10. Juni 2020 Otto König/Richard Detje: US-Präsident kündigt Open-Skies-Vertrag

Mit der Abrissbirne gegen Rüstungskontrolle

Russisches Open-Skies-Flugzeug (2010). Foto: aeroprints.com (CC BY-SA 3.0)

Die Trump-Administration hat wieder einmal den Austritt der USA aus einem internationalen Vertrag verkündet. Nach dem Rückzug aus dem Atomabkommen mit dem Iran und dem mit Moskau vereinbarten bilateralen INF-Vertrag[1] zum »Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen« will Donald Trump auch aus dem multilateralen »Open Skies« (offene Himmel) genannten Abkommen über vertrauensbildende militärische Beobachtungsflüge aussteigen.

Damit schlägt der US-Präsident eine weitere Bresche in die internationale Rüstungskontrollarchitektur. Deren systematische Zerstörung und der damit verbundene neue Rüstungswettlauf sowie die propagierten Szenarien nuklearer Kriegsführung gefährden die europäische Sicherheitsordnung. Und schon kündigt Trump an, den New-START-Vertrag mit Russland im Februar 2021 auslaufen zu lassen bzw. nur fortzusetzen, wenn China sich auch daran beteiligt.

Bisher war es Konsens, dass der »Kalte Krieg« durch eine Fülle internationaler Abkommen u.a. zur Rüstungskontrolle abgelöst werden sollte. Diese Politik basierte auf der Verständigung darüber, dass die schrittweise Abrüstung nur mit größerem Vertrauen zwischen Ost und West zu erreichen ist, und dass zur Überwachung der angeschlossenen Verträge ein geregelter Kontrollmechanismus benötigt wird. Beginnend in den 1970er Jahren entstand so ein Sicherheitskonzept, das lange zur relativen Stabilität zwischen den atomaren Großmächten und ihren Verbündeten beigetragen hat.

Multilaterale Abkommen wie in diesem Fall das Open Skies-Abkommen, einst von Präsident Dwight D. Eisenhower in den 1950er Jahren vorgeschlagen und von George H.W. Bush (Senior) vor knapp drei Jahrzehnten umgesetzt, sind Trump ein Gräuel. Dass der Herr des Weißen Hauses in Washington hier erneut den Hebel umlenkt, verwundert nicht, hat er doch in den zurückliegenden Jahren alle vertrauensbildenden Maßnahmen attackiert. »America first« heißt, keine vertraglichen Begrenzungen mehr zu akzeptieren, sich durch nichts und niemanden fesseln zu lassen.

Zur Vorbereitung der Kündigung des Vertrages hat die Washingtoner Administration wie gewohnt auf »Vernebelungstaktik« gesetzt. Im Oktober 2019 begründete Trump seine Absicht, Open Skies zu kündigen, mit dem Hinweis, dieser Vertrag habe keinen strategischen Nutzen mehr für die USA, »da mit Satelliten bessere Beobachtungsergebnisse« zu erzielen seien. Schon drei Jahre zuvor hatte das State Department festgestellt, die Überflüge nach dem Open-Skies-Vertrag bieten nur »wertvolle Informationen, insbesondere für unsere Verbündeten und Partner, die nicht die gleichen Überwachungsfähigkeiten haben wie die USA«. Einen Monat später, im November vergangenen Jahres, lautete der Vorwurf in Washington, Russland nutze den Vertrag zur Spionage. Allerdings geht der Spionagevorwurf ins Leere, denn die Beobachtungsflüge werden nicht nur kooperativ vereinbart, sondern auch gemeinsam durchgeführt.

