13. Mai 2020 Otto König/Richard Detje: Covid 19 – Türöffner für digitale Überwachung?

Mit Grundrechtseingriffen gegen die Pandemie

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Wir werden auch in Zukunft Pandemien erleben. Wie wird der Staat dann reagieren? »Wo sind die Grenzen für Grundrechtseingriffe, die selbst in höchster Not nicht überschritten werden dürfen?«, fragt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (2.5.2020).

Die Bundesbürger haben in den letzten Wochen die weitestgehenden Freiheitsbeschränkungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfahren. Dem Bemühen, die Kurve der Neuinfektionen mit dem Corona-Virus nach unten zu drücken, werden Grundrechte untergeordnet wie das Recht auf Freizügigkeit, die Versammlungs- und Religionsfreiheit, die Berufsfreiheit sowie das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung.

Und das ohne Aktivierung der Notstandsgesetze. Zur Erinnerung: 1968 hatte der Bundestag gegen heftigen Widerstand Änderungen des Grundgesetzes beschlossen, die der Exekutive weitreichende Kompetenzen im Kriegsfall, bei Aufständen und im Katastrophenfall zubilligt. Doch auch das Infektionsschutzgesetz und das Polizeirecht räumen der Exekutive – der Kanzlerin, den Minister*innen und Ministerpräsident*innen – weitreichende Befugnisse ein, Grundrechte außer Kraft zu setzen.

Das Dilemma: Solange es keine erprobten und zugelassenen Impfstoffe gibt, kann die Übertragung des Virus nur durch räumliche Distanzgebote eingeschränkt werden. Demokratie lebt hingegen von kollektiver Willensbildung, kollektivem Protest und kollektiven Forderungen. Die Grenzen dessen, was man gelegentlich als »digitale Demokratie« bezeichnet, sind in den letzten Wochen deutlich geworden; Internet und soziale Medien ersetzen nicht die nicht-digitale Kommunikation.

Dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen die parlamentarischen Gremien allein zur Demokratiesicherung nicht ausreichen; die Rolle der Zivilgesellschaft ist größer und unverzichtbar geworden. Was aber, wenn die Gesellschaftsmitglieder nur noch singulär in Erscheinung treten können?

Im Rahmen einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach stimmten 79% der Befragten zu, dass alles gegen die Pandemie getan werden müsse, »auch wenn die Freiheit der Menschen dadurch eingeschränkt wird«.[1] Für etwaige künftige Regierungen bilde das derzeitige Reaktionsmuster der Bevölkerung einen Präzedenzfall, so der Autor der Befragungsstudie, Thomas Petersen: »Theoretisch muss man eine tatsächliche oder auch nur angenommene Gefahr nur stark genug ausmalen: eine drohende Klimakatstrophe, eine riesige Einwanderungswelle, gewaltige soziale Verwerfungen – scheint die Bedrohung groß genug, sind viele bereit, ihre Grundrechte zurückzustellen.« Prantl nennt es »einen virologisch-publizistisch-politischen Verstärkerkreislauf, bei dem man noch nicht weiß, wohin er führt und wann er endet – und was er mit der Gesellschaft und der Demokratie macht«.

Mit der Begründung, »das Leben von Menschen zu schützen und zu wahren«, wurde in Folge der »Kontaktsperre«, die nach den aktuellen Beschlüssen gelockert, aber bis 6. Juni gelten soll, auch die Versammlungsfreiheit erheblich eingeschränkt werden – auf maximal zwei Menschen im öffentlichen Raum, ausgenommen Personen, die in einem Haushalt leben. Damit wurde auch das Streikrecht befristet eliminiert, denn Streiks in und vor Betrieben sowie auf öffentlichen Plätzen sind nun mal Ansammlungen von möglichst vielen abhängig Beschäftigten.

In der Konsequenz heißt das: In den Fabriken dürfen sie zum Teil unter miserablen Arbeits- und Gesundheitsschutzbedingungen arbeiten, aber gleichzeitig wurde ihnen ihr Druckmittel im Kampf gegen die soziale Schieflage und die Folgen der Corona-Krise entzogen. Tatsächlich gerät mittlerweile der Versuch, eine winzige Demonstration anzumelden, zum bürokratischen Hürdenlauf. Das bekamen viele Initiatoren zu spüren, die unter Beachtung aller Gesundheitsregeln öffentliche Präsenz am »Tag der Arbeit« angemeldet hatten.[2]

Wenn es der Polizeibehörde überlassen bleibt, das »Konzept« einer Manifestation zu überprüfen und zu genehmigen, dann hat das nur noch wenig mit »Demonstrationsfreiheit« zu tun. Damit wird politische und soziale Teilhabe ausgebremst, Versammlungsfreiheit und das Streikrecht ausgehebelt.

