18. März 2020 Otto König/Richard Detje: 50 Jahre Atomwaffensperrvertrag – keine »nukleare Abrüstung«

Neues »qualitatives Wettrüsten«

Neue nukleare Waffenarsenale (Foto: dpa)

Vor über 50 Jahren, am 5. März 1970, trat der von der damaligen Sowjetunion, den USA und Großbritannien 1968 unterzeichnete Atomwaffensperrvertrag in Kraft. Bis heute haben ihn 191 Staaten ratifiziert, die beiden Nuklearmächte China und Frankreich im Jahr 1992. Nicht dabei sind der Südsudan, die Atommächte Indien, Pakistan und Israel sowie Nordkorea, das 2003 aus dem Regelungswerk austrat.

In dem »Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen« (Non-Proliferation Treaty, NPT) verpflichten sich jene Unterzeichner, die über keine Atomwaffen verfügen, deren Besitz nicht anzustreben und die Atomwaffen besitzenden Staaten ihre Arsenale abzubauen. Der Vertrag sieht ferner die Schaffung von nuklearwaffenfreien Zonen vor, wie sie später etwa im Südpazifik (1985), in Afrika (1996) und in Zentralasien (2006) geschaffen wurden. Darüber hinaus vereinbarten die Staaten eine Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomtechnologie.

Mit dem NPT hatte sich die Staatengemeinschaft dem Ziel verschrieben, eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Heute besitzen mehr Staaten Atomwaffen als 50 Jahre zuvor. Zwar gibt es Abrüstungsfortschritte – von weltweit über 70.000 Nuklearwaffen in den Zeiten des Kalten Krieges auf gegenwärtig noch knapp 14.000.

Dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zufolge hat sich die nukleare Abrüstung zuletzt aber verlangsamt, und ein neues »qualitatives Wettrüsten« hat eingesetzt. Das vorhandene Arsenal stellt immer noch eine Overkill-Kapazität dar, mit der die Existenzgrundlagen der menschlichen Zivilisation irreversibel zerstört werden können.

 

Obwohl die Arsenale in Asien wachsen, kontrollieren die USA und Russland immer noch 91% aller Atomwaffen. In den USA gibt es derzeit 6185 nukleare Sprengköpfe, 2400 sollen abgebaut werden, 3800 werden zum Einsatz vorgehalten, davon sind (Stand 2019) 1378 verteilt auf strategische Trägersysteme, 150 befinden sich im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Europa, u.a. in Deutschland. Russland besitzt mit 6500 Atomwaffen zwar mehr als die USA und hat mit 1425 nuklearen Sprengköpfen etwas mehr eingesetzt, hat aber weniger strategische Trägersysteme (Langstreckenraketen, U-Boote, Flugzeuge), die mit Atomwaffen ausgerüstet werden können.[1]

Die Unterzeichnerstaaten, die über Atombomben verfügen, kommen ihrer Verpflichtung zu einer »vollständigen Abrüstung« bis heute nicht nach. Es sind die »nuklearen Habenichtse«, die ein weltweites Atomwaffenverbot vorantreiben, während die Atommächte Milliardensummen in die Weiterentwicklung ihrer nuklearen Waffentechnologie investieren, um ihren Machtvorsprung zu erhalten. Auf den alle fünf Jahre abgehaltenen Überprüfungskonferenzen, auf denen die Erfüllung der Vertragsbestimmungen kontrolliert wird, führt das immer wieder zu heftigen Konflikten.[2] Denn »egal, was die Nicht-Nuklearstaaten einbringen, wie sie sich einsetzen – am Ende hängt alles an den Nuklearstaaten«, erklärte Tytti Erästö von SIPRI im Deutschlandfunk (27.11.2019).

