5. November 2019 Otto König/Richard Detje: Wahlen in Argentinien – Machtwechsel und Abrechnung mit dem IWF

»Neue Winde wehen und können die Richtung ändern«

Die neue Vize-Präsidentin, Cristina Fernández de Kirchner. Foto: Secretaría de Cultura de la Nación/flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Argentinien, Bolivien und Uruguay haben gewählt: Es waren jedoch die Nachrichten und Bilder über die sozialen Aufstände in den Nachbarländern Ecuador und Chile, die die krasse soziale Ungleichheit der lateinamerikanischen Gesellschaften in den Fokus rückten.

Und so unterschiedlich die öffentlichen Unruhen und die Wahlergebnisse in der Region ausfallen, lassen sich doch einige gemeinsame Schlüsse ziehen: Lateinamerika ist nicht die ärmste, aber jene Region der Welt, die die am stärksten polarisierte Verteilung des Reichtums und damit tiefe soziale Spaltungen aufweist. Der angestaute Frust und der Unmut über die neoliberale Politik der gewählten Präsidenten, aber auch des Internationalen Währungsfonds (IWF) schlägt sich in Wut und Zorn nieder und treibt wie in Chile Millionen Menschen auf die Straßen. Menschen in fast allen gesellschaftlichen Schichten sind zunehmend nicht mehr bereit, die soziale Ungleichheit widerstandslos zu akzeptieren.

Vor dem Hintergrund der desaströsen Wirtschaftskrise in Argentinien hat der Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses »Frente de Todos« (FdT), Alberto Fernández, ein peronistischer Mitte-Links-Politiker, die Wahlen mit 48,1% der Stimmen im Tandem mit der bis 2015 regierenden Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner als Vizekandidatin im ersten Wahlgang gewonnen. Der bisherige wirtschaftsliberale Amtsinhaber Mauricio Macri, unterstützt von der rechten Allianz »Juntos por el Cambio« (JF), erreichte 40,4% und wurde abgewählt. Auf dem dritten Rang landete mit 6,2% Roberto Lavagna von »Consenso Federal«, gefolgt vom sozialistischen Kandidaten Nicolás del Caño von der »Frente de Izquierda« mit 2,2%. Von den rund 34 Millionen Wahlberechtigten haben 80,86% an den Präsidentschaftswahlen teilgenommen. Mit dem ehemaligen Rechtsdozenten der Universität Buenos Aires Fernández kehrt das linke Lager nach vier Jahren in den Präsidentenpalast »Casa Rosada« zurück.[1]

Der Sieg des Wahlbündnisses »Frente de Todos« (Front aller) ist zum einen der breiten Allianz linker peronistischer Kräfte und großer Teile der Gewerkschaften zu verdanken. Zum anderen hat die Wirtschaftskrise, die Millionen Menschen unter die Armutsgrenze gedrückt sowie Zehntausende kleine und mittelständische Betriebe in den Bankrott getrieben hat, den Ausschlag für den Machtwechsel gegeben. Mauricio Macri setzte seit seinem Amtsantritt 2015 auf Sozialabbau und die Kürzung der Löhne und Renten. Das südamerikanische Land ist mittlerweile hoch verschuldet, die Inflation galoppiert. Als die Macri-Administration 2015 die Macht übernahm, betrug die Verschuldung 28% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), heute beträgt sie über 100%. Zu Beginn seiner Präsidentschaft hatte der Unternehmer und Millionär Bürger*innen »null Armut« versprochen, mittlerweile leben 35,4% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, so das Forschungsinstitut »Observatorio de la Deuda Social Argentina«. Nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts (INDEC) können sich acht von 100 Argentiniern nicht genügend Lebensmittel leisten, nachdem deren Preise seit vergangenem Jahr um 60% gestiegen sind. Der Kongress musste den Lebensmittel-Notstand ausrufen.

Privatisierung, Deindustrialisierung, Deregulierung, Prekarisierung des Arbeitsmarktes waren die Triebkräfte des neoliberalen Experiments von Macris Regierung. Inzwischen ist das Land wieder ein »Pleitekandidat«, obwohl oder weil der IWF Macri mit 57 Milliarden US-Dollar, dem höchsten IWF-Kredit aller Zeiten, unterstützt hat. Dieser war an Sparmaßnahmen geknüpft, die der Bevölkerung weitere große Opfer abverlangten, auf die sich große Teile der Argentinier*innen jedoch nicht erneut einlassen wollten. Der IWF ist für sie der Inbegriff einer Ordnung, die alle zu verschuldeten Subjekten macht. Eine Schuld, die viele für Jahrzehnte an die Tilgung und damit an miese Jobs bindet.

Am Beispiel Lateinamerikas wird deutlich, dass der IWF in der Praxis nichts dazugelernt hat. Dessen Ökonom*innen drücken den betroffenen Staaten in den Kreditverhandlungen immer wieder ihr orthodoxes Konzept bestehend aus Strukturanpassungsprogrammen, Marktliberalisierung und Privatisierungen auf, das schon in der Vergangenheit nicht funktioniert hat. »Der IWF propagiert seit über 50 Jahren dieselben Rezepte, das heißt, Sparsamkeit bei den öffentlichen Ausgaben und die Liberalisierung in der Wirtschaft«, sagt Valeska Hesse, Leiterin der Abteilung Lateinamerika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Chile, Ecuador und Argentinien sind Beispiele für den Unmut gegenüber rechts-konservativen Regierungen, die mit dem IWF kungeln.

So hat es im September gegen Lenin Morenos Versuch, Ecuador mit Hilfe des IWF eine knallharte Austeritätspolitik aufzudrücken, massive Proteste gegeben. Als sich tausende Indigene, Student*innen und Arbeiter*innen gegen ein von der Regierung am 1. Oktober verhängtes »Wirtschaftspaket« im ganzen Land erhoben, griff der ecuadorianische Präsident zunächst zur staatlichen Gewalt, bis er nach zwölf Tagen Demonstrationen das berüchtigte Dekret zurückziehen musste. In Chile gehen derzeit Millionen Menschen gegen das seit vier Jahrzehnten andauernde neoliberale Experiment auf die Straße, das Chile zum OECD-Land mit der größten Kluft zwischen Reich und Arm gemacht hat, und fordern den Rücktritt des Präsidenten Sebastián Pinera. Und in Argentinien haben die Wähler*innen an der Wahlurne mit dem IWF abgerechnet.

Mit dem Schlachtruf »Wir sind zurück!« feierten am Wahlabend in der Hauptstadt Buenos Aires die Anhänger*innen der »Frente de Todos« ihren Wahlsieg. Die Regierung sei »wieder in der Hand der Argentinier*innen« und jetzt beginne »der Wiederaufbau Argentiniens«, rief der 60-jährige Fernández den Feiernden zu. Er versprach, in die öffentliche Bildung und in das Gesundheitssystem zu investieren. Schon im Wahlkampf hatte er mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass es seiner Regierung wichtig sei, die Binnennachfrage anzukurbeln, weil hungernde Menschen keine Schulden begleichen können.

Fernández bleibt keine andere Wahl, als ein Sofortprogramm mit Notmaßnahmen zur Linderung von Hunger und Krankheit zu erlassen. Ab dem 10. Dezember will die Regierung das Programm »Precios cuidados« sowie kostenlose Medikamente wieder einführen. Dies garantierte bis 2015 einen Warenkorb an Grundnahrungsmitteln mit kontrollierten Preisen. Daneben soll eine Lebensmittelkarte für sozial schwache Familien eingeführt werden sowie ein spezielles Programm für Mütter mit Kleinkindern. Schulspeisungen und die öffentlichen Speisesäle, die zumeist von Vereinen, Sozialorganisationen und Kirchen getragen werden, sollen verstärkt unterstützt werden. Tarife für Gas und Strom sollen zeitweilig eingefroren und die Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel je nach Einkommen gestaffelt werden.

Der angekündigte »Wiederaufbau« des sozialen Gefüges in Argentinien dürfte eine schwere Aufgabe werden, denn Fernández, der ab 2003 unter Präsident Nestor Kirchner und danach unter dessen Frau Cristina Kirchner Kabinettschef war, übernimmt ein fast bankrottes Land. Macris Politik der Unterwerfung unter das IWF-Diktat ist dem Land teuer zu stehen gekommen. So wird sich Fernández mit privaten Gläubigern und den IWF-Vertreter*innen an den Tisch setzen müssen, um über eine Umstrukturierung der immensen Staatsschulden zu verhandeln.

