18. Januar 2021 Bernhard Sander: Neu-Justierung auf die Mittelschichten oder völkischer Aufschwung?

Pandemie, Regierungskrise und Neuwahlen in den Niederlanden

Foto: Ministerie van Buitenlandse Zaken/flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Während der liberale Weg der Niederlande bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie 2020 in einer Sackgasse explodierender Infektionszahlen endete und durch rigide Lockdown-Strategien ersetzt wurde, geht das Land weiter auf eine neue politische Wegmarke, die nationalen Parlamentswahlen, zu.

Diese sind vorgeprägt durch den vorzeitigen Rücktritt der Regierung und durch eine Neuausrichtung aller wesentlichen politischen Player an den sozialen Zuständen im Land. Die Rückorientierung der Parteien der Mitte auf die sozialen Belange auch der unteren Klassen wirkt angesichts der Affäre um mangelnden Aufklärungswillen der Behörden und amtlicherseits systematisch unterstellten Sozialbetrug nicht ausreichend. Das könnte dem rechts-nationalistischen Lager weiteren Zulauf bringen. Die Wahlen werden so nicht nur von der Pandemie überschattet, sondern sind geprägt von einer weiteren Etappe im drohenden Zerfall des politischen Systems.


Wahlen im Virus-Modus

Der bereits seit Anfang Dezember andauernde Lockdown hat bisher nicht ausgereicht, um die Ausbreitung des Coronavirus maßgeblich aufzuhalten. Darum fühlte sich das Kabinett im Januar gezwungen, den Lockdown um vorerst drei weitere Wochen zu verlängern. Läden, Restaurants und Schulen werden somit weiterhin geschlossen bleiben. Allein die Frage, ob Grundschulen wieder geöffnet werden sollen, blieb noch unklar.

Eltern und Lehrer*innen kritisieren, dass bereits die ersten fünf Wochen Lockdown zu einem Bildungsrückstand bei den Kindern geführt hätten, der kaum mehr aufzuholen ist. Auf der anderen Seite sieht sich das Kabinett dazu gezwungen, zumindest die weiterführenden Schulen weiterhin geschlossen zu halten. Nach ersten Erkenntnissen scheint die neue »britische« Variante des Virus auch bei Kindern unter 12 Jahren ansteckender, als die bisher im Land verbreiteten Varianten zu sein.

Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) warnte zum Jahreswechsel mit Blick auf Deutschland und England, dass der Start der Impfungen nicht automatisch bedeute, dass die Infektionszahlen zurückgehen. Gesundheitsminister Hugo de Jonge präsentierte in der maßgeblichen Zweiten Kammer des Parlaments eine überarbeitete Impfstrategie, die einen Fahrplan für die Reihenfolge der einzusetzenden Vakzine und der zu impfenden Bevölkerungsgruppen beinhaltete. Durch journalistische Recherchen kam jedoch zu Tage, dass die Aussagen des Ministers unkorrekt waren und mindestens 1,1 Millionen Impfdosen erst später ausgeliefert werden können.

Die Modifizierung des Impfplans mit einem europaweit am spätesten geplanten Impfbeginn wurde aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit nötig. Die stark zur Sozialistischen Partei (SP) neigenden Mitarbeiter der Intensivpflege, die einen »code zwart« befürchteten und deshalb in den ersten Tagen des neuen Jahres durch eine starke Lobbyarbeit auffielen, erhielten als erste Gruppe die Injektionen. Zu ihnen werden sich planungsgemäß im weiteren Verlauf des ersten Quartals noch weitere Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens sowie Arbeitskräfte in Pflegeeinrichtungen und deren Bewohner*innen gesellen. Erst etwa zu Anfang April würde nach den bis dahin etwa eine Million Geimpften die große Menge von unter 60-jährigen Personen mit Vorerkrankungen (1,8 Mio.) und zu Hause lebenden über 60-Jährigen (4,3 Mio.) folgen. Ab Mitte des zweiten Quartals könnte bei genügend zur Verfügung stehenden Impfdosen schließlich der Rest der Bevölkerung nachziehen. Die Impfung der in der Strategie noch weiter unterteilten Gruppen würde mindestens bis zum Ende des dritten Quartals andauern.