Nach Angaben von SIPRI wird vor allem in den USA und Russland in die Modernisierung von Atomwaffen investiert, während China, Indien und Pakistan ihre Atomarsenale vergrößern, Indien und Pakistan ihre Produktionskapazitäten für spaltbares Material erweitern, was in den nächsten zehn Jahren zu einer erheblichen Vergrößerung ihrer Atomwaffenbestände führen wird. Damit sind die Risiken eines absichtlichen und unbeabsichtigten Atomwaffeneinsatzes größer geworden. »Die Angst, dass der Gegner die eigenen Atomwaffen durch den Einsatz neuer Waffentechnologien neutralisieren könnte, kann in einer Krise dazu führen, dass Anreize für einen frühzeitigen Einsatz wachsen«, so Oliver Meier vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (ISFH).

Kündigte US-Präsident Barack Obama 2009 in der tschechischen Hauptstadt Prag noch an, die Vereinigten Staaten seien entschlossen, sich »für den Frieden und die Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen«, setzte sein Nachfolger im Weißen Haus in Washington, Donald Trump, 2018 im Nuclear Posture Review explizit die Vorgabe Obamas außer Kraft, »keine neuen Atom-Sprengköpfe« zu entwickeln und keine modernisierten Sprengköpfe »mit neuen Fähigkeiten« anzustreben.

»Diese Vorgabe – so damals die Begründung der Trump-Administration – könne die Entwicklung neuer Sprengköpfe für die angestrebte, auf unterschiedliche Kontrahenten zugeschnittene, maßgeschneiderte Abschreckung (tailored deterrence) behindern«.[3] Trumps Vorhaben, das Atomwaffenpotenzial der USA umfassend zu modernisieren, spiegelt sich auch in seinem Haushaltsentwurf für 2021 wider: 28,9 Mrd. US-Dollar soll das Pentagon in das nukleare Potenzial investieren, mehr als die Hälfte davon (14,7 Mrd.) in Forschung, Entwicklung und Erprobung.

Mit dieser forcierten Politik der Militarisierung droht dem Atomwaffensperrvertrag ein fortschreitender Bedeutungsverlust. Das erfolgt in einem Umfeld, das von Vertragsauflösungen gekennzeichnet ist. Das Atomabkommen mit dem Iran, in dem dieser sich zu einem Verzicht auf Nuklearwaffen verpflichtet, hängt am seidenen Faden. US-Präsident Donald Trump kündigte im August vergangenen Jahres den INF-Vertrag auf, in dem sich Ende der 1980er Jahre die USA und die Sowjetunion verpflichteten, ihre atomaren Mittelstreckenraketen zu verschrotten.

Aktuell regelt nur noch der New-Start-Vertrag die Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen der beiden Atommächte. Sollte dieser Vertrag nicht vor Februar 2021 verlängert werden, wären beide Staaten zum ersten Mal seit 1972 an keinerlei rechtlich verpflichtende Begrenzung und Überprüfung ihrer Atomwaffenarsenale mehr gebunden.

Angesichts dieser rückwärtsgewandten Schritte in der Abrüstungspolitik ist es umso absurder, dass in Deutschland Stimmen laut werden, die einen Zugriff auf die französische Force de frappe fordern. In diesem Zusammenhang werden vor allem zwei Szenarien diskutiert. Zum einen verfolgen Politiker aus dem konservativen Spektrum nach wie vor das Ziel einer »Atommacht Deutschland«. Dazu herrscht jedoch laut einer RTL-Forsa-Umfrage in der Bevölkerung eine klare Meinung: 94% der Befragten sind gegen eine deutsche Bombe und nur vier Prozent dafür. Die zweite Variante sieht die Nutzung der Force de frappe mit unterschiedlichen Graden der Einflussnahme vor. Die Optionen reichen von einer deutschen Kofinanzierung der französischen Nuklearstreitkräfte, die mit einem gewissen Grad an direktem Einfluss verbunden wäre, bis zur Unterstellung der Waffensysteme unter ein europäischen Kommando.

Der für die Außen- und Militärpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, hatte im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz verlangt, die Bundesrepublik müsse »eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen ins Auge fassen«. Es sei »Realität, dass wir eine atomare Abschreckung benötigen«; daher sei es »in deutschem Interesse, dass wir auf die nukleare Strategie Einfluss nehmen können, die uns schützt«. Deutschland müsse »bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen«.

Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, forderte schon vor einem Jahr: »Die atomaren Einsatz-Optionen Frankreichs sollten nicht nur das eigene Territorium, sondern auch das Territorium der EU-Partner mit abdecken.« Die zunehmende Skepsis gegenüber den USA befeuert offensichtlich das Bedürfnis nach »nuklearen Alternativen« und die Strategie, auf diesem Umweg einen direkteren Zugriff auf die Bombe zu erhalten.[4]

Diesem Ansinnen hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron schon Anfang Februar in seiner Rede an der Pariser École de Guerre eine Absage erteilt. Vor Absolventen ließ er keinen Zweifel daran, dass Frankreich seine Nuklearstreitkräfte nicht teilen und keine substanziellen Entscheidungsbefugnisse in andere Hände legen werde. Sowohl in seiner Pariser Rede wie Tage später auf der Münchner Sicherheitskonferenz hatte er den europäischen Staaten einen ernsthaften »strategischen Dialog über die Rolle der atomaren Abschreckung für unsere gemeinsame Sicherheit« vorgeschlagen. Frankreich sei dazu bereit, die Sicherheitsinteressen seiner Verbündeten auch in seiner Atomwaffenstrategie zu berücksichtigen. Zusätzlich zu diesem »Dialog« könnten sich EU-Staaten jederzeit an »Übungen der französischen Streitkräfte zur nuklearen Abschreckung beteiligen«.

Die Reaktionen auf seine beiden Ansprachen waren in Deutschland ein Mix aus Ärger und Enttäuschung. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer reagierte mit der Feststellung: »Wir stehen unter dem Nuklearschirm der Nato« und schlussfolgerte, Deutschland müsse an der sogenannten »nuklearen Teilhabe« in Form der US-Atombomben, die auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel gelagert sind, festzuhalten. Die dort eingelagerten 20 Bomben des Typs B61 sollen bei Bedarf von Tornados der deutschen Luftwaffe über ihrem Ziel abgeworfen werden. Diese Form der nuklearen Teilhabe ist für den Steuerzahler sehr kostspielig, zumal die in Büchel stationierten Tornados aufgrund ihres Alters ausgemustert werden müssen. Als Favorit gilt der Kampfjet F/A-18 des US-Konzerns Boeing. Der geplante Kauf von rund 40 F/A-18-Jets würde mehrere Milliarden Euro betragen.

Diese Verschleuderung von Steuergeldern kann verhindert werden, wenn 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges endlich alle in Europa und in Deutschland stationierten Atomwaffen im Rahmen einer gesamteuropäischen Abrüstungsinitiative abgezogen werden. Schließlich führt die sogenannte nukleare Abschreckung nicht zu mehr Stabilität. Im Gegenteil: Sie ermuntert weitere Akteure, nach dem Besitz von Atomwaffen zu streben. Diese sehen die »nukleare Karte« als Trumpf im Kampf um Einfluss und Anerkennung in der internationalen Gemeinschaft. 50 Jahre nach Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrages ist die Delegitimierung der nuklearen Abschreckung als Mittel der Politik dringender denn je. Notwendig ist eine internationale Agenda, die den Besitz von Atomwaffen stigmatisiert und den Druck zur Abrüstung wieder erhöht.

Anmerkungen

[1] Siehe Otfried Nassauer: Mit mehr Geld zu neuen Atomwaffen, Das Blättchen 2.3.2020.
[2] Die nächste Überprüfungskonferenz findet von Ende April bis Ende Mai 2020 in New York statt. Die Konferenz im Jahr 2015 scheiterte, da sich die Teilnehmerstaaten nicht auf ein Abschlussdokument einigen konnten.
[3] Nassauer, a.a.O.
[4] Siehe Jürgen Wagner: Deutschland: Per EU-Umweg zur Atommacht?, Justice now, 10.3.2020.

Zurück