13. August 2019 Otto König/Richard Detje: INF-Vertrag – Donald Trump zerstört »zentrale Säule der atomaren Rüstungskontrolle«

Neuer Raketenwettlauf

Foto: ICAN Deutschland/flickr.com (CC BY 2.0)

Die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki Anfang August 1945 waren die ersten und bisher einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg. Mehr als 200.000 Menschen wurden durch die Angriffe getötet.

Zehntausende starben an den Spätfolgen ihrer Verbrennungen, Verletzungen und der Radioaktivität. Jedes Jahr am 6. August wird an eine der verheerendsten atomaren Katastrophen in der Weltgeschichte erinnert.

Nur wenige Tage vor diesem Datum, am 1. August 2019, verkündete US-Außenminister Mike Pompeo per Tweet das Ende des seit 1988 geltenden INF-Vertrages zum Verbot von landgestützten Mittelstreckenwaffen. Während die Überlebenden in Japan gemeinsam mit vielen Friedensfreunden beschwören, »entweder die Menschheit schafft die Atombombe ab oder die Atombombe die Menschheit«, zerstört die Trump-Administration in Washington eine zentrale Säule der atomaren Rüstungskontrolle und damit einen Grundpfeiler der internationalen Sicherheitsarchitektur.

Der nun drohende Raketenwettlauf in Europa könnte weit gefährlicher werden als der in den 1970/80er Jahren. Die damaligen Trägersysteme der USA (Pershing 2) und der Sowjetunion (SS 20), die sich mit Atomsprengköpfen ausstatten ließen, waren zur totalen Vernichtung imstande – insbesondere traf dies auf Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu. Der im Dezember 1987 abgeschlossene INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Force Treaty) beendete das Wettrüsten. In der Folge wurden rund 2.700 Trägerwaffen und 4.000 Atomsprengköpfe beider Staaten vernichtet. Es war kein »Deal«, sondern die »Vernunft des Verzichts«, mit der sich vor 32 Jahren mehr Vertrauen zwischen Ost und West gewinnen und der Kalte Krieg eindämmen ließ. Das INF-Abkommen wurde zum Symbol einer Epoche der Rüstungskontrolle. Es folgten der Vertrag über Abrüstung konventioneller Waffen in Europa (CFE), das Start-Abkommen 1991 und das New-Start-Abkommen zwischen den USA und Russland über eine weitere Reduzierung atomarer Sprengköpfe im Jahr 2010.

Schon Anfang Februar dieses Jahres hatte die USA den INF-Vertrag mit Rückendeckung der europäischen NATO-Partner gekündigt. Russland trage dafür die alleinige Verantwortung, hieß es aus dem Weißen Haus. Russland antwortete, die Reichweite des 9M729-Systems (NATO-Codename SSC-8) liege unter 500 km und nicht, wie behauptet, bei 2.000 km, und deshalb gebe es keine Vertragsverletzung. Das Angebot der russischen Regierung von »Vor-Ort-Inspektionen« wurde in der US-Hauptstadt ignoriert. Dabei hätten es die Inspektionen ermöglicht, »das System zu überprüfen, die äußeren Dimensionen zu sehen, und von daher abzuschätzen, handelt es sich um eine Langstreckenwaffe oder nicht«, so der Verifikationsexperte Wolfgang Richter im Deutschlandfunk. Hinzu kommt, dass Trumps Sicherheitsberater John Bolton ein erklärter Gegner jeglicher Rüstungskontrolle ist. Er sieht in solchen Vereinbarungen nur Versuche anderer Länder, den überlegenen militärischen Fähigkeiten der USA Fesseln anzulegen.

Demgegenüber hat Moskau Washington den Vorwurf gemacht, mit den in Rumänien und demnächst auch in Polen aufgestellten Startgeräten ihrer Raketenabwehrwaffen den INF-Vertrag zu verletzen. Diese seien identisch mit den Startkanistern für die seegestützten amerikanischen Tomahawk-Cruise Missiles, die eine Reichweite von über 2.000 Kilometern haben. Für Bundesaußenminister Heiko Maas sind das Ablenkungsmanöver. In einem Gastbeitrag für das Redaktionsnetzwerk Deutschland sieht er Russland in der Schuld: »Allen Appellen und Dialogangeboten zum Trotz verweigert Russland die Vernichtung des vertragswidrigen Systems und hat zudem modernste Nuklearwaffen in unserer Nachbarschaft stationiert«. Angesichts solch unterwürfiger Solidaritätsadressen an die Trump-Administration sind die Beteuerungen, die Bundesregierung sei »gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen« in Deutschland, wenig glaubwürdig.