Zeitgleich zur Verlängerung des Lockdowns arbeitet das Kabinett auch an der Verlängerung und Ausweitung von Hilfspaketen für alle Betriebe, die nun wegen der Verlängerung des Lockdowns weiterhin geschlossen bleiben müssen.[1] Durch den anhaltenden Lockdown werden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen immer heftiger, wodurch eine Vielzahl von Unternehmen nun kurz vor dem Aus steht. Finanzminister Wopke Hoekstra (CDA) kündigte an, dass das Kabinett »großzügig schauen will, was gebraucht wird und was für bestimmte Branchen getan werden muss«.


Staatlicher Betrug an Familien

Angesichts der Unwägbarkeiten des Infektionsgeschehens und der Gegenmaßnahmen breitet sich Unsicherheit aus, die die politische Labilität des politischen Repräsentativsystems (mehr als zehn im Parlament vertretenen Parteien) verstärkt. Zwar haben die Spitzenkandidaten der beiden Parteien – Ministerpräsident Rutte und Finanzminister Wopke Hoekstra – vereinbart, während der Corona-Krise selbst keinen Wahlkampf zu führen. Dieser Maßgabe fühlen sich die Parteien hinter ihren Spitzenkandidaten allerdings nicht verpflichtet und es gibt auch allen Grund dazu.

Das Misstrauen gegenüber dem Staat erhielt Mitte Januar neue Nahrung, als bekannt wurde, dass Tausende von Familien mit Betrugsanschuldigungen der Finanzbehörde konfrontiert worden waren und 20.000 Familien zwischen 2014 und 2019, also in der Amtszeit zweier Kabinette von Ministerpräsident Marc Rutte, zu Rückzahlungen gezwungen wurden. Viele Beihilfen, so auch das Kindergeld, werden auf Basis von Selbsteinschätzungen über die erwarteten Jahreseinkünfte ausgezahlt. Gerade für Menschen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, Soloselbständige und Abruf-Arbeitskräfte usw. ist dies aber nur schwer möglich. Gerade Ministerpräsident Rutte stellte sich »an die Spitze einer Bewegung die mit aller Härte forderte, gegen Sozialbetrug vorzugehen«[2].

Insbesondere Familien mit geringem Einkommen wurden durch solche Rückzahlungsforderungen in Existenznot gebracht, verloren teilweise ihre Wohnungen usw. Parlament, Regierung und Gerichte hätten auf der Suche nach vermeintlichem Sozialbetrug eine »systematische Ungerechtigkeit« und eine Misstrauenskultur etabliert, stellte eine Parlaments-Kommission unter Leitung des CDA-Abgeordneten Chris van Dam fest.

Die acht Kommissionsmitglieder haben festgestellt, dass es zwischen den Jahren 2014 und 2019 bei zahlreichen administrativen Vorgängen zu falschen Verdächtigungen des Betrugs seitens des Staats gegenüber den Empfänger*innen kam. Auch das Finanzministerium, und damit auch die viel kritisierte Steuerbehörde (nl. belastingdienst), wird von den Volksvertreter*innen gerügt. Der rechtsstaatliche Gedanke, dass nach der Situation jedes Individuums gerecht entschieden werden müsse, sei missachtet worden. Dem Sozialministerium, zuständig für die Verwaltung des Kindergelds, wird von der Untersuchungskommission vorgeworfen, seine Verantwortlichkeit in nur äußerst dürftiger Weise wahrgenommen zu haben.

