8. April 2024 Redaktion Sozialismus.de: Spekulationen zur Beendigung des Ukrainekriegs

NATO-Mitgliedschaft gegen Gebietsverzichte?

Munitionsmangel und fehlende US-Unterstützung machen die militärische Lage für die Ukraine im Krieg gegen Russland zunehmend schwieriger. Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Spekulationen für eine mögliche Friedenslösung zu sehen: Gebietsabtretung im Tausch gegen eine NATO-Mitgliedschaft.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von der Möglichkeit, dass sich die Ukraine möglicherweise auf »eine Art von Kompromiss« einlassen müsse. Der Ukraine solle ein sofortigen NATO-Beitritt sowie Sicherheitsgarantien angeboten werden. Dafür solle Kiew auf die von Russland besetzten ukrainischen Territorien verzichten.

Der NATO-Chef hob im Interview mit BBC hervor, dass er Kiew nicht auffordere, Zugeständnisse zu machen. Die Entscheidung liege bei der Ukraine, nicht im Westen: »Letztendlich muss die Ukraine entscheiden, zu welchen Kompromissen sie bereit ist. Wir müssen sie in die Lage versetzen, am Verhandlungstisch tatsächlich ein akzeptables Ergebnis zu erzielen.«. Gleichzeitig betonte er die Bedeutung der militärischen Unterstützung des Westens: »Wirklicher Frieden« sei erreichbar, wenn die Ukraine den Angriffskrieg abwehren kann. Eine Diskussion über mögliche Kompromisse wäre allerdings ein Fortschritt gegenüber der Annahme einer eingestandenen Niederlage Russlands.

Seit Beginn des Krieges hat die Ukraine staatliche Hilfen in Höhe von mehr als 160 Milliarden Euro erhalten. Davon flossen rund 80 Milliarden Euro in Waffenlieferungen und Militärhilfe. Die meisten Waffen stammen aus den USA. Neben Munition, Schusswaffen und Drohnen lieferten die USA auch hochmoderne Flugabwehrsysteme, schwere Fahrzeuge und Panzer.

Die europäische Militärhilfe kommt vor allem aus Großbritannien und Deutschland, wobei das Vereinigte Königreich nicht nur schwere Waffen, sondern auch Geheimdienstinformationen und Satellitenbilder liefert. Deutschland beteiligt sich mit der Lieferung von Flugabwehrsystemen, Haubitzen, Mehrfachraketenwerfern und verschiedenen schweren Kriegsfahrzeugen. Auch Polen, die baltischen und skandinavische Länder, ehemalige Ostblockstaaten wie die Slowakei, aber auch Frankreich, Spanien und Kanada beteiligen sich an Waffenlieferungen.

Im August 2023 kündigten die Niederlande und Dänemark als erste Staaten die Lieferung von mehr als 70 Kampfjets des Typs F-16 an. Diese sollen ab dem Frühjahr 2024 im Einsatz sein. Insgesamt haben bisher 40 Staaten die Ukraine militärisch unterstützt. Fast 85% der Hilfe kommt aus der EU oder den USA.

Seit Monaten blockieren in den USA die Republikaner allerdings weitere Militärhilfen. Die Warnungen aus der Ukraine werden deshalb immer schärfer. »Wir versuchen irgendwie, einen Rückzug zu vermeiden«, sagte Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj jüngst in einem Interview mit der »Washington Post«. Ohne Munition bleibe der Ukraine allerdings nur die Option, die Front zu verkürzen. Auch führende ukrainische Offiziere warnen vor einer russischen Sommeroffensive, die Durchbrüche bringen könnte.

Aktuell benötige die Ukraine besonders dringend »zusätzliche Mengen an Artilleriesystemen, zusätzliche Mengen an Munition«, sagt der Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, Kyrylo Budanow. Auf Initiative Tschechiens haben sich verschiedene EU-Staaten, darunter Deutschland, zusammengetan, um auf dem Weltmarkt hunderttausende Artilleriegranaten einzukaufen. Laut Budanow reiche dieser Munitionsnachschub an der Front »noch nicht«.

Zu konkreten Perspektiven des Krieges wollte er sich allerdings nicht äußern, aber »die Lage ist ziemlich schwierig, aber sie ist unter Kontrolle«. Er hält anders als viele Militärexperten in diesem Jahr auch eine ukrainische Gegenoffensive für möglich, die jedoch ohne dauerhafte Unterstützung des Westens »katastrophal schwierig« werde. Budanow erwartet einen deutlichen Aufschwung der Rüstungsindustrie in Europa und traut der EU zu, mögliche ausbleibende US-Hilfen auszugleichen.

