4. Februar 2020 Otto König/Richard Detje: 100 Jahre Betriebsrätegesetz – 100 Jahre Kampf um Demokratisierung der Wirtschaft

Mitbestimmungsrechte ausweiten

Demonstration am 13. Januar 1920 vor dem Reichstag in Berlin.

Heute vor 100 Jahren, am 4. Februar 1920, trat das erste Betriebsrätegesetz (BRG), Vorläufer des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG), in Kraft. In den Kämpfen um die Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten ging es seitdem immer um Machtfragen, um die Demokratisierung der Wirtschaft. Denn ohne soziale Bürger- und Teilhaberechte gibt es keinen Weg zur Humanisierung und zu sozialer Gerechtigkeit.

Frank Deppe weist zu Recht darauf hin, dass »bis heute … die zentralen Elemente der Wirtschaftsordnung und der Arbeitsverfassung – Tarifverträge, die Regelungen zur Arbeitszeit sowie zur Mitbestimmung im Unternehmen wie im Betrieb (Betriebsräte) – immer wieder heftig umkämpft [sind]. Sie sind Ausdruck der politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit, das in letzter Instanz über die Inhalte der jeweils vereinbarten gesetzlichen Regelungen und rechtlichen Vereinbarungen (als ›Klassenkompromiss‹) entscheidet.«[1]

Hatte die Regierung des Deutschen Reiches noch Ende Februar 1919 vollmundig proklamiert, dass »kein Mitglied des Kabinetts daran denke, das Rätesystem in irgendeiner Form in die Verfassung aufzunehmen«, wurden wenige Monate später im August die betrieblichen Arbeiterräte verfassungsrechtlich anerkannt.

In dem von Hugo Sinzheimer (SPD), Rechtsberater des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV), formulierten Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung hieß es: »Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten.« Es war die gesetzliche Festschreibung einer Praxis, die sich im Zuge der Novemberrevolution in den Betrieben herausgebildet hatte – gewählte Arbeiterräte, die die Belegschaften gegenüber den Unternehmensleitungen vertraten.

Die Verfassung räumte den Räten eine sich auf wirtschaftliche und soziale Fragen erstreckende betriebliche Regelungskompetenz ein: »Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, in gleichberechtigter Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken« (Artikel 165).

In dem Entwurf des BRG, der in die Nationalversammlung eingebracht wurde, war von der ursprünglich angedachten »Kontrolle« der Betriebsleitung durch die Vertreter der Belegschaft jedoch keine Rede mehr, stattdessen sollten die Arbeiterräte auf eine »Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke« festgelegt werden. § 1 des BRG: »Zur Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellten) dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke sind in allen Betrieben, die in der Regel mindestens zwanzig Arbeitnehmer beschäftigen, Betriebsräte zu errichten.«

Die Unzufriedenheit der Belegschaften über die verhältnismäßig geringen Befugnisse ihrer betrieblichen Vertreter im BRG-Entwurf manifestierte sich am 13. Januar 1920 in einer Demonstration mit rund 200.000 Arbeitern vor dem Berliner Reichstagsgebäude, die unter dem Motto stand: »Heraus zum Kampf gegen das Betriebsrätegesetz, für das revolutionäre Rätesystem!« Während die Abgeordneten im Reichstag debattierten, eröffnete draußen die Sicherheitspolizei mit Maschinengewehren und Karabinern das Feuer auf die unbewaffneten Demonstranten aus den Betrieben. Die Bilanz der bis heute blutigsten Demonstration in der deutschen Geschichte: 42 Tote und weit über 100 Verletzte.[2]

Am 18. Januar 1920 verabschiedeten die Reichstagsabgeordneten das Betriebsrätegesetz in dritter Lesung gegen die Stimmen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und der Kommunistischen Partei (KPD), deren Vertretern das Gesetz nicht weit genug ging, sowie der nationalliberalen DVP und der konservativ-reaktionären DNVP, die Belegschaftsvertretungen grundsätzlich ablehnten. Trotz aller berechtigter Kritik war das BRG gleichwohl ein wichtiger Schritt hin zu einer neuen Betriebsverfassung.

Es waren die Nationalsozialisten, die 1933 nach der Machtübernahme mit der Beseitigung des Betriebsrätegesetzes und dem ein Jahr später erlassenen Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital und beider unter den nationalsozialistischen Staat festschrieben. So hieß es gleich zu Beginn des AOG: »Im Betriebe arbeiten der Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat. Der Führer des Betriebes entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten, soweit sie durch dieses Gesetz geregelt werden. Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten.« An die Stelle der Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten trat die völkische Arbeitsgemeinschaft.

