27. Juli 2022 Redaktion Sozialismus.de: Wir trauern um Pitt Kisker (16.11.1932-24.7.2022)

Nachruf auf einen großen Lehrer

Foto: Bernd Wannenmacher

Unser Freund und langjähriger politisch-theoretischer Weggefährte Klaus Peter Kisker, den wir alle nur als Pitt kannten, ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Wir trauern mit seinen Angehörigen und zahlreichen Schüler*innen um einen großen Lehrer.

Sein zentrales Anliegen war die Entwicklung einer realistischen, deskriptiven Theorie, die in der Lage ist, historische Akkumulationsphasen in den kapitalistischen Gesellschaften zu erklären. Leidenschaftlich suchte er daher auch Student*innen und Gewerkschafter*innen für dieses Projekt eines modernen Marxismus des 21. Jahrhunderts zu begeistern.

Geboren 1932 am 16. November 1932 in Bielefeld, studierte Pitt ab 1956 an der Freien Universität Berlin Volkswirtschaftslehre, arbeitete zunächst als studentische Hilfskraft und dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften und wurde 1970 habilitiert. Schon diese Anfangsphasen der wissenschaftlichen Tätigkeit waren durch die Reformansätze gegen die Ordinarien-Universität und Demokratisierungsversuche geprägt. Pitt bekam prompt großen Ärger.

Sein zuständiger Ordinarius warf ihm schwere Illoyalität vor und beanstandete, dass er nacheinander Fakultäts-, Universitäts-, und Landesassistentenvertreter war und nur hochschulpolitisch aktiv war, anstatt sich um die Belange des Lehrstuhls zu kümmern. Er wollte ihn rausschmeißen. Erst als Pitt ihm klar machen konnte, dass dies zu einem hochschulpolitischen Skandal führen würde, hat er einen Rausschmiss erster Klasse bekommen: Er erhielt ein Habilitationsstipendium, zugleich Hausverbot in seinem Institut und durfte keine Lehre mehr machen. Damit war man den unruhigen Geist erst einmal ohne Skandal los.

Auch in der späteren Zeit als Professor gab es Versuche, ihn mittels Disziplinarverfahren wieder loszuwerden – jeweils mit fadenscheinigen Begründungen. Und selbst, nachdem er pensioniert wurde, versuchte der Fachbereich ihm die Lehrerlaubnis zu entziehen, also seine Habilitation und damit seine lebenslange Lehrbefugnis außer Kraft zu setzen. Dieser Versuch ließ sich mit Hilfe eines Anwalts gegen den Widerstand des Präsidenten verhindern.

Seither fand das »Research Seminar in Economics« kontinuierlich statt. Für das kommende Wintersemester 2022/23 plante Pitt an der FU Berlin ein wirtschaftstheoretisches Seminar »Marx Reloaded, die gegenwärtige ökonomische Entwicklung aus marxistischer Sicht« an. Ziel dieses Seminars sollte sein darüber zu diskutieren, welche Möglichkeiten die Marxistische Theorie in Verbindung mit den Ansätzen von Keynes und Schumpeter bietet, die heutigen ökonomischen Probleme zu analysieren und auf der Basis von Erkenntnissen Handlungsstrategien zu entwickeln.

Schon in den vorherigen Seminaren wurde der Frage nach der Aktualität von Marx durch eine Auseinandersetzung mit aktuellen Interpretationen und mit Marx-Kritiken nachgegangen. In diesen sehr erfolgreichen Lehrveranstaltungen, die seit Jahren durchgeführt und immer von vielen Studentinnen und Studenten besucht wurden, wurde die herrschende Lehre hinterfragt. Aus dem Seminar heraus entstanden viele polit-ökonomische Bachelorarbeiten.

Pitt Kisker hat Generationen kritischer Studierender geprägt – insbesondere, aber nicht nur am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin, seiner primären Wirkungsstätte. Er war ein Lehrer im besten Sinne des Wortes. Anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahr 2012 umschrieben Olaf Gerlach, Stefan Kalmring und Andreas Nowak, allesamt »Schüler« von Pitt, seine Haltung auf Sozialismus.de wie folgt:

