26. November 2019 Bernhard Sander: »Kollektive Verwirrung« (Macron) in Frankreich?

Migration und Religion

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron steht vor großen innenpolitischen Herausforderungen, die seine Modernisierungsstrategie hervorruft. Die tiefe soziale Spaltung des Landes ist vielen bewusst und schürt nicht nur eine Stimmung der Wut, sondern auch Ängste, persönlich den Anschluss zu verlieren.

Die Rentenreform, die Personalnot in den Krankenhäusern und die wirtschaftliche Lage der Studierenden bilden einen Brennstoff, von dem Abgeordnete der Regierungsmehrheit (LREM) sagen: »Wir wissen, dass wir hier auf einem Pulverfass sitzen.«

Der Staatspräsident eröffnet oder reaktiviert gleichwohl ein weiteres Feld der Auseinandersetzung. »Man fordert von mir ein Machtwort in der Frage der Laizität. Aber gemeint ist ein Machtwort zum Islam.« Das sei eine Art kollektiver Verwirrung. Man müsse die Subjekte, die sich radikalisieren, identifizieren, »damit unsere Mitbürger, deren Religion der Islam ist, in Ruhe ihre Religion leben können in vollem Respekt vor den Gesetzen der Republik«. Zugleich wolle er »gegen die Parallelgesellschaft kämpfen«.

Diese Grenzziehung wird jedoch von Teilen des rechtspopulistischen und -radikalen Spektrums als Ermutigung aufgefasst, selbst gegen den »Islamismus« vorzugehen. Das zeigte das Attentat eines ehemaligen FN-Kandidaten auf eine Moschee in Bayonne mit zwei Verletzten.

Das Projekt Macrons versucht, die Asyl- und Einwanderungsproblematik ins Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken, obwohl es in der landesweiten »Großen Debatte« Anfang des Jahres eindeutig ein nachrangiges Thema war. In der Manier seiner Vorgänger lässt er in Paris (zum 59. mal) Zelt- und Hüttensiedlungen der Illegalen bildmächtig räumen.

Allerdings werden die Betroffenen weder »ausgeschafft«, noch ihrem Schicksal überlassen, sondern in Sammelunterkünften untergebracht und ihre Anliegen überprüft. Jene, deren Antrag schon in einem anderen EU-Land abgewiesen worden ist, warten die rund neun Monate ab, bis sie wieder Asyl beantragen können. Sie tauchen unter, leben auf der Straße und sind mit der Zeit körperlich wie psychisch total fertig.

Parlamentarisch lässt Macron die Regierung Gesetzentwürfe ausarbeiten, an denen sich vor allem die Nationale Sammlung (RN) von Marine Le Pen als die einzige wahre Verteidigerin nationaler Homogenität und laizistisch-republikanischer Anständigkeit profilieren kann. Das vorgeschlagene Maßnahmenpaket greift seinerseits die Argumentationslinie des RN auf. Sie sollen Frankreich gemäß den Worten von Premierminister Édouard Philippe erlauben, die Kontrolle über seine Migrationspolitik zurückzugewinnen. Die Maßnahmen zielen einerseits darauf ab, die Einwanderung grundsätzlich besser zu steuern, und andererseits, dem Missbrauch der Sozialversicherung entgegenzuwirken.

Man kann allerdings keineswegs davon sprechen, das Land habe die Kontrolle verloren: In Frankreich haben zwar die Asylgesuche im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern in den vergangenen fünf Jahren stetig zugenommen, sie bleiben aber immer noch deutlich geringer als etwa in Deutschland. Zwischen 2017 und 2018 stiegen sie um rund 22% auf 123.000 an. Die Zahl steht im deutlichen Kontrast zu den 35.600 Asylgesuchen, denen 2018 stattgegeben wurde. Sie kommen hauptsächlich aus Afghanistan, das in Frankreich noch nicht als sicheres Herkunftsland zählt, und aus Albanien und Georgien. Allerdings werden die Tausenden, die unter unwürdigsten Bedingungen in der Umgebung des Kanaltunnels kampieren, von keiner Statistik erfasst.