Der Open Skies-Vertrag erlaubt den 34 Vertragsstaaten – USA, Kanada, Russland sowie weitere 31 europäische Länder – mehrfach im Jahr kurzfristig angekündigte Überwachungsflüge im gesamten Luftraum »zwischen Vancouver und Wladiwostok«. Die Flüge dienen unter anderem dazu, die Einhaltung des 1990 ebenfalls im Rahmen der KSZE vereinbarten Vertrags über die Begrenzung konventioneller Waffen und Streitkräfte in Europa (KSE) zu kontrollieren. Der Open-Skies-Vertrag ist, so das Auswärtigem Amt in Berlin, das einzige Rüstungskontrollinstrument, das das komplette Territorium der USA und Russlands einbezieht.

Nach Angaben der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fanden in den letzten 18 Jahren insgesamt 1.500 Beobachtungsflüge[2] statt, davon rund 500 über russischem und belarussischem Territorium durch die USA (200) und andere NATO-Staaten (300). Russland führte dagegen nur 70 Flüge über US-Territorium durch, doch weit mehr über den NATO-Staaten Europas. An den Flügen nehmen sowohl Vertreter der beobachtenden als auch der beobachteten Staaten teil. Alle Vertragsstaaten erhalten die auf den Flügen gewonnenen Bildsequenzen, die einer gemeinsamen technischen Qualitätskontrolle unterzogen werden.

In der heutigen Zeit weltumspannender Satellitennetze haben Flugzeug-Aufklärungsmissionen nicht mehr die Bedeutung, wie noch zu den Hochzeiten des Kalten Krieges. Sie sind jedoch insbesondere für jene Staaten von hohem Wert, die keine eigenen Satelliten besitzen. Und wenn russische, europäische und amerikanische Soldaten gemeinsam das Territorium des »Gegenspielers« inspizieren, lässt man die Fakten gemeinsamer Bilder sprechen, was in Zeiten von deep fakes nicht zu unterschätzen ist.

Im Mai 2020 muss eine »Vertragsverletzung« des »Schurken« Wladimir Putin in Moskau für die Kündigung des Vertrages herhalten: Dieser habe unzulässigerweise die Genehmigung von Kontrollflügen über der Exklave Kaliningrad, wo Washington die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen vermutet, eingeschränkt und einen zehn Kilometer breiten Streifen an den umstrittenen Grenzen Georgiens festgelegt, der nicht überflogen werden darf. Hintergrund ist der Konflikt um Abchasien und Südossetien.

Nach Auffassung von Wolfgang Richter von der SWP-Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, die die Bundesregierung in außenpolitischen Fragen berät, liegt jedoch »eine essentielle Einschränkung der Vertragsimplementierung (material breach) nicht vor«.[3] Die von Moskau an der russischen Südgrenze praktizierte Vertragsregel schränke die Beobachtungsflüge nicht ein. Zudem weist Richter darauf hin, dass die Sensoren, die bei den Beobachtungsflügen genutzt werden, »äußerst leistungsfähig« sind, und deshalb die 10-Kilometer-Zone »für die Erkenntnisgewinnung nur von geringer Bedeutung« ist. Auch die Einschränkung, dass die Flüge über Kaliningrad 500 Kilometer nicht überschreiten dürfen, sei üblich. Tschechien lasse lediglich 600 Kilometer weite Flüge zu, Deutschland 1.200 Kilometer. »Für eine Vertragskündigung ist daher kein ausreichender Grund erkennbar. Vielmehr scheint es sich um eine grundsätzliche Entscheidung der Trump-Administration zu handeln, mit der sie erneut ihr wachsendes Misstrauen gegenüber multilateralen Vereinbarungen zum Ausdruck bringt«, so Richter.

Es ist zu vermuten, dass Washingtons neuestes Kündigungsschreiben nur die Ouvertüre zum eigentlichen Paukenschlag ist. Denn am 5. Februar 2021 läuft der letzte große bilaterale atomare Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland, das New-START-Abkommen zur Reduzierung nuklearer strategischer Angriffswaffen von 2010, aus. Wenn es bis dahin keinen Ersatz gibt, wären Russland und Amerika nicht mehr an Obergrenzen für die Stationierung atomarer Langstreckenraketen gebunden, und die letzte noch verbleibende Säule der atomaren Rüstungskontrolle wäre eingerissen.