So hat die Bundesregierung bis heute den »Atomwaffenverbotsvertrag« nicht unterzeichnet und den in 2010 gefassten Beschluss des Bundestages, die »nukleare Teilhabe zu beenden«, nicht umgesetzt. Ungeachtet dessen, dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung von den in Deutschland stationierten US-Atomwaffen[1] bedroht fühlt, was eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag von Greenpeace ergeben hat: 86% der Befragten antworteten, die Bundesregierung solle eine Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen der USA in Deutschland verbieten. 84% der Befragten gaben in der Umfrage an, dass es in Deutschland gar keine Atomwaffen mehr geben sollte.

Kaum war der INF-Vertrag gekündigt, wurde in Washington eine beschleunigte Entwicklung neuer Raketensysteme angekündigt. Die USA hätten bereits begonnen, »mobile, konventionelle, landgestützte Marschflugkörper und ballistische Raketensysteme« zu entwickeln, so der US-amerikanische Verteidigungsminister Mark Esper, der sarkastisch hinzufügte: dies sei eine »besonnene Antwort auf Russlands Handlungen«.[2] Allein für die Modernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals sind für die nächsten 30 Jahre unglaubliche 1,7 Billionen US-Dollar eingeplant. Der US-Kongress bewilligte bereits für das Haushaltsjahr 2018 eine erste Tranche von 500 Millionen Dollar zur Entwicklung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete, die die technologischen Fähigkeiten der Pershing-2 deutlich übertreffen soll.

Weiter in der Pipeline ist die Produktion der Nachfolgemodelle für die atomaren Fallbomben vom Typ B61-12, die die USA ab 2020 auf ihren Militärbasen in Deutschland sowie in den Niederlanden und Belgien stationieren wollen. Ergänzt wird das Programm im Rahmen der neuen US-Nukleardoktrin durch kleinere und präzisere Atomwaffen mit niedrigerer Sprengkraft, die »nach Darstellung Washingtons Moskau davon überzeugen sollen, dass die USA selbst bei einem rein konventionellen Angriff Russlands etwa auf die baltischen Staaten, wie es die NATO seit der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim vor fünf Jahren für denkbar hält, bereit und in der Lage wären, atomar zu reagieren«, schreibt Andreas Zumach in der taz.

Beim Ausstieg aus dem INF-Vertrag war für die USA nicht allein Russlands »angeblicher« Vertragsverstoß ausschlaggebend. Trump und seinen außenpolitischen Beratern geht es auch um geopolitische Fragen. Als der US-Präsident im Oktober 2018 erstmals mit dem Austritt drohte, benannte er zur Rechtfertigung auch die Mittelstreckenraketen in China, Iran und Nordkorea, die bei Abschluss des INF-Vertrages 1987 noch nicht existiert hätten. Die US-Militärstrategen blicken vor allem auf China. In Foreign Affairs fasste der US-Militärexperte Tom Nichols die Position des Weißen Hauses wie folgt zusammen: »Die USA wünschen Europa viel Glück und machen sich auf in den Rüstungswettlauf mit China.«

So verwundert es nicht, dass Thomas G. Mahnken vom Center for Strategic and Budgetary Assessments jüngst die Aufstellung konventioneller Mittelstreckenraketen im Indopazifik forderte, um die chinesischen »Vorteile« wieder aufzuholen, was Marc Esper dankbar aufnahm: Die USA wollen »dem zunehmenden militärischen Einfluss Chinas mit konventionellen Mittelstreckenraketen in Asien begegnen«. Allerdings müsse man im Auge behalten, dass »die Zahl nuklearer Sprengköpfe im Besitz der USA und Russlands jeweils 20-mal so groß ist wie von China«, so der SIPRI-Direktor Dan Smith (FR, 3.8.2019). Der Friedensforscher zweifelt auch daran, dass China bei neuen Verhandlungen von Rüstungsverträgen mitwirkt. China hat bereits entschieden jedes Ansinnen zurückgewiesen, sich in Verträge zwischen den USA und Russland einbinden zu lassen.