Nach Ende der Naziherrschaft im Frühjahr 1945 knüpften die Gewerkschafter »der ersten Stunde« wieder an das Betriebsrätegesetz 1920 an und forderten Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, bei Einstellungen und Entlassungen sowie weitergehende Informationsrechte. Gesamtwirtschaftlich sollte eine Neuordnung durch wirtschaftsdemokratische Steuerung erfolgen. Allerdings verschlechterten sich die politischen Rahmenbedingungen für den gewerkschaftlichen Kampf in der neuen »Bonner Republik« zunehmend. Die fortschreitende Restauration der alten Besitz- und Machtverhältnisse, sanktioniert durch den Wahlsieg der CDU bei der Bundestagswahl 1949, verhinderte tiefgreifende Veränderungen.

Nach heftigen Protestkundgebungen und einem Zeitungsstreik ließ sich die von der CDU/CSU geführte Koalitionsregierung mit der FDP und der rechten Deutschen Partei (DP) erneut auf Gespräche mit dem DGB über die Mitbestimmung für die Arbeitnehmer ein, die jedoch ohne Ergebnis endeten. Am 19. Juli 1952 verabschiedete der Bundestag gegen die Stimmen von SPD und KPD das Betriebsverfassungsgesetz von 1952.

Die Neuordnungsvorstellungen des DGB zur Demokratisierung der Wirtschaft in der Bundesrepublik waren gescheitert. Die zuvor mit Streikdrohungen erkämpfte paritätische Mitbestimmung blieb auf die Montanindustrie beschränkt. Während die Arbeitgeber jubelten, dass »die Entscheidungsfreiheit des Unternehmers über die wirtschaftliche Führung seines Betriebes und die Freiheit unternehmerischer Initiative erhalten geblieben sind«, kritisierte der IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner den restaurativen Charakter des Gesetzes: »Die dem Gesetz innewohnende Ideologie entspricht einer Zeit, die wir 1945 für allemal überwunden glaubten.«[3]

Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), das zwischenzeitlich zwei Mal novelliert wurde, sieht vor, dass in Betrieben mit mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen ein Betriebsrat gewählt werden kann. Eine Pflicht, dass dies auch tatsächlich geschieht, gibt es nicht. Während die betriebliche Mitbestimmung für Arbeitnehmer*innen zumindest begrenzte Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen geschaffen hat, ist sie für Arbeitgeber vor allem in Klein- und Mittelbetrieben auch heute noch eine lästige Beschränkung der Direktionsrechte. Aber auch bei den großen Playern der »new economy« werden Betriebsratsgründungen aktiv bekämpft. Dazu dient nicht selten die von spezialisierten Rechtsanwaltskanzleien praktizierte Methode des »Union Busting«.[4]

Die Datenlage über die tatsächliche Zahl von gewählten Betriebsräten bundesweit ist nicht ganz eindeutig, da es keine Berichtspflicht über die Einrichtung von Betriebsratsgremien gibt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) spricht von 180.000 Betriebsratsmitgliedern in rund 28.000 Betrieben. Allein im Organisationsbereich der IG Metall sind nach Angaben der Gewerkschaft 78.000 Betriebsratsmandate in rund 11.000 Betrieben zu vergeben. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesarbeitsagentur für Arbeit[5] gab es 2016 nur in 9% der Betriebe einen Betriebsrat.

Die Abhängigkeit von der Betriebsgröße ist eindeutig. Während nur 5% der Betriebe im Westen und 6% der Betriebe im Osten mit bis zu 50 Beschäftigte einen Betriebsrat aufweisen, ist es in Großbetrieben über 500 Beschäftigte annähernd umgekehrt: 82% mit Betriebsrat im Westen und sogar 95% in den ostdeutschen Bundesländern. Da der Westen der Republik deutlich mehr Großbetriebe aufweist, ist der Anteil der Beschäftigten, die durch einen Betriebsrat vertreten werden, im Westen mit 43% deutlich höher als im Osten mit 34%.

Während in der Versorgungswirtschaft (Energie, Wasser, Abfall, aber auch Bergbau) 82% der Beschäftigten einen Betriebsrat in ihrem Unternehmen haben, und im Verarbeitenden Gewerbe zwei Drittel in den Schutz betrieblicher Interessenvertretung kommen, sind »betriebsratsfreie Zonen« häufig im Handwerk, im Baugewerbe, im Einzelhandel, in der Gastronomie und in den sozialen Diensten zu finden.