Der US-Präsident wolle auch China zur Abrüstung von Interkontinentalraketen bringen, so die Botschaft aus dem Weißen Haus. Dass sich die Volksrepublik ausgerechnet jetzt, da seine Beziehungen zu den USA auf einem neuen Tiefpunkt angelangt sind, zu einem trilateralen Abrüstungspakt bereitfindet, wirkt nicht gerade plausibel. Deshalb spricht vieles dafür, dass der von Trump verlangte Beitritt Chinas zum New-START-Abkommen ein Ablenkungsmanöver ist, das den Vorteil besitzt, einen weiteren »Schurken« anprangern zu können: den chinesischen Präsidenten Xi Jinping.

Russland hat auf die Kündigung des Open Skies-Vertrags durch die USA nicht wie beim INF-Vertrag mit dem Ausstieg reagiert. Der stellvertretende Außenminister Alexander Gruschko erklärte der russischen Agentur Ria Nowosti zufolge, solange der Vertrag in Kraft bleibe, wolle sich Russland »voll und ganz an alle Rechte und Verpflichtungen halten, die sich für uns aus diesem Abkommen ergeben«. Und mit Blick auf die europäischen Staaten brachte er die Hoffnung zum Ausdruck, dass dies die weiteren im Abkommen verbleibenden Länder auch gewissenhaft machen würden. Das könnte durchaus der Fall sein. Denn nicht nur Russland, sondern auch viele kleinere NATO-Staaten haben ein Interesse an dem Vertrag – auch weil sie über keine Satelliten verfügen.

So ist nur logisch, dass die USA von ihren NATO-Partnern keine Unterstützung bekommen. In einer gemeinsamen Erklärung[4] haben elf EU-Außenminister den Ausstieg der USA aus dem Abkommen »bedauert«, die rüstungskontrollpolitische Bedeutung des Vertrages hervorgehoben und an Washington appelliert, an dem Vertrag festzuhalten. Wie schon beim INF-Vertrag unterstützt der deutsche Außenminister jedoch erneut die US-Vorwürfe gegenüber Russland. So wird Heiko Maas mit der Äußerung zitiert, die Kündigung des Abkommens sei zwar »nicht gerechtfertigt«; allerdings gebe es »auf der Seite Russlands ... Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Vertrags«, und deshalb müsse man »Druck auf Moskau« ausüben (FAZ, 23.5.2020). Hoch lebe die »transatlantische Vasallentreue«, auch wenn diese die eigene Bevölkerung gefährdet.


[1] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: INF-Vertrag – Donald Trump zerstört »zentrale Säule der atomaren Rüstungskontrolle«, SozialismusAktuell.de, 13.8.2019.
[2] Die Zahl der zulässigen Beobachtungsflüge richtet sich nach einem Quotensystem, das die Größe der Staaten berücksichtigt. Über den USA und Russland, das mit Belarus eine Vertragsunion bildet, sind jeweils 42 Beobachtungsflüge pro Jahr möglich, über Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Ukraine und Türkei jeweils 12. Für die übrigen Staaten gelten abgestufte Regelungen bis zu nur zwei Flügen für kleinere Staaten wie Portugal.
[3] Wolfgang Richter: Angriff auf den Open-Skies-Vertrag. Präsident Trump will den Vertrag über den Offenen Himmel kündigen. SWP-Aktuell, Nr. 38, Mai 2020.
[4] Erklärung der Außenministerien Belgiens, Deutschlands, Finnlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Portugals, Spaniens, Schwedens und der Tschechischen Republik zur Ankündigung der USA, aus dem Vertrag über den Offenen Himmel auszutreten. Quelle: auswaertiges-amt.de, 22.5.2020.


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