Man habe »nicht die Absicht«, atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren, ließ sich der stellvertretende US-Unterstaatssekretär David Trachtenberg bereits im Februar 2019 zitieren. Dennoch ist keineswegs ausgeschlossen, dass die USA beispielsweise nuklear bestückte Mittelstreckenwaffen im europäischen Raum auf ihren Schiffen stationieren. Ulrich Kühn vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik warnt, schon bald könne »eine Debatte in der NATO über eine sogenannte ›Nachrüstung‹ mit landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa beginnen«.

Die NATO will in den kommenden Monaten entscheiden, wie sie auf das Aus für den Abrüstungsvertrag und die russischen SSC-8 reagiert. »Wir wollen keinen neuen Rüstungswettlauf«, erklärte Generalsekretär Jens Stoltenberg, lehnt aber zugleich Russlands jüngsten Vorschlag für ein »Moratorium zur Raketenstationierung« als »Angebot ohne jede Glaubwürdigkeit« ab. Eine Option der NATO ist, dass die Bündnisstaaten ihre Präsenz im östlichen Bündnisgebiet und in der Ostsee verstärken und den Schutz kritischer Infrastruktur durch Raketen- und Luftabwehrsysteme ausbauen. Zudem könnten wirkungsvollere konventionelle Waffensysteme und Raketenabwehrsysteme stationiert werden, um Russland abzuschrecken.

Nach dem Ende des INF-Vertrags zeichnet sich bereits der nächste Streit um ein historisches Abrüstungsabkommen zwischen Washington und Moskau ab: New Start begrenzt die Zahl der Sprengköpfe und strategischen Trägersysteme mit einer Reichweite über 5.500 km und soll verhindern, dass eine Rüstungsspirale in Gang kommt, in der beide Seiten versuchen, eine Eskalationsdominanz in Form einer Erstschlagfähigkeit zu erlangen. Das Abkommen läuft 2021 aus. Trumps Sicherheitsberater Bolton sieht für dieses keine Zukunft mehr. Die Kräfte des neuen »kalten Krieges« wollen mit dem New-Start-Vertrag auch noch die letzte noch verbleidende Säule der atomaren Rüstungskontrolle einreißen.

Im Jahr 1987 demonstrierten Millionen Menschen in Europa gegen die Politik der atomaren Aufrüstung, blockierten die Stationierungsorte für Atomraketen und trugen so wesentlich zur Vereinbarung des INF-Vertrags im Dezember 1987 bei. Doch nach dem Ende des Vertrags bleibt es beklemmend still. Dabei braucht es gerade heute den Druck der Bürger*innen auf Regierungen, damit Deutschland und Europa niemals wieder zum Austragungsort atomarer Kriegsspiele werden.


[1] Auf dem Bundeswehr-Stützpunkt im rheinland-pfälzischen Büchel lagern derzeit noch etwa 20 Atombomben der USA vom Typ B61-4 mit einer Sprengkraft von bis zu 50 Kilotonnen. Im Ernstfall sollen sie von Eurofighter-Kampfjets der Bundeswehr zu ihrem Ziel geflogen und abgeworfen werden. Diese Einsätze sind Deutschlands Beitrag zur nuklearen Abschreckung der NATO.
[2] Nach Recherchen der 2017 mit dem Friedensnobelpries ausgezeichneten »International Campaign to Abolish Nuclear Weapons« (ICAN) hat das Pentagon im Oktober 2018 begonnen, Aufträge im Wert von mehr als 1,1 Milliarden US-Dollar im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Bau von Raketen zu vergeben. Hauptauftragnehmer sind die US-Konzerne Raytheon (536,8 Millionen US-Dollar), Lockheed Martin (267,6 Millionen US-Dollar) und Boeing (244,7 Millionen US-Dollar); beteiligt sind BAE Systems aus Großbritannien (47,7 Millionen US-Dollar) und Thales aus Frankreich (16,2 Millionen US-Dollar). Im März 2019 hat das Pentagon bestätigt, man fange nun mit dem Bau von Teilen für neue Mittelstreckenraketen an. (Steve Trimble: U.S. To Revive GLCM Fabrication Before INF Treaty Withdrawal. aviationweek.com 8.3.2019.)

Zurück