»Mit Überraschung und letztlich großer Entrüstung« habe man feststellen müssen, dass die betroffenen Eltern jahrelang keine Chance gehabt hätten, zu ihrem Recht zu kommen, erläuterte die Kommission. Die Weise, in der sie behandelt worden seien, habe in keinem Verhältnis zu den Vorwürfen gestanden. Der politische Wunsch von Kabinett und Parlament, ein System gegen Sozialbetrug aufzubauen, habe eine rigorose Gesetzgebung geschaffen, die individuelle Situationen nur unzureichend beachte. »Die Verwaltungsrechtsprechung hat jahrelang einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der rigorosen Ausführung der Gesetzgebung zum Kindergeld geliefert. Damit hat die Verwaltungsrechtsprechung seine wichtige Funktion des (Rechts-)Schutzes von individuellen Bürgern vernachlässigt.«

Dass Eltern »jahrelang machtlos gegenüber mächtigen Institutionen des Rechtsstaats« gestanden hätten und die Regierung ihnen nicht zur Seite gesprungen sei, liegt laut der Kommission vor allem an der schlechten Informationsübermittlung innerhalb der Verwaltung. Verantwortliche Staatssekretär*innen und Minister*innen seien deshalb nicht ausreichend unterrichtet worden und hätten den Ernst der Lage nicht vollständig erkannt. Allerdings habe insbesondere Eric Wiebes, damaliger Staatsekretär für Finanzen, bereits seit August 2017 von den unrechtmäßigen Vorgängen gewusst. Dass es bis heute für Mitglieder der Zweiten Kammer schwierig sei, Einsichten in den Fall zu erlangen, zeige des Weiteren auch die mangelhafte Informierung nach außen. Man habe auch aus juristischen oder politischen Ambitionen heraus »verspätete, unvollständige und falsche Informationen« an Parlament und Untersuchungskommission weitergegeben.

Der Bericht endet mit einem dringenden Appell an alle Teile des Staats, zu hinterfragen, wie derartiges Unrecht in Zukunft verhindert und das nun entstandene Misstrauen kompensiert werden könne. Nun sollen für Ausgleichszahlungen 500 Mio. Euro bereitgestellt werden und die Beilhilfesysteme, von denen etwa sechs Mio. Niederländer*innen (von 17,2 Mio.) betroffen sind, reformiert werden.

Die Abgehobenheit der politischen Eliten drückt sich darin aus, dass der Ministerpräsident versucht hat, die Fakten vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Rutte rechtfertigte sich damit, dass interne Dokumente, die vor einer Entscheidung zirkulieren, nicht veröffentlicht werden sollten. Dies solle garantieren, dass die Entscheidungsträger frei diskutieren können, ohne öffentlichem Druck ausgesetzt zu sein. Damit interpretiert der Ministerpräsident Artikel 68 der niederländischen Verfassung in seinem Sinne. Er besagt, dass dem Parlament die Einsicht in Dokumente verwehrt werden kann, wenn die Interessen des Staates auf dem Spiel stehen.

Besonders hart trifft die Affäre, an deren Entstehung Lodewijk Asscher als Sozialminister im Kabinett Rutte II mitverantwortlich ist, die Sozialdemokratie, die ihrer sozialen DNA schon seit Langem beraubt ist. Asscher, der sich nach einem intensiven internen Schlagabtausch als Spitzenkandidat der sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PvdA – Partij van de Arbeid) für die Parlamentswahlen durchgesetzt hatte, trat von Kandidatur und Fraktionsvorsitz in der Zweiten Kammer zurück. Seine Mitverantwortlichkeit daran, dass tausende Eltern zu Unrecht Geldbeträge an den Staat zurückzahlen mussten, resultiert aus seinem Amt als Minister für Soziales und Arbeit zwischen 2013 und 2017, also genau der Periode, in der die unrechtmäßigen Forderungen der Behörden begannen.

Im Vorfeld des inzwischen verschobenen Parteikongresses, auf dem Asscher offiziell die Spitzenkandidatur übertragen werden sollte, war ein Antrag im Umlauf, der ihn zum Rücktritt aufforderte. Wie viele Stimmen sich insgesamt gegen ihn vereinten, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, dass Asscher, trotz ebenso vieler internen Unterstützer*innen, seine Reputation als aufrechter, für »den kleinen Mann« streitenden Sozialdemokraten nicht mehr aufrechterhalten konnte.

Nichtsdestotrotz stehen die Sozialdemokraten, wie bereits vor den Parlamentswahlen 2017 durch die Ablösung Samsons durch Asscher, wenige Monate vor dem Votum ohne Gesicht im Wahlkampf dar. Ein erneuter historischer Absturz wie damