11. Oktober 2016 Otto König / Richard Detje: Bratislava-Agenda als Fahrplan zur Militarisierung

Militärbündnis EU wird ausgebaut

Europa, das in Folge der neoliberalen Austeritätspolitik sozial auseinanderdriftet und in der Flüchtlingsfrage zwischen nationalistischen Egoismen und menschenfeindlicher Abschottungspolitik zerrieben wird, soll ausgerechnet über einen Militarisierungsschub wieder zu mehr Einigkeit finden. Die »gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik« ist auserkoren, die zentrifugalen Tendenzen zu bremsen und zum einigenden Band der zerbröselnden Staatengemeinschaft zu werden.

Das einzige Thema, auf das sich alle EU-Mitgliedstaaten derzeit einigen können, ist »mehr Sicherheit«. Immer mehr Papiere werden publiziert – deutsch-französische, ein italienisches, eines der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini – mit der eindeutigen Botschaft: Europa muss in Sachen Verteidigung schlagkräftiger gemacht werden. Die EU dürfe nicht länger allein von der militärischen Macht und Fähigkeit einzelner Länder abhängen.

Der angekündigte Austritt Großbritanniens hat für die EU-Militärpolitik neue Spielräume eröffnet. Schon wenige Tage nach dem Brexit-Votum präsentierten Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault Grundelemente für eine »europäische Sicherheitsagenda«.[1] »Äußere Krisen« seien »zahlreicher geworden und geographisch näher an Europa herangerückt«, ist in dem Papier zu lesen.

Deshalb solle die EU, um »zivile und militärische Operationen wirksamer planen und durchführen« zu können, eine »ständige ... zivil-militärische ... Planungs- und Führungsfähigkeit« installieren und die »Anstrengungen auf dem Gebiet der Verteidigung« verstärken. Die EU-Staaten sollen »ihre gemeinsam eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich ihrer Verteidigungshaushalte« bekräftigen und einhalten.

Vor dem Gipfel der EU-Regierungschefs in der slowakischen Hauptstadt Bratislava im September legten Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr französischer Kollege Jean-Yves Le Drian mit ihrem Papier »Erneuerung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU« (GSVP) nach.[2] Die Ende Juni von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini vorgestellte neue »EU Global Strategy on Foreign and Security Policy« erfordere, so die beiden Minister, ein militärisch »stärkeres Europa«.

Es gehe nicht um eine europäische Armee, sondern um eine verstärkte Zusammenarbeit, und dazu sei der Aufbau eines »ständigen zivil-militärischen Hauptquartiers« zur Steuerung von zivilen und militärischen EU-Missionen und Operationen notwendig. Das Papier enthält Vorschläge zur gemeinsamen Finanzierung von EU-Interventionen und plädiert für eine Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie.

Diese Vorschläge sollen zunächst von einer kleinen Gruppe EU-Staaten – Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und die Niederlande sowie die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn – vorangetrieben werden, deren militärischem Zusammenschluss sich später weitere Staaten anschließen können. Um dieser Militärkooperation das notwendige politische Gewicht zu geben, sollen sich die Treffen des Europäischen Rats künftig regelmäßig auch dem Thema »Sicherheit und Verteidigung« widmen.

Die beiden deutsch-französischen Positionspapiere entsprechen weitestgehend den Vorstellungen, die Berliner Außen- und Militärpolitiker seit ein paar Jahren äußern.[3] Mit der Verabschiedung des Weißbuchs 2016 »Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« wurde quasi ein offizielles Ergebnis gefunden. In dem Dokument betont die Große Koalition, man sei bereit, »die globale Ordnung aktiv mitzugestalten« und »Führung zu übernehmen«.

Die globale außen- und sicherheitspolitische Strategie der EU werde wesentlich dazu beitragen, die »Handlungsfähigkeit der Union in ihren Außenbeziehungen zu stärken«. Deutschlands strategische Prioritäten lägen in einer fortschreitenden Integration europäischer Streitkräfte, der Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO sowie im kohärenten Zusammenwirken zwischen NATO und EU.

Bei der Bereitschaft, militärische Macht einzusetzen, geht es nicht nur um die Kontrolle nationalstaatlicher und/oder Außengrenzen der EU, sondern ganz generell um die Durchsetzung strategischer und ökonomischer Interessen. »Der politische Wille nach einer globalen (Mit)-Führung kann nur dann geltend gemacht werden, wenn er auch machtpolitisch unterfüttert wird«, schreibt Carlo Massala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München.[4]

Entsprechend seien die Auslandseinsätze der Bundeswehr im sogenannten »Krisengürtel« rings um Europa von Afghanistan über Mali, Libyen und Syrien bis zum Irak getragen von der Überzeugung, »sicherheitspolitische Verantwortung« tragen zu müssen. Voraussetzung sei dafür eine weitere Aufrüstung der Bundeswehr und eine stärkere militärische Zusammenarbeit in der EU.

Deshalb müsse »die Kooperation im Bereich der Verteidigung« ausgebaut werden, unterstrich Kanzlerin Angela Merkel auf dem »Dreier-Gipfel« mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi Ende August symbolträchtig auf dem Hubschrauberträger »Giuseppe Garibaldi«.

Die ersten Weichen auf dem Weg zur Militarisierung der EU wurden schon auf den Ratsgipfeln in Köln und Helsinki im Jahr 1999 mit dem Beschluss, eine »Schnelle Eingreiftruppe« aufzustellen, gestellt. Danach entwickelte sich das Projekt »Militärmacht Europa« mit »Lichtgeschwindigkeit«, so der ehemalige EU-Außenbeauftragte Javier Solana. Die Einrichtung eines Militärausschusses und andere für die Militärplanung relevante Institutionen folgten im Jahr 2000. Mit der Verabschiedung der »Europäischen Sicherheitsstrategie« 2003 bekam die Interventionsausrichtung der EU ein festes Rahmenwerk. Erste Militäreinsätze folgten noch im gleichen Jahr – inzwischen sind es 30 gemeinsame Militäreinsätze auf drei Kontinenten.

Die Zusammenarbeit in Fragen der Verteidigungspolitik müsse zur »Norm, nicht zur Ausnahme« werden, schrieb die EU-Außenbeauftragte in ihr Papier »Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik«, in dem sie feststellt: »Wir müssen bereit und in der Lage sein, abzuschrecken, zu antworten und uns zu schützen gegenüber Aggressionen, Provokationen und Destabilisierung«. Zwei Schwerpunkte für Investitionen sieht Mogherini in der militärischen Aufklärung und verbesserten digitalen Fähigkeiten. Damit findet sie nicht nur in einer ganzen Reihe EU-Staaten Gehör, sondern ermunterte auch den ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán, die Debatte über den »Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee« wieder anzustoßen.

Es war EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der sich den Großteil der kursierenden Vorschläge zueigen machte und in seiner Rede zur Lage der Union am 14. September 2016 in Straßburg erklärte: »Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus. … Europa muss mehr Härte zeigen.« Die EU könne es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln. Es gelte die EU-Battle-Groups einsatzbereit zu machen. Gemeinsame Rüstungsgüter könnten der EU in einzelnen Fällen übereignet werden, um die Interventionsfähigkeit unterstützen – »selbstverständlich in uneingeschränkter Komplementarität mit der NATO«.[5]

Juncker plädiert für eine Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes, denn »eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie«. Ein europäischer Verteidigungsfonds könne der »Forschung und Innovation einen kräftigen Schub« verleihen. In diesem Zusammenhang stellte EU-Kommissar Jyrki Katainen Pläne für sogenannte »Europäische Verteidigungsanleihen« (European Defence Bonds) in Brüssel vor, mit denen die Mitgliedstaaten zusammen Kapitalmärkte anzapfen könnten, um zum einen gemeinsam Rüstungsgüter wie Drohnen, Kriegsschiffe und diverse Cybertechnologie anzuschaffen und zum anderen in die Terrorabwehr und den Schutz der Außengrenzen vor Flüchtlingen zu investieren.

Während Deutschland, Frankreich und Italien auf dem EU-Gipfel in Bratislava für »Gemeinschaftsprojekte« in der Sicherheitspolitik warben, sperrten sich die Briten. Schon nach Bekanntwerden der deutsch-französischen Initiative hatte sich Londons Verteidigungsminister Michael Fallon besorgt über eine »unnötige Verdopplung dessen, was wir bereits in der NATO haben«, geäußert. London werde sich »auch weiterhin jedem Versuch widersetzen, einen Rivalen zur NATO zu schaffen.«

Unabhängig von den Bedenken der vor dem Absprung stehenden Briten soll es mit der Militarisierung der EU zügig gehen: Der »Bratislava-Fahrplan«, auf den sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten außer Großbritannien geeinigt haben, verlangt ausdrücklich die »Verstärkung der EU-Zusammenarbeit im Bereich der externen Sicherheit und der Verteidigung«. Bis zum nächsten EU-Verteidigungsministertreffen Mitte November soll Federica Mogherini ein beschlussfähiges Konzept vorlegen – dazu soll der Aufbau eines »operativen EU-Hauptquartiers« gehören. Dann soll, wie es in der »Erklärung von Bratislava« heißt, »über einen konkreten Zeit- und Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung« entschieden werden.

Dies als »Motor für das weitere Zusammenwachsen Europas« auszugeben, ist das Gegenteil eines solidarischen, demokratischen und sozialen Europa.

[1] Jean-Marc Ayrault/Frank-Walter Steinmeier: Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt, http://www.auswaertiges-amt
[2] »Erneuerung der GSVP« – Deutsch-französische Verteidigungsinitiative. www.bmvg.de, 12.9.2016.
[3] Bundespräsident Joachim Gauck kann drei Jahre nach seinem erstmaligen Plädoyer im Rahmen der »Einheits«-Feierlichkeiten in Dresden im Jahr 2013, dass Deutschland sich künftig stärker als bisher in die internationale Politik – auch militärisch – einmischen müsse, auf eine erfolgreich abgeschlossene Kampagne zurückblicken. Vgl. Otto König/Richard Detje: Gauck fordert Ende der »Zurückhaltung«, auf SozialismusAktuell, 22.6.2014.
[4] Vgl. Carlo Massala: Europa zwischen USA und Russland – Ist eine europäische Armee die richtige Antwort? In: Gerd F. Kaldrack/Hans-Gert Pöttering (Hrsg.): Eine einsatzfähige Armee für Europa. Zur Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Lissabon, Wiesbaden 2011.
[5] Vgl. Jürgen Wagner: Bratislava – Agenda EU-Rüstungsschub nach dem Brexit, IMI-Analyse 2016/34.

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