Nun sollen erwachsene Asylsuchende drei Monate warten müssen, bis sie Zugang zum Gesundheitssystem erhalten – außer in Notfällen. Auch deren Wohnsituation wird strenger kontrolliert. Personen ohne Aufenthaltsbewilligung – also auch abgelehnte Asylbewerber*innen – haben künftig nur noch sechs statt zwölf Monate Zugang zum Gesundheitssystem.

Ab dem kommenden Sommer sollen in Frankreich zudem Quoten für qualifizierte Einwanderer auch außerhalb des Schengenraums gelten – nicht nach Herkunftsland, sondern nach Beruf. Laut Arbeitsministerin Muriel Pénicaud hat eines von zwei Unternehmen in Frankreich heute Mühe, passendes Personal zu finden. Die Liste der Branchen mit Fachkräftemangel soll jedes Jahr überprüft und nach Bedarf angepasst werden.

Der Präsident selbst hatte sich zuletzt in einem Interview mit dem rechtskonservativen Magazin »Valeurs actuelles« zum Thema geäußert. Damit hat er bei vielen seiner Mitstreiter*innen, aber auch bei der linken Opposition für einen Aufschrei gesorgt – zunächst, weil er überhaupt mit dem Magazin gesprochen hatte. Mit der Aussage, dass er es vorziehe, dass Menschen auf legale Weise aus Guinea oder der Elfenbeinküste nach Frankreich kämen und nicht über bulgarische oder ukrainische Schlepperbanden, sorgte er sogar für diplomatische Verstimmung.

Der Geschäftsführer der Hilfsorganisation France Terre d'Asile, Pierre Henry, lobt die Lagerräumungen. Das Gesetzespaket der französischen Regierung zur Migration kritisiert er allerdings als zu wenig konsistent: Es ist die »Realität, und da sind Migrationsströme, mit Menschen, die überlegen, die ihre Logik daraus ziehen. Solange es kein landesweites System für die Erstaufnahme gibt, werden wir immer wieder von vorne anfangen. Die Aussage des Präfekten von Paris, dass die Polizei darauf achten werde, dass sich keine Lager mehr bildeten, ist eine Wunschvorstellung … Es braucht eine Harmonisierung der Regeln auf europäischer Ebene, wenigstens in den wichtigsten Ankunftsländern.«

Innerhalb der Regierungspartei haben elf Abgeordnete einen Protest formuliert. Sie wollen »nicht glauben, dass die Einwanderung nur eine Belastung für unser Land ist«. Die Schwierigkeiten in der Finanzierung des Gesundheitswesens seien nicht migrationsbedingt. Auch die Justizministerin kritisiert das Maßnahmenpaket. In keinem Land hätten Einwanderungsquoten funktioniert.

Macron verteidigte schon nach dem Ende der Sommerpause seine kommenden Gesetzentwürfe. Man müsse »das Land auf die heutigen Herausforderungen vorbereiten, die Angst machen«. Er handele im Namen der »unteren Volksklassen« und nicht der »Innenstadt-Bürger«, die eine abgesicherte Unterkunft haben«. Man läge »falsch zu glauben, nur über Soziales und Ökologisches reden zu können und die staatliche Machtausübung sei keine Sorge der Franzosen«. Der Kampf gegen das Verbrechen, die Gewalttätigkeit, die Einbrüche oder die illegale Einwanderung seien ein hoher Wert besonders in den benachteiligten Vierteln, so der Staatspräsident auf einer Klausurtagung der Regierung.

Die Linke ihrerseits mobilisierte für den 10. November zu einem Marsch gegen die Islamfeindlichkeit und geriet prompt ins Feuer, weil auch islamische Verbände zu dieser Demonstration aufriefen, die im Verdacht der Israelfeindlichkeit stehen und der Nähe zur »Moslem-Bruderschaft« bezichtigt wurden. Eric Coquerel, einer der Sprecher von La France Insoumise (LFI), rechtfertigte seine Teilnahme in einem Beitrag für die Tageszeitung Liberation u.a. mit seiner Beteiligung an Demonstrationen für das kurdische Rojava (zusammen mit dem Rechtsintellektuellen Bernard-Henry Levy) oder gegen Antisemitismus (zusammen mit Marine Le Pen). Es gehe nicht um die Angst vor einer Religion, sondern um eine Variante des Rassismus.

»Wegen ihrer Religion werden heute Millionen Landsleute diskriminiert als wären sie Staatsfeinde und ständen außerhalb der Republik.« Das Hausverbot für eine Kopftuch tragende Mutter, die ihr Kind zum Regionalrat Burgund begleitet hat, die Forderung des Präsidenten, die Vollverschleierung zu verbieten und der Erziehungsministerin, die Namen von Jungen zu melden, die sich weigerten, einem Mädchen die Hand zu geben, liegen in den zwei Monaten vor dem Angriff auf die Moschee.

»Die Identitätspolitik ist heute nicht mehr Exklusivrecht des RN und die Ungleichheiten des entfesselten Liberalismus, wie er von der Regierung betrieben werde, sind eine weit größere Gefahr für die Aufweichung unserer republikanischen Fundamente.« Die Leitfigur von LFI, Jean-Luc Mélenchon, hat in diesem Sinne den Demonstrationsaufruf ebenfalls unterzeichnet, während die LFI-Abgeordneten François Ruffin und Adrien Quattenens sich verweigerten. Mélenchon kritisierte, dass der Aufruf die »freiheitstötenden Gesetze« – eine Formulierung des Aufrufs, an der sich die Kritik festmachte – nicht konkret benenne. Er verwies konkret auf den permanenten Ausnahmezustand und den Gesetzentwurf aus der rechten Mehrheit des Senats zum Verbot, am (Vor-)Schultor Kinder von verschleierten Müttern anzunehmen.

An der Demonstration beteiligten sich nach Angaben des Journalisten-Netzwerks Occurrence mehr als 13.000 Menschen. Darunter auch eine Grünen-Abgeordnete, die – selbst aus einer jüdischen Familie stammend – einen gelben Davidstern mit der Aufschrift »Moslem« trug, was ihr heftige Kritik von Vertretern der jüdischen Gemeinden eintrug: »Kein Moslem muss heute mitmachen, was unsere Eltern im Zweiten Weltkrieg ertragen mussten.« Die öffentliche Debatte um diese »ignorante Inszenierung« (Bernard-Henri Levy) bot den willkommenen Anlass, von der Stigmatisierung im Alltag durch den islamfeindlichen Rassismus abzulenken.

Eine Abgeordnete von Macrons La République en Marche (LREM) bedauerte im (rechten) Fernseh-Kanal BFM-TV die Teilnahme Mélenchons, der »einmal ein großer Laizist gewesen ist«, und verstieg sich zu der Behauptung, »der Marsch richtet sich gegen den Staat und benutzt den Terminus Islamophobie, der nur an den politischen Extremen benutzt wird«. Für die Chefin des RN marschierten die Teilnehmer »Hand in Hand mit Islamisten, also jenen, die in unserem Land eine totalitäre Ideologie verbreiten, die darauf zielt, die Gesetze der Republik zu bekämpfen«. RN gelingt es damit, das ramponierte Image einer entdiabolisierten, geläuterten rechtspopulistischen Partei zu stabilisieren, das nach dem Attentat in Bayonne ins Wanken geraten war. Den Wettstreit zwischen LREM und RN, wer der legitime Verteidiger des Laizismus der französischen Republik sein wird, ist in vollem Gange.

Weil die Linke in Frankreich nicht mit einer eigenen überzeugenden ökonomisch-sozialen Modernisierungsstrategie auf ein antagonistisches Kooperationsverhältnis mit den konsensorientierten Teilen des französischen Bürgertums zusteuern kann, werden die sozialen Konflikte zunehmend entlang der Linie demokratischer Liberalismus à la Macron gegen nationalistisch-völkischem Autoritarismus umgruppiert.

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