»In den düsteren Gängen der bis zum Fachidiotentum fraktionierten und spezialisierten Sozialwissenschaften ist ›Interdisziplinarität‹ die ständig gepfiffene Melodie. Für Pitt jedoch war und ist diese in seinen Lehrveranstaltungen, in unzähligen Diplomarbeiten und Promotionen eine marxistische, täglich und ohne Tamtam gelebte Selbstverständlichkeit. Er ließ den Studierenden und Promovierenden die notwendigen Freiräume, durch die selbständiges Arbeiten und Denken-Lernen erst möglich wird und gab Hilfestellung, wo es gewünscht wurde. Er ist seit jeher natürlicher ein Feind der Epidemie des Bulimie-Lernens, d.h. der Abfolge von Lernen, Prüfen, Vergessen.«

Pitt war Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Und er war auch das, was man als Gewerkschaftsintellektuellen bezeichnen könnte: Seit Jahrzehnten gehörte er zum Beirat des »Forum Gewerkschaften« dieser Zeitschrift und beteiligte sich an Buchprojektes des VSA: Verlags, die auch und vor allem in Debatten über die Zukunft der Gewerkschaften intervenierten.

Pitt wollte zudem in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät daran mitwirken, dass heterodoxe ökonomische Ansätze in Forschung und Lehre vertreten sind. Darunter werden all jene Denkschulen und Traditionen des ökonomischen Denkens zusammengefasst, die in wesentlichen Punkten von der neoklassischen ökonomischen Standardlehre abweichen. Pitt war der Überzeugung, dass der Kapitalismus nicht am Ende ist, sondern, dass er immer irrationaler wird – und immer kostspieliger. Da die Schere zwischen arm und reich überall zunimmt, müsse die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie unterrichtet werden und in den modernen Formen Bestandteil der wissenschaftlichen Forschung und Diskussion sein.

Sein Credo fasste er wie folgt zusammen: »Ich bemühe mich darum, Marx an ganz bestimmten Punkten mit Keynes zu verbinden und beide dadurch weiterzuentwickeln – in revidierter oder modernisierter Form. Zum Beispiel brauchen wir dringend Kapitalverkehrskontrollen. Bis in die 80er Jahre hatten die meisten Staaten solche Kontrollen. Für die meisten OECD-Länder sind sie erst 1991 weggefallen. Wir können es uns nicht leisten, diesen spekulativen Kapitalverkehr zuzulassen. Darüber sind sich inzwischen auch Banker einig. Keynes war für strikte Kapitalverkehrskontrollen. Kapitalverkehrssteuern, wie sie Tobin vorgeschlagen hat, wären ein Schritt in die richtige Richtung.

Das ist eine notwendige, aber keine hinreichende Maßnahme, um die weltwirtschaftlichen Probleme wieder in den Griff zu kriegen, um den Staaten eine gewisse Souveränität in ihrer Wirtschaftspolitik zurückzugeben. Ein nächster Schritt wäre, den Profit neu zu definieren. Der Profitbegriff ist rein betriebswirtschaftlich definiert und als solcher gesetzlich sehr genau definiert. Dieser Begriff muss gesellschaftlicher definiert werden. Statt der bisherigen rein individualistischen Bewertungsgrundsätze müssen gesellschaftliche Grundsätze eingeführt werden. Ein Produkt, zum Beispiel ein Auto, darf nicht mehr nur nach den privatwirtschaftlichen Kosten bewertet werden, nach In- und Output, sondern auch nach den gesellschaftlichen Kosten.«

Auch die ökologischen Fragestellungen waren ihm ein wichtiges Anliegen für eine Modernisierung des Marxismus. Ausgehend von der politischen Forderung nach einer nachhaltigen Entwicklung hat er untersucht, welche ökonomischen Theorien und neueren Ansätze der ökologischen Ökonomie geeignet sind, diese Forderung theoretisch zu fundieren und gesellschaftlich durchzusetzen. Der Schwerpunkt der Analyse lag für ihn auf der Untersuchung des Einflusses von Verteilungsfragen auf die Interaktion des ökonomischen und ökologischen Systems.

Die großen Aufgaben bleiben weiterhin aktuell. Pitt bezog sich immer auf die Forderungen der SDS Denkschrift »Hochschule in der Demokratie« aus den 1960er Jahren: »Forderungen nach mehr Demokratie, Forderungen nach mehr Mitbestimmung, Forderungen nach mehr Diskussionsfreiheit, nach mehr kritischer Auseinandersetzung in den Lehrveranstaltungen sind wichtig und notwendig. Insbesondere am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften ist fundamentale Kritik an den Lehrinhalten notwendig, denn das, was bei uns gelehrt wird, ist weitgehend irrelevant.«

Diese Aufgaben werden wir zukünftig ohne unseren großen Lehrer und guten Freund Pitt stemmen müssen.

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