18. Februar 2019 Otto König/Richard Detje: Die Münchner Sicherheitskonferenz und die Aufkündigung des INF-Vertrags

Neue Runde des atomaren Wettrüstens?

Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnen 1987 den INF-Vertrag

Mit düsteren Prognosen stimmten die Organisatoren der 55. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) die Teilnehmer*innen[1] auf die Großveranstaltung in der bayerischen Landeshauptstadt ein. Die Welt befinde sich gegenwärtig in einer »Ära der Großmachtrivalitäten«, in der »zentrale Bausteine der internationalen Ordnung« neu sortiert würden, orakelte der Leiter der Konferenz, Wolfgang Ischinger.

Der »Großmächtewettbewerb«, so heißt es in dem zur Konferenz publizierten Munich Security Report 2019 »To the brink – and back?«, sei mittlerweile in zentralen Dokumenten der US-Außen- und Militärpolitik, etwa in der Nationalen Sicherheitsstrategie, als prägender Faktor der derzeitigen internationalen Entwicklung beschrieben. Der Begriff beziehe sich explizit auf die Rivalität der USA sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber China.

Mit dem Amtsantritt von Donald Trump zeichneten sich zwei Elemente der neuen amerikanischen Außenpolitik ab. Erstens kündigte der US-Präsident internationale Vertragswerke und Abmachungen, von denen er überzeugt ist, dass sie seiner »Amerika-First«-Politik widersprechen. Zweitens bekannte sich der Hausherr des Weißen Hauses bereits vor seinem Amtsantritt zu weiterer nuklearer Aufrüstung. Zum Nuclear Posture Review vom Februar 2018 gehört die Fähigkeit, im Falle eines Konflikts über eine große Bandbreite abgestufter und flexibel nutzbarer nuklearer Optionen zu verfügen, darunter den Einsatz von Atomwaffen mit relativ geringer Sprengkraft.[2] In einer Welt wachsender Machtkonkurrenzen wollen die USA ihre militärische Überlegenheit bewahren.

So verwundert es nicht, dass sich der Munich Security Report bezüglich der künftigen Politik der Trump-Administration pessimistisch gibt. Der US-Präsident lege eine ungebrochene »Verachtung für internationale Institutionen und Vereinbarungen« an den Tag, heißt es in dem Papier.  So haben die USA Anfang Februar offiziell ihren Austritt aus dem Vertrag über »Atomwaffen mittlerer Reichweite« (INF) erklärt.[3] »Russland gefährdet seit Langem die amerikanische Sicherheit«, erklärt Außenminister Mike Pompeo. Zu lange habe Moskau das Abkommen verletzt, meldete sich zur gleichen Zeit US-Präsident Donald Trump zu Wort: »Wir können nicht das einzige Land der Welt sein, das einseitig an einen Vertrag gebunden ist.«

Im INF-Vertrag von 1987 hatten sich die USA und die damalige Sowjetunion darauf verständigt, Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu verbieten. Das Abkommen hatte dazu geführt, dass alle in West- und Osteuropa stationierten atomaren Mittelstrecken-raketen – die sowjetischen SS-20 und die amerikanischen Pershing-Raketen – verschrottet wurden. Gegen diese Raketen und die Wiederaufrüstung hatte die Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre in der Bundesrepublik Millionen Menschen mobilisiert.

Der INF-Vertrag gilt zu Recht als Meilenstein und für die europäischen Länder seit 30 Jahren als eine wichtige Sicherheitsgarantie. Mit seiner Kündigung steht einer der Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur vor dem Einsturz. Es droht das Ende der internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik und zugleich eine neue Phase des atomaren Wettrüstens, um begrenzte, nuklear geführte Kriege möglich zu machen.