Dies ist ein verfassungsrechtliches Desaster, dem das Bundesverfassungsgericht Mitte April 2020 zumindest ansatzweise Einhalt geboten hat. So sind generelle Verbote per Verordnung durch Polizei und Ordnungsbehörden ohne Prüfung des Einzelfalls unzulässig (Az. 1 BvR 828/20). Auch in Zeiten von Corona müssen Versammlungen, so die Richter, unter geeigneten Auflagen zugelassen werden. Inzwischen haben Gerichte bundesweit eine Reihe von Versammlungsverboten aufgehoben, die auch dann erlassen wurden, wenn sich Veranstalter zu rigorosen Vorsichtsmaßnahmen verpflichtet hatten.

Solche Entwicklung dürfen nicht kritiklos hingenommen werden. Zumal in Krisenzeiten Regierende dazu neigen, nach dem Prinzip »der Zweck heiligt die Mittel« gesetzliche Grenzen auszutesten. So hat die schwarz-gelbe NRW-Landesregierung ihr Vorhaben einer Dienstpflicht für medizinisches Personal erst nach heftigen Protesten der Gewerkschaften und der Opposition zurückgezogen.

Auch Initiativen des Bundesgesundheitsministers sind Beispiele für eine Handlungsspielräume erweiternde Exekutive. Mit der Vorlage des zweiten »Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« sollte die Bundesregierung in die Lage versetzt werden, allein zu entscheiden, wann diese Lage eingetreten sei. Damit kam sie nicht durch. Der Bundestag muss die »epidemische Lage von nationaler Tragweite« ausrufen, sobald eine »ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit« festgestellt wird.

Doch gleichzeitig werden eine Reihe neuer Verordnungsermächtigungen in die Hand des Bundesgesundheitsministers gelegt.[3] Diese Feststellungsermächtigung des Bundestags ist befristet bis zum 31.3.2021; auch vom Bundesgesundheitsminister in einer epidemischen Lage ohne Zustimmung des Bundesrates erlassene Rechtsverordnungen treten erst danach außer Kraft, falls der Bundestag die Lage nicht früher aufhebt.

In der Debatte um die Technologie für eine »Corona-App« favorisierte Spahn erst die zentrale Speicherung der Verdachtsdaten auf die Covid-19-Infektion, dann aber schwenkte die Bundesregierung auf die dezentrale Lösung ein. Ähnlich das Vorgehen beim Thema »Immunitätsausweis«: Zunächst hatte das Bundeskabinett auf Initiative des Bundesgesundheitsministers beschlossen, dass ein Immunitätspass den Menschen, die das Coronavirus nicht mehr weitergeben können, Sonderrechte einräumen könnte.

Nach breitem Protest von Patienten- und Behindertenverbänden sowie der parlamentarischen Opposition wurden die entsprechenden Passagen, die einer sozialen Stigmatisierung Tür und Tor geöffnet hätten, wieder aus dem »zweiten Bevölkerungsschutzgesetz« gestrichen. Seine Rückzieher nennt Spahn dann »Debatte«, tatsächlich nimmt er seine Vorschläge nicht vom Tisch, sondern gibt sie weiter, in diesem Fall an den Deutschen Ethikrat mit der Bitte um Stellungnahme.

Auch angesichts solcher Vorstöße warnt der US-amerikanische Whistleblower Edward Snowden vor einem weiteren Schritt in den Überwachungsstaat. Das Tracking, die digitale Überwachung sozialer Kontakte »zur Virus-Prävention«, könnte Türöffner für viel umfassendere Maßnahmen werden. In Niedersachsen werden bereits von einigen Gesundheitsbehörden persönliche Daten von Corona-Infizierten und Kontaktpersonen an die Polizei gemeldet. In Hessen und NRW fliegen Polizei-Drohnen über öffentliche Parkflächen, um die Corona-Kontaktregeln aus der Luft zu überwachen und Menschen im öffentlichen Raum per Lautsprecher zur Einhaltung der »Disziplin« zu ermahnen.

In den zurückliegenden Tagen war es in verschiedenen Städten immer wieder zu Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Corona-bedingten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit gekommen. Allein in Baden-Württemberg fanden am Wochenende des 9./10. Mai rund 70 Versammlungen mit zusammen etwa 19.000 Teilnehmern statt.

