, wie Andrej Holm, Stephan Junker und Kevin Neizel in einer Untersuchung für die Hans-Böckler-Stiftung zeigen: »Die mittlere Mietbelastung der Haushalte nach Wohngeldzahlung liegt bei weit über 40% des Einkommens.« Und damit deutlich über dem Level, was als »leistbare Miete« definiert wird. Daraus folgern sie zu Recht: »Wohngeldzahlungen fließen … über die Mietzahlungen an die Vermieterinnen und Vermieter und haben letztendlich den Charakter einer Wirtschaftsförderung ohne soziale Gegenleistung.« So wird die Zahl derer, die Wohngeld erhalten immer weniger: Obwohl der Immobilienmarkt extrem angespannt ist, ging ihre Zahl 2017 gegenüber 2016 um 6,2% zurück.


Neubau als Lösung?

Die Politik hat das Problem bereits seit einiger Zeit registriert und die Große Koalition daher die Förderung des Neubaus als Ausweg ausgegeben. 1, 5 Millionen neue Wohnungen in Deutschland sind das das erklärte Ziel im Koalitionsvertrag. SPD und Union wissen, dass der Druck hoch ist.

Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat (CSU), unterstreicht: »Für mich ist die Frage der Entwicklung unserer Mieten das soziale Problem heute und für die Zukunft.« Es ist also mittlerweile angekommen, dass eine Wohnungspolitik, die sowohl für die Minderung von Knappheiten sorgt als auch soziale Härten vermeiden hilft, für die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung im Sinne der herrschenden Eliten von herausragender Bedeutung ist.

Die Zahl der Neubauten wächst – aber sie wächst nicht schnell genug. In Ballungsräumen können sich mittlerweile viele Durchschnittsverdiener die Mieten für Neubauwohnungen nicht mehr leisten. Wohnungsmangel hat in den Metropolen inzwischen auch die Mittelschichten im Griff.

Die Zunahme des Angebots an Mietwohnungen reicht nicht aus, um die aufgebaut hohe Nachfrage nach Wohnraum zu decken. Dafür müssten nach Berechnungen der Bundesregierung in mittlerer Sicht pro Jahr zwischen 350.000 und 400.000 Wohnungen neu auf den Markt kommen. Ulrich Ropertz, der Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes, unterstreicht die immense Fehlentwicklung: In insgesamt 138 Städten und Kreisen liege die Nachfrage drastisch über dem bestehenden Angebot – »und das hat immer die Folge: steigende Mieten«. Die aktuellen wohnungspolitischen Instrumente – Mietpreisbremse, Sozialer Wohnungsbau, Wohngeld – sind in der gegenwärtigen Ausgestaltung völlig unzureichend.

Die veröffentlichten Zahlen zum Wohnungsbau täuschen zudem eine Problemlösung vor. 2017 wurden zwar 278.000 Wohnungen und Häuser fertiggestellt. Gemessen an der recht abstrakten Zahl von erforderlichen neuen Wohnungen, die die Bundesregierung nennt, gebaut werden müssten, um der Lage Herr zu werden, ist schon das eine ordentliche Zielverfehlung. Und wenn man – wie der Mieterbund-Geschäftsführer – tiefer in die Details vordringt, wird die Dramatik der Fehlentwicklungen offensichtlich.

»Die Hälfte der fertig gestellten Wohnungen entfallen auf 1- und 2-Familienhäuser.« Ein Zuwachs an Wohnungen also, der den Markt für Menschen mit einfachen und mittleren Einkommen nicht wirklich entlastet. »Von den verbleibenden 50% entfiel wiederum die Hälfte auf neue Eigentumswohnungen, die meisten hochpreisig.«

Mietwohnungen wurden 2017 tatsächlich nur 70.000 gebaut. Und davon war lediglich ein gutes Drittel Sozialwohnungen. Die Zahl der neu gebauten Wohnungen ist deutlich gestiegen, von 160.000 im Jahr 2010 auf rund 300.000 im vergangenen Jahr. Aber nur ein Bruchteil davon kann als bezahlbares Angebot eingeschätzt werden.

Hinzu kommt, dass jährlich Wohnungen aus der Mietpreis- und Belegungsbindung herausfallen, was durch den zu geringen Neubau von preiswerten Wohnungen nicht einmal halbwegs kompensiert wird.

