22. September 2017 Bernhard Sander

Niederlande: 200 Tage ohne legitimierte Regierung

Der Regierungssitz in Den Haag ohne legitimierte Regierung (Foto: Markus Bernet | Wikimedia Commons)

In den Niederlanden gestaltet sich die Regierungsbildung seit der Parlamentswahl am 15. März immer noch schwierig. Dennoch schreibt die Verfassung die Thronrede des Königs zur künftigen politischen Ausrichtung des kommenden Regierungsjahres zwingend für den dritten Sonntag im September vor.

Die amtierende Regierung Rutte aus Sozialdemokratischer Partei der Arbeit (PvdA) und rechtsliberalen VVD hat für einen Haushaltsgesetzentwurf die parlamentarische und seit dem Wahltag auch die demoskopische Mehrheit verloren. Rutte hatte sich nur durch Übernahme der rechtspopulistischen, xenophoben, insbesondere anti-türkischen Agitation der Partei für die Freiheit (PVV) von Geerd Wilders knapp als stärkste Kraft vor der PVV behaupten können, während die Sozialdemokraten auf das Niveau einer Splitterpartei schrumpften.

Bezüglich des Haushaltsplans für 2018 meldet sich das Kabinett Rutte II, bestehend aus den niederländischen Parteien VVD und PvdA mit einem Entwurf zu Wort. Ihnen zufolge sollen im folgenden Jahr zusätzlich 435 Mio. Euro in die Pflege investiert werden. Weitere 270 Mio. Euro sollen den LehrerInnen von Grundschulen zugutekommen. Weiterhin möchte man mit 425 Mio. Euro die Kaufkraft von RentnerInnen und Sozialhilfeberechtigten stärken. Allerdings wird sich von den relevanten Parteien nur Wilders frei zu diesem Fortschreiben des Status Quo äußern können, da alle anderen wegen der laufenden Koalitionsverhandlungen die möglichen Partner schonen müssen.

Die rechtsextremen Strömungen sind mit dem Wahltag und sinkenden Umfragewerten für die PVV keineswegs verschwunden. In Enschede demonstrierten Anfang des Monats 150 Vertreter einer »Fortresse Europe« heißenden Gruppierung mit deutschen PEGIDA-Aktivisten. Der sogenannte »Identitäre Widerstand« störte in Amsterdam die Eröffnung einer islamischen Mittelschule mit einer Dachbesetzung unter dem Banner »Wer den Islam sät, wird die Scharia ernten«. Früher in diesem Jahr hatte Sander Dekker, Staatssekretär für Bildung von der Partei VVD, eine Finanzierung der Schule verweigert. Als Grund dafür nannte er die Sorge, dass innerhalb der Schule Inhalte gelehrt würden, die die SchülerInnen dazu veranlassen könnten, sich von der niederländischen Gesellschaft abzuwenden. Die Qualität des Unterrichts sei nicht garantiert.

Eine TV-Dokumentation über den Vorsitzenden der erfolgreichen Partei GroenLinks, Jesse Klaver, wurde abgesetzt, weil ihr Propaganda für die politische Linke unterstellt wurde. Klaver spricht sich für einen zuwandererfreundlichen Kurs der Niederlande aus. Unter anderem Fleur Agema von der PVV und Thierry Baudet, Vorsitzender des in den Umfragen immer deutlicher zulegenden »Forum voor Democratie«, das auch die Anti-EU-Agitation beim Ukraine-Assoziationsvertrag angeführt hatte, beklagten den Mangel an Objektivität des öffentlichen Rundfunks. Der ehemalige Parlamentspräsident, Frans Weisglas (VVD), nannte die Tatsache, dass der Sender BNN-VARA eine Dokumentation über Klaver ausstrahlen wollte, »unerhört«. Die holländische Variante von »Lügenpresse« lautet dabei, man wisse ja nicht, ob der Dokumentarfilmer die Kameras nicht bewusst in für die Partei ungünstigen Momenten abgeschaltet habe, da er früher für Klaver gearbeitet habe.