Dabei wurden Gesundheitsauflagen (Abstandsgebot, Maximalteilnehmer*innenzahl, Mund-Nasenschutz usw.) missachtet. Nicht zufällig, sondern von Seiten von Pandemieleugnern und Verschwörungsanhängern bewusst inszeniert – so auch am 11. Mai im thüringischen Erfurt, »darunter Landes- und Kommunalpolitiker der AfD, Anhänger der rechtsextremistischen Kleinpartei ›Der dritte Weg‹ und Unterstützer der islamfeindlichen Gruppierung ›Erfurt zeigt Gesicht‹.«[4]

Wo diese nicht selbst Kundgebungen organisieren, versuchen sie nach Einschätzung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena Proteste mit einem »diffusen Spektrum an Teilnehmern« (Impfgegner, Esotheriker, Menschen mit Existenz- und Bedrohungsängsten oder entfesselte Individualisten) zu »unterwandern«. Um einen gesicherten Corona-Exit geht es dabei nicht, um Demokratiesicherung schon gar nicht, sondern um das Gegenteil: das Schüren von Verunsicherung, Ressentiments, rechtsextreme Elitenkritik, Demokratiezersetzung.

Mit Wirkung zum 13. Mai hat die Thüringer Landesregierung unter Bodo Ramelow die Einschränkung von Versammlungen auf maximal 50 Teilnehmer*innen aufgehoben, selbstverständlich unter Beachtung von Sicherheitsauflagen. Es bleibt abzuwarten, wie die extreme Rechte in dem Bundesland, in dem sie ihre Hochburgen hat, darauf reagiert.

Eine demokratisch geführte Debatte über eine nachvollziehbare Exit-Strategie steht damit auf der Tagesordnung. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer fragt zu Recht: »Werden die aktuellen Einschränkungen unserer Freiheit vollständig wieder verschwinden oder werden neue Kontrollregime auf Dauer eingerichtet, nur mit anderer Begründung?«

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verspricht, die Grundrechtseinschränkungen werden »nicht länger dauern als unbedingt erforderlich«. Die Erfahrungen mit den großen Sicherheits-, Not- und Ausnahmegesetzen in den zurückliegenden Jahrzehnten sprechen nicht gerade dafür. So weist Heribert Prantl darauf hin, dass alle Sicherheitsgesetze nicht nur nicht aufgehoben wurden, »sie wurden auch noch ausgebaut und verschärft, und wenn das Bundesverfassungsgericht sie storniert hat, wurden sie – wie die Vorratsdatenspeicherung – etwas verändert reaktiviert«.[5] Das kann dazu führen, dass Einschränkungen bleiben, auch wenn die Pandemie gebannt ist, dann allerdings mit der Begründung, einer neuen Pandemie vorbeugen zu müssen.

Anmerkungen

[1] Thomas Petersen: Gefahr für die Freiheit, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.4.2020.
[2] Der Beschluss des DGB-Bundesvorstandes, in diesem Jahr keine 1. Mai-Kundgebungen durchzuführen, halten wir politisch für ein falsches Signal. Selbst wenn es richtig war, auf größere Kundgebungen zu verzichten, hätte es vielfache andere Formen gegeben den »Tag der Arbeit« in der Öffentlichkeit zu begehen. Wie es gehen kann, zeigten z.B. rund 200 IG Metaller*innen der Geschäftsstelle Ennepe-Ruhr-Wupper, die in ihrem Auto sitzend im Autokino Gevelsberg ihren Kampftag lautstark verteidigt haben. Ähnliche Aktionen wurden in Frankfurt a.M. und andernorts durchgeführt, um zumindest symbolische Repräsentanz zu zeigen.
[3] Bevor der Bundestag am 25. März die »epidemische Lage von nationaler Tragweite« festgestellt hatte, waren bereits per erstem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) weitreichende Kompetenzen zum Erlass von Rechtsverordnungen eingeräumt worden – ohne dass dabei Bundesrat oder Bundestag mitentscheiden konnten.
[4] https://www.mdr.de/thueringen/corona-demo-spaziergang-erfurt-gera-polizei100.html
[5] Heribert Prantl: Verfallsdatum. Viele Grundrechtseingriffe werden womöglich auf Dauer bleiben – zur Vorbeugung, Süddeutsche Zeitung, 25.4.2020.

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