Mit der Zahl sozial gesicherter Wohnungen in Deutschland geht es seit Jahrzehnten stetig bergab, denn die Sozialbindung einer Wohnung läuft nach 20 oder 25 Jahren aus. Schon vorher dürfen Vermieter die Miete an den Mietspiegel heranführen. Die Folge: Werden nicht ebenso viele neue Sozialwohnungen gebaut, wie aus der Bindung fallen gelassen werden, geht das Soziale verloren.

Von den einst fast vier Millionen Wohnungen für Menschen mit kleinem Geld sind laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gerade noch eine Million Sozialwohnungen übrig. 1987 betrafen die Zahlen nur Westdeutschland.

Allein durch Neubau wird das Problem der ständig steigenden Mieten und der Verdrängung von Menschen aus ihren Quartieren nicht gelöst werden. Erforderlich sind:

  • eine Mietpreisbremse, die wirklich bremst; dazu gehört eine gründliche Renovierung der Regelungen des Mietenspiegels; es muss ausgeschlossen werden, dass die Neuvertragsmieten voll auf den Mietspiegel durchschlagen;
  • eine striktere Anwendung der Kappungsgrenzenverordnung;
  • die deutliche Ausweitung der sozialen Erhaltensverordnungen;
  • eine Grundsteuerreform, die ihren Namen verdient, mit Ausschluss der Möglichkeit der Überwälzung auf die Mieter*innen;
  • Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die den Bundesländern weitere Ressourcen für eine soziale Wohnungspolitik erschließt;
  • Anpassung der Obergrenzen für den Bezug von Wohngeld;
  • Maßnahmen zur Bekämpfung der Immobilienspekulation.

Denn wenn Wohnungen zu reinen Spekulationsobjekten verkommen und Mieten unbezahlbar werden, dann sind Gegenmaßnahmen überfällig. Das gilt besonders in Ballungsgebieten, vor allem auch dann, wenn Leerstände künstlich erzeugt werden. Spekulationen mit Wohnraum muss der Boden entzogen werden. Weil Grund und Boden eine nicht beliebig reproduzierbare Ware ist, müssen die Marktgesetze auf diesem Gebiet außer Kraft gesetzt werden.

Für weite Bereiche des Umgangs mit Grund und Boden muss das Allgemeinwohl gelten und nicht die Gewinnsteigerung. In diesem Sinne ist auch die überfällige Besteuerung der Grundsteuer zu reformieren. Als Steuer, die an das Vermögen ihres Eigentümers anknüpft und nicht zu den üblichen Nebenkosten gehört, sollte die Grundsteuer künftig auch nicht mehr auf die Mieter überwälzt werden dürfen.

Der Ruf nach Enteignung von Immobilienfirmen wird angesichts der Verhältnisse auf dem Gebiet des Wohnens und der der Hilflosigkeit der Politik zu Recht lauter und ist populär. Fast jeder zweite Deutsche spricht sich für Enteignungen aus, um die Preisentwicklungen am Immobilienmarkt in den Griff zu bekommen. Es ist eine richtige Kampagne, um den Druck zu erhöhen.

Kurz- und mittelfristig brauchen wir insgesamt einschneidende Lösungen. Zu Recht hat Bodo Ramelow darauf hingewiesen: »Wohnraum, der nicht nur für die eigene Nutzung bestimmt ist, darf keine normale Handelsware sein. Deswegen bin ich dafür, dass gerade in Ballungszentren der Anteil des öffentlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbestandes bei deutlich über 50% liegt.« Auch Enteignungen können ein »adäquates Mittel für eine soziale Wohnraumversorgung« werden.

Es ist ein »Mythos«, dass Neubau die Krise auf dem Mietmarkt lösen könne. Die öffentliche Hand kann regulierend eingreifen, Mietpreissteigerungen können durch Deckelung und durch die Förderung bezahlbaren Wohnraums unterbunden sowie durch die Schaffung einer Struktur von öffentlichen, genossenschaftlichen und privatkapitalistischen Eigentümern auf ein anderes Entwicklungsterrain gehoben werden. Es geht darum – so der Ministerpräsident Thüringens von der LINKEN –, »auch im öffentlichen Bereich für eine gute Bewirtschaftung des Wohnungsbestandes zu sorgen. Nicht im Sinne der Rendite, sondern im Sinne der Mieterinnen und Mieter.«

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