Fernández wird das Präsidentenamt am 10. Dezember antreten. An seiner Seite wird Macris Vorgängerin Kirchner das Amt der Vize-Präsidentin übernehmen: Auch wenn nach der Wahl die befürchteten negativen Reaktionen der Märkte ausgeblieben sind , treibt viele Argentinier*innen dennoch die Sorge um, wie das Land die 44-tägige Übergangsperiode ökonomisch überstehen kann. Mittlerweile kündigte die Zentralbank eine striktere Devisenpolitik an. Die argentinischen Bürger*innen können nur noch 100 US-Dollar pro Monat in den Wechselstuben kaufen und 200 Dollar über ein Bankkonto. Damit will sie Kapitalflucht und den weiteren Verlust von Devisen verhindern. Anfang September hatte die Bank eine 10.000-Dollar-Beschränkung verhängt, um einen Kursrutsch des Peso einzudämmen. Seit den Vorwahlen haben sich die Reserven der Zentralbank rasant um 22 Milliarden Dollar verringert. Übrig geblieben sind noch 33 Milliarden mit schrumpfender Tendenz.

Der Wahlsieg von Fernández und Kirchner dürfte auch die außenpolitischen Akzente verschieben. Fernández betont die Bedeutung der regionalen Integration Lateinamerikas. Dazu gehöre, dass das südamerikanische Wirtschaftsbündnis Mercosur wiederbelebt und gestärkt werden sowie das Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur neu verhandelt werden soll. Im Fall Venezuelas spricht sich der neugewählte Präsident klar gegen eine Intervention und für die Aufrechterhaltung der Beziehungen sowie für die Suche nach internen politischen Lösungen des Konflikts aus. Gemeinsam mit dem uruguayischen Präsidentschaftskandidaten der Frente Amplio, Daniel Martínez, kritisierte Fernández die Zersetzung des südamerikanischen Staatenbündnisses Unasur zugunsten des von rechten Regierungen ins Leben gerufenen Bündnisses Prosur.

»Neue Winde wehen und können die Richtung ändern. Winde aus den chilenischen Anden mit Protesten gegen die von der neoliberalen Politik ausgelöste Armut… Die Winde wehen auch aus Ecuador, mit Straßendemonstrationen gegen die Hungersnot. Aus Bolivien mit der Wiederwahl von Evo Morales. Und schließlich aus Argentinien mit dem Wahlsieg von Alberto Fernández. Der neue argentinische Staatschef, der gegen die neoliberale Politik eintritt, feierte den Wahlsieg und forderte Lulas Freiheit«, kommentierte der brasilianische Journalist Florestan Fernandes Jr, auf der Plattform Brasil 247. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hatte sich in die Argentinien-Wahl eingemischt, Macri unterstützt – und mit ihm verloren. Noch am Wahlabend hatte Alberto Fernándes seinem Freund Luiz Inácio Lula da Silva zum Geburtstag gratuliert und die Forderung nach dessen Freilassung erneuert. In seinem Antwortbrief drückte Lula die Hoffnung aus, dass Lateinamerika nun nach und nach wieder »Brüderlichkeit und Respekt« finden werde.


[1] Trotz des Wahlsieges wird Alberto Fernández im künftigen Abgeordnetenhaus, wo die Hälfte der 274 Parlamentarier neu gewählt wurde, mit 120 Sitzen nicht über eine eigene Mehrheit verfügen. Macris Bündnis wird mit 119 Mandaten stärkste Oppositionsfraktion im Parlament sein. Im zukünftigen Senat bleibt die peronistische Partei mit 37 Sitzen stärkste Kraft. Macris Bündnis kommt auf 29 Mandate. Auch in den Provinzen des Landes konnte »Frente de Todos« wichtige Wahlsiege erringen: In der Provinz Buenos Aires, wo die bisherige Gouverneurin María Eugenia Vidal (JC) ihrem Herausforderer, dem früheren Finanzminister Axel Kicillof (FdT), unterlag. Auch in Catamarca, La Rioja und in der Hauptstadt Buenos Aires (CABA) waren die Gouverneursposten neu zu besetzen. In der Hauptstadt gewann Horacio Rodríguez Larreta aus dem Macri-Lager (JC) mit 55,9% der Stimmen. In Catamarca gewann Raul Jail von FdT (60,4%), in La Rioja Ricardo Quintela (FdT, 57,8%).

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