Angesichts der mangelnden Munitionslieferungen aus dem Westen kurbelt die Ukraine die heimische Waffenindustrie an. Bis zum Jahresende werde man bis zu zwei Millionen Drohnen produzieren, kündigte die stellvertretende Ministerin für strategische Industrien, Anna Gvozdyar, an, bereits rund 200 ukrainische Unternehmen seien in diesem Sektor tätig, von denen knapp 60 bereits Regierungsaufträgen erhalten hätten.

Die Lage mit der Munitionsversorgung ist allerdings bereits jetzt kritisch, so dass die erste Verteidigungslinie westlich von Awdijiwka schon Ende März gefallen ist. Russland greift seither trotz großer Verluste mit Dutzenden gepanzerter Fahrzeuge weiter an. Gegen die Großstadt Charkiw werden neu aus der Distanz abgefeuerte Fliegerbomben eingesetzt, die große Schäden anrichten. Russland erhöhte außerdem seinen Raketenbeschuss auf Städte wie Charkiw und Kiew, während der Ukraine die Raketen für die Luftabwehr ausgehen. Gleichzeitig bauen die Ukrainer neue starke Verteidigungsstellungen aus. Um sie halten zu können, brauchen sie aber mehr Munition und Soldaten.

Während Russland außerdem ständig neue Soldaten an die Front wirft, kämpfen die Ukrainer seit Monaten mit gelichteten Reihen. Eigentlich sollte das Parlament in Kiew die Grundlagen für die Mobilisierung zusätzlicher Kräfte beschließen, doch das Gesetz steckt fest. Nun war es Präsident Selenskyj zu viel und er beschloss eine Senkung des Mindestalters für den Fronteinsatz, die Erstellung eines elektronischen Registers und die Klärung von Kriterien für die Tauglichkeit über die Köpfe der Angeordneten hinweg.

Selenskis Schritt kommt überraschend, da er sich bisher gescheut hatte, in der unbeliebten Thematik der Erweiterung der Armee klar Stellung zu beziehen. Die Armeeführung hatte Ende 2023 angegeben, sie brauche etwa 500.000 Mann zusätzlich. Die frischen Kräfte müssten nach zwei Jahren Krieg die Verluste ersetzen, an der Front die Möglichkeit für Rotationen schaffen und die Verteidiger mittelfristig wieder zu größeren Gegenangriffen befähigen.

Die Mobilisierung so vieler Menschen birgt aber gesellschaftliche Brisanz: Trotz allem Patriotismus haben sich die Reihen jener Ukrainer gelichtet, die enthusiastisch in die Armee ziehen. Neben der Lebensgefahr sind dafür die oft harten Bedingungen und die unterschiedliche Qualität der Offiziere mitverantwortlich. Zudem ist unklar, wie die Wirtschaft die zusätzlichen Kosten in Milliardenhöhe bewältigen würde; für die Finanzierung des Militärhaushalts darf Kiew auch auf keine Ausweitung der westlichen Hilfe erwarten.

Die Ukraine gerät militärisch zunehmend unter Druck. Zudem wirft eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps ihre Schatten voraus. Vor diesem Hintergrund sind die neuen Spekulationen einer möglichen Friedenslösung zu sehen: Gebietsabtretung im Tausch gegen eine NATO-Mitgliedschaft.

Für einen NATO-Beitritt gibt es allerdings zahlreiche Voraussetzungen. Eine davon ist, dass ein Mitgliedskandidat nicht in Streitigkeiten um Grenzverläufe oder internationale Konflikte verwickelt sein darf. Könnte diese Regelung womöglich mit einer etwaigen Abtretung der umkämpften Gebiete umgangen werden? Vergangene Woche hatte US-Außenminister Antony Blinken in Brüssel noch betont, dass die Unterstützung der Ukraine »felsenfest« sei. Und der NATO-Gipfel im Juli in Washington solle eine Brücke zur Mitgliedschaft der Ukraine bauen.

Die Alternative ist eindeutig: Entweder muss die Ukraine für die kommenden fünf Jahre weitere beträchtliche Unterstützung an Militärgütern und Finanzressourcen zur Aufrechterhaltung des Staates erhalten oder die Regierung dort lässt sich auf einen Tausch von Gebietsverzichten gegen garantierte Sicherheiten des Militärbündnisses der NATO ein.

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