Hatte die Obama-Administration kurzzeitig noch das Ende der Drohung mit einem nuklearen Erstschlag sowie den Verzicht auf die atomare Bewaffnung von seegestützten Marschflugkörpern erwogen, wurde unter Trump die Fähigkeit und der Wille zur atomaren Kriegsführung wieder in die US-Nukleardoktrin aufgenommen, die zunehmend auf kleinere und präzisere Atomwaffen setzt. Der US-Präsident erklärte Mitte Januar bei der Vorstellung des Pentagon-Bericht zur neuen Raketenabwehrpolitik, Kern seiner Strategie sei es, »jede feindliche Rakete entdecken und zerstören zu können«. Dabei gehe es nicht nur um Verteidigung, sondern auch um Angriffsoptionen.  

Trump hat immer wieder betont, dass die militärische Aufrüstung vor allem auch den Wirtschaftsstandort USA stärken müsse. Allein für die Modernisierung des US- Atomwaffenarsenals sind für die nächsten 30 Jahre unglaubliche 1,7 Billionen US-Dollar eingeplant.[4] Mit den neuen Investitionen will sich Trumps Regierung nach eigenen Worten neben ballistischen Raketen auch gegen Marschflugkörper oder Hyperschall-Raketen rüsten. Die beiden Waffenschmieden Lockheed Martin und Raytheon können sich über neue Milliardenaufträge freuen.

Der frühere Mitarbeiter des US-Außenministeriums, Pranay Vaddi, dort bis 2017 mit Rüstungs-kontrolle befasst, behauptete in einem Gespräch mit der New York Times, Russland habe den INF-Vertrag gebrochen,[5] fügte jedoch hinzu, das sei »militärisch nicht von Bedeutung« – denn es verändere das Kräftegleichgewicht in Europa nicht. Daraus folgerte die Zeitung, dass es »das tatsächliche Ziel der Trump-Administration« sei, die chinesischen Abwehrraketen auf die eine oder andere Weise zu neutralisieren. Schon im August 2011 kritisierte der heutige Nationale Sicherheitsberater John Bolton in einem Beitrag für das Wall Street Journal, »Staaten, die das Abrüstungsabkommen nicht unterzeichnet hätten, hätten massenhaft Mittelstreckenraketen angeschafft.« Durch die Stationierung eines großen Mittelstreckenraketen-Arsenals sichere sich China seine Vormachtstellung in Asien.

Laut Angaben von US-Offiziellen soll Peking inzwischen mehr als 2.000 ballistische Raketen und Marschflugkörper besitzen, die unter das Abkommen fallen würden. Entsprechend hatte der US-Präsident bereits früher angedeutet, dass eine Verlängerung des Vertrages für ihn nur bei einer Einbeziehung Chinas in Frage käme. Für Bolton heißt das: Entweder müssten Länder wie China zur Unterzeichnung des INF-Vertrags genötigt werden, »oder wir müssen ihn ganz außer Kraft setzen«, um sodann eigene Mittelstreckenraketen gegen die Volksrepublik in Stellung bringen zu können. Anders ausgedrückt: Russland ist der Sack, den man schlägt, weil der Esel – besser: der Drache – gemeint ist.

Im Unterschied zum abrupten Abrücken Trumps von internationalen Verträgen wie dem UN-Klimavertrag von Paris oder dem Iran-Abkommen bzw. dem Ausstieg aus dem UN-Menschen-rechtsrat zeigen die Regierungen der europäischen NATO-Mitgliedsstaaten beim INF-Vertrag Verständnis und stellten sich in einer Solidaritätsadresse hinter diesen Schritt der Trump-Administration. Vor diesem Hintergrund klingen die Beteuerungen des deutschen Außenministers Heiko Maas (SPD), er sei »gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen«, wenig glaubhaft.

CDU/CSU- Politiker*innen, aber auch andere konservative Parteien in europäischen Nachbarländern Ländern formulieren da offenherziger: Alle Optionen, inklusive der Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa, müssten jetzt auf den Tisch. Der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz meinte, es liege »in unserem europäischen Interesse, dass amerikanische Truppen und Atomraketen auf dem Kontinent stationiert sind«, deshalb wolle er nicht ausschließen, dass »eines Tages« auch NATO-Atomraketen in Polen stehen könnten. Warschau ist seit längerem um einen ständigen US-Militärstützpunkt im Land bemüht und deshalb geneigt, für Washington Hilfsdienste zu leisten.