Seit dem Wahltag im März dieses Jahres versuchen Parlamentarier, verschiedenste Koalitionen zusammenzuzimmern. Klavers von GroenLinks war aus der ersten Konstellation ausgestiegen. Vor allem die Fragen nach Umwelt und Einkommensverteilung waren große Streitfragen zwischen den verhandelnden Parteien. Letztendlich war es aber das Migrationsthema, das den endgültigen Bruch herbeiführte. Konkret ging es um die Frage, ob mit afrikanischen Ländern ein ähnlicher Deal wie mit der Türkei geschlossen werden solle: Geld im Tausch für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Während VVD und CDA sich im Wahlkampf in Fragen der Migration sehr weit rechts aufgestellt hatten und auch in den Verhandlungen weiter an ihren Ambitionen festhielten, die Grenzen Europas so dicht wie möglich zu halten, plädiert GroenLinks für ein »gastfreundliches« Niederlande. Die Forderung von VVD und CDA, dass AsylbewerberInnen Asyl nur außerhalb Europas beantragen können, und im Falle eines Betretens Europas ohne einen erfolgreichen Antrag ohne Pardon ausgewiesen werden müssten, lehnt GroenLinks kategorisch ab: »Wir machen gerne alles mit, aber nicht um jeden Preis, wir umgehen zum Beispiel keine Menschenrechte«, sagte Rutger Groot von GroenLinks.

In einem zweiten Angang wurde GroenLinks durch die ChristenUnie ersetzt. Was die Punkte Migration, Einkommensverteilung und Umwelt betrifft, sind die Gegensätze der ChristenUnie (CU) gegenüber der VVD, D66 und des CDA möglicherweise leichter zu überbrücken. Aktuell sind die Chancen für eine Koalition jedoch deutlich gesunken. Man kann sich über medizinisch-ethische Fragen nicht mit den christlichen Fundamentalisten einigen.

Eine Zeitung hatte ein inoffizielles Dokument von Gerrit Zalm veröffentlicht. Zalm war zehn Jahre im Vorstand einer führenden Bank, sitzt im Aufsichtsrat der Shell und gilt als Ziehvater von Rutte. Er ist nun schon der dritte Informateur, der die Verhandlungen zwischen den Parteien einfädeln und moderieren soll. In dem Papier geht es um den erreichten Stand der Kompromisse zwischen den Parteien bezüglich medizinisch-ethischer Fragen. Die Veröffentlichung des Dokumentes verursachte einige Unruhe in den bereits weit fortgeschrittenen Koalitionsverhandlungen.

Worum geht es bei diesen Fragen? Zum einen geht es um das Thema Sterbehilfe. In den Niederlanden wird seit längerer Zeit ein Vorschlag diskutiert, der vorsieht, dass ältere Menschen die Möglichkeit bekommen sollen, ihr Leben nach eigenem Wunsch beenden zu lassen, wenn sie es als vollendet betrachten. Das Neue daran ist, dass diese Menschen nicht wie bisher nachweisen müssen, dass sie unheilbar krank sind. Allein ihr Wille zählt. Die CU hatte sich während der Wahlkampagne strikt gegen ein solches Gesetz gewendet. In dem nun veröffentlichten Papier entsteht allerdings der Eindruck, dass die CU viele ihrer Bedenken während der Verhandlungen zurückgestellt hat. So sei beschlossen worden, dass das neue Kabinett ein Initiativgesetz der D66, die sich für die Neuregelung einsetzt, nicht zu verhindern versuchen würde.

Die zweite Frage bezieht sich auf das »Embryogesetz«, das nach dem Willen der VVD und der D66 ausgeweitet werden soll. In diesem Zusammenhang geht es speziell darum, Ärzten mehr Spielraum beim Selektieren vom Embryonen im Kampf gegen erbliche Krankheiten zu geben. Auch dies ist ein Thema, dem sich die CU anfangs stark widersetzt hatte. Laut dem veröffentlichten Papier will sie dieser Praxis aber nun zustimmen. Des Weiteren sollen die Parteien sich darauf verständigt haben, Ratschlägen des Gezondheidsraads, einem Beratungsgremium bei medizinisch umstrittenen Fragen, mehr Gewicht einräumen zu wollen. Das allerdings, obwohl dieses Organ in der Regel weiter geht, als es die CU traditionellerweise gutheißen würde. Auch in diesen Fragen suggeriert das Papier also ein vermeintliches Einknicken der CU.

Es sind letztlich kulturelle und Mentalitätsfragen, die ein Journalist so beschreibt: Beim Parteitag der VVD sehe man Autos mit Chauffeuren, die die Parteiprominenz bis vor die Tür fahren würden, bei der CU hingegen sehe man vor dem Parteitaggebäude viele Fahrräder. Während bei der VVD bis in die späte Nacht hinein ausgelassen gefeiert und getanzt werde, singe man bei der CU Lieder für den Herrn, während im Hintergrund eine Dorfansicht auf einen Bildschirm projiziert wird, auf der man eine Kirche, kleine Häuser und grasbewachsene Weiden sehe. Alles zusammengenommen hat das Durchsickern des Papiers also vor allem der CU geschadet, in der die Vorbehalte gegenüber den liberalen Parteien wachsen.