Die letzte Reform der Betriebsverfassung liegt fast zwei Jahrzehnte zurück. Die Veränderungen im Zuge der Novellierung des BetrVG 2001 entsprach zwar nicht den Erwartungen der Gewerkschaften, sie eröffneten dennoch neue Handlungsmöglichkeiten: Initiativen zur Sicherung der Beschäftigung können ergriffen werden (§ 80 Abs.1), das Initiativ- und Beratungsrecht wurde gestärkt (§ 92a), Beschäftigte können als sachkundige Auskunftspersonen bei arbeitspolitischen Regelungen herangezogen werden (§ 80 Abs.2 Satz 3). Bei Betriebsänderungen können in Betrieben mit mehr als 300 Beschäftigten externe, arbeitnehmerorientierte Berater hinzugezogen werden (§ 111 Abs.1).

Betriebliche Mitbestimmung ist kein alter Hut. Gerade angesichts der weitreichenden Umbrüche in der Arbeitswelt ist der Ausbau der Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte notwendiger denn je. Der technologische Wandel im Zuge der Digitalisierung bringt neue Formen der Arbeitsgestaltung und -organisation mit sich und konfrontiert die betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertreter*innen auch im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Dekarbonisierung der Wirtschaft verstärkt mit dem Thema Beschäftigungssicherung.

Dabei werden die eklatanten Lücken bisheriger Mitbestimmung noch deutlicher: Zum einen haben Betriebsräte außerhalb des Leistungslohns kaum Einfluss auf die Leistungsbedingungen, sodass die betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung sich auf den mühevollen Weg gemacht hat, Personalbemessungen tarifvertraglich, z.T. im Häuserkampf, zu erkämpfen. Zum anderen kann von wirksamer Mitbestimmung keine Rede sein, solange Investitionsentscheidungen allein den Eigentümern bzw. dem Management vorbehalten werden.

Fragen des Wie, Was und Wofür von Produktion und Diensten werden bis heute autokratisch entschieden. In einer Zeit grundlegenderer Veränderungen von Technologieentscheidungen, des Auslaufens alter Produktzyklen und der Suche nach neuen Märkten, der Veränderung von Wertschöpfungsketten und damit der Position und Rolle von Unternehmen tritt der undemokratische Charakter dieser Wirtschaftsordnung neu hervor.

Wir meinen, dass in den Gewerkschaften die Debatte um eine der gegenwärtigen Transformation gerecht werdende Wirtschaftsdemokratie auf die Tagesordnung gehört – betrieblich, unternehmenspolitisch, gesamtwirtschaftlich und im Rahmen regionaler Strukturpolitik. Es ist ein Anachronismus, dass die Personalplanung (damit auch Qualifikationsentwicklung) nicht in toto einer paritätischen Mitbestimmung unterliegt.

Ein Anachronismus, der der Tatsache geschuldet ist, dass Unternehmer und Management jeden Eingriff in ihre Steuerungs- und Herrschaftsbefugnisse sogleich als Einschränkung der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« kritisieren. Ein absolut fehlgeleitetes Argument, geht es doch gerade darum, demokratische Entscheidungen in Kernbereichen eines autokratischen Systems einzuführen.

In einer Zeit der ökologisch-sozialen Transformation von Arbeit 4.0 gehört demokratische Wirtschaftssteuerung neu auf die Tagesordnung, in deren Kontext eine neue Zukunftsdebatte über die Humanisierung der Arbeit ihren wichtigen Platz hat. 100 Jahre nach Inkrafttreten des Betriebsrätegesetzes von 1920 sollte die Zeit dafür reif sein.

Anmerkungen

[1] Frank Deppe: Das Stinnes-Legien-Abkommen, in: Isaf Gün/Benedikt Hopmann/Reinhold Niemerg (Hrsg.), Gegenmacht statt Ohnmacht. 100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz: Der Kampf um Mitbestimmung, Gemeineigentum und Demokratisierung (Reihe WIDERSTÄNDIG), Hamburg 2020, S. 33.
[2] Siehe hierzu Axel Weipert: Die Demonstration am 13. Januar 1920 gegen das Betriebsrätegesetz, in: ebd., S. 62f.; sowie ders.: Die blutigste Demonstration in Deutschland, GEGENBLENDE, Debatten-Magazin des DGB, 13.1.2020.
[3] Vgl. Frank Deppe: Betriebsverfassung, Wirtschaftsdemokratie und Wettbewerbsstaat, in: Sozialismus 5/2001.
[4] Richard Detje/Otto König: Betriebsrats-Bashing: drohen, stänkern, kündigen!, WSI-Studie: Störfeuer gegen Betriebsratsgründungen, in: Sozialismus 12/2016.
[5] Peter Ellguth/Susanne Kohaut: Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung. Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2016, in: WSI-Mitteilungen 4/2017.

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