»Die Nach-Kalte-Kriegs-Ära – und die allgemeine Zuversicht, die mit ihr verbunden war – ist zum Ende gekommen«, heißt es im Munich Security Report. Und der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Ischinger, beklagt: »Die europäische Sicherheitsarchitektur wird mit der Abrissbirne peu à peu zerbröselt«. Völlig unklar sei, welche Art von globaler »Ordnung« nun heraufziehe, ob möglicherweise eine Welt mit konkurrierenden »Ordnungen« im Entstehen begriffen sei – »und ob die Übergangsperiode friedlich sein wird«. Klar scheine nur, »das Interregnum« werde »eine Phase anhaltender Instabilität und Unsicherheit sein«.

Tatsächlich würde ein mögliches Ende des INF-Vertrages zu einem neuen gefährlichen atomaren Rüstungswettlauf der USA und Russlands in Europa führen; zum anderen hätte die ausbleibende Verlängerung des sogenannten New START-Abkommens, das die Anzahl der strategischen Atomsprengköpfe und ihre Trägersysteme (Interkontinentalraketen, U-Boote, Langstreckenbomber) begrenzt, einen völligen Zusammenbruch der internationalen Rüstungskontrollarchitektur zur Folge. New START läuft am 5. Februar 2021 aus: Washington und Moskau haben bisher noch keine Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen aufgenommen.

»Man wünschte sich, auf der Unsicherheitskonferenz in München wären diesmal ganz viele Staatsfrauen und Staatsmänner vom Typus eines Willy Brandt und eines Egon Bahr«, so Heribert Prantls »Blick«. Deren visionärer Pragmatismus hatten seit den 1960er Jahren vermeintlich Unmögliches zum Ziel: mit einer ideologie- und illusionsfreien Politik dem Kalten Krieg allmählich ein Ende zu machen.[6] Noch am 21. Juli 2015 habe Bahr bei einer Buchvorstellung gemahnt: »Wir könnten wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren – und beginnen, einseitig Sanktionen gegen Russland abzubauen.« Diese Mahnung wurde zu seinem Testament.

Die Friedensbewegung steht vor der Herkules-Aufgabe, gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Kräften und unterstützt von den DGB-Gewerkschaften den Kampf gegen neue, mit Atomwaffen bestückte Mittelstreckenraketen zu verstärken.

[1] Unter den rund 500 Gästen waren über 30 Staats- und Regierungschefs, 90 Außen- und Verteidigungsminister sowie Vertreter von Militär und Rüstungsfirmen – das »Who is who« des internationalen Militärisch-Industriellen Komplexes.
[2] Vgl. Peter Rudolf: US-Geopolitik und nukleare Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten, SWP-Studie Mai 2018.
[3] Russland hat den INF-Vertrag zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenwaffen als Reaktion auf die Aufkündigung des Abkommens durch die USA ausgesetzt. In Kraft treten die Austrittsankündigungen der USA und Russlands erst am 2. August. Bis dahin sind noch sechs Monate Zeit, diesen hochgefährlichen Rückschritt in eine Zeit mit erhöhter Atomkriegsgefahr noch zu verhindern.
[4] Vgl. Rolf Mützenich: Rückkehr des nuklearen Denkens, IPG 04.12.2018.
[5] Seit einigen Jahren werfen sich die USA und Russland wechselweise Vertragsverletzungen vor, ohne dass substanzielle Gespräche zu deren Klärung aufgenommen worden wären. Der Vorwurf der USA lautet, dass Russland mit dem System 9M729 (NATO-Code: SSC-8) eine landgestützte Cruise Missile mit verbotener Reichweite entwickelt und eingeführt hat. Russland weist darauf hin, dass die vorgeschobenen Stützpunkte des Raketenabwehrschirms in Polen und Rumänien zum Abschuss atomar bestückter Marschflugkörper umgerüstet werden könnten, was dem INF-Vertrag widerspricht.
[6] Vgl. Egon Bahr: Ostwärts und nichts vergessen! Kooperation statt Konfrontation. Hamburg 2012.

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