Möglicherweise kommt es bald zu einer dritten Verhandlungskonstellation. Der Vorsitzende der linksliberalen D66 hat vorgeschlagen, Koalitionsgespräche zwischen VVD, CDA, D66, SP und PvdA zu organisieren. Das Problem dabei allerdings ist, dass Emile Roemer von der linken SP eine Koalition mit der VVD schon vor den Wahlen ausgeschlossen hat. Roemer, Parteivorsitzender der SP, plädierte am Dienstag noch einmal für eine Mitte-Links-Regierung, bestehend aus CDA, D66, GroenLinks, SP und PvdA, die von dem möglichen Premierminister dieser Variante, dem Christdemokraten Sybrand Buma, allerdings abgewiesen wurde, der nicht ohne die VVD regieren will.

Lodewijk Asscher, der Parteichef der Sozialdemokraten, die in diesem Jahr mit nur neun Sitzen ihr schlechtestes Ergebnis in einer Parlamentswahl einfuhren, lehnte den Vorschlag von Roemer nicht direkt ab. Eine Koalition aus VVD, CDA und D66 würde die PvdA allerdings nicht mittragen. Asscher hält es für eine Illusion, mit seinen sechs Sitzen »drei auf sozial-ökonomischer Ebene rechten Parteien« gegenzusteuern.

Für eine schlagkräftige und erfolgversprechende Wahl-Kampagne hätte sich die PvdA schon von der Politik des Kabinettes Rutte II deutlich abgrenzen müssen. Wie aber hätte das der Vizepremierminister Lodeweijk Asscher, der genau diese Politik vier Jahre mit geformt und getragen hat, glaubhaft seinen WählerInnen vermitteln können?

Merijn Oudenampsen, Soziologe und Politologe an der Universität Tilburg, führt einen weiteren Grund für die Wahlniederlage an: Der Wahlkampf wurde von Wilders und Rutte immer stärker auf die Themen der vermeintlichen Islamisierung und der Konfrontation mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan zugespitzt. »Links verliert immer, wenn kulturelle Themen die Debatte dominieren. Arbeiter, die in sozialökonomischer Hinsicht vielleicht noch progressiv sind, aber in sozialkultureller Hinsicht konservativ, wandern nach rechts. Die Folge ist, dass die linke Wählerschaft implodiert.« Mit der Entscheidung der Sozialdemokratie in den 1990er Jahren, »einen liberalen Weg einzuschlagen, hatte sich die PvdA parteipolitisch keinen Gefallen getan. Der traditionelle Gegensatz auf der ökonomischen Achse fiel weg und machte Platz für die ›Identitäts-Achse‹, auf der für die Sozialdemokraten wenig zu holen ist.«

Bereits der alte Partei-Führer Wouter Bos hatte beständig gewarnt, dass, wenn sich die Gesellschaft spalte, sich auch die PvdA spalte. Nun hat er damit Recht behalten. Eine Partei, deren Anspruch es ist, für alle da zu sein, hat es schwer in den Niederlanden. Fast jede gesellschaftliche Gruppe hat mittlerweile ihre eigene Partei. Die mittelständischen und gebildeten Städter haben sich für die D66 und GroenLinks entschieden, die weniger gut gebildeten wanderten zur SP oder zur PVV ab, für noch spezieller gelagerte Interessen wählte man 50Plus oder die Partij voor de Dieren, viele Migranten zog es zur neuen Partei DENK.

Kurzfristig wurde in der PvdA sogar eine Fusion mit GroenLinks erwogen, während die lokalen Funktionsträger eine Regierungsbeteiligung befürworten, um nicht völlig in der Versenkung zu verschwinden. Vorzeige-PvdA-Mitglied Jeroen Dijsselbloem wird der Eurogruppe schließlich nicht mehr lange vorsitzen und auch Eurokommissar Frans Timmermans wird sein Amt nur noch zwei Jahre lang ausüben. Zusätzlich stellten die Sozialdemokraten immer weniger Bürgermeister, und im nächsten Frühjahr sind Gemeinderatswahlen. Der Apparat wankt, von den ehemals 70 Mitarbeitern müssen 50 gehen. Im Oktober soll ein neuer Parteivorstand gewählt werden.

Und zum Schluss gibt es da ja auch noch die PVV – immerhin die zweitstärkste Kraft im Land. Allerdings würde Rutte ein enormes Wahlversprechen brechen, wenn er nun doch Geert Wilders zu Koalitionsgesprächen an den Verhandlungstisch holen würde. Aber bevor es zum Äußersten kommt und Neuwahlen ausgerufen werden müssten, sollte auch diese letzte Möglichkeit nicht aus dem Sichtfeld verschwinden, sinniert man im Niederlande-Zentrum der Universität Münster [1]

[1] www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/aktuelles/archiv/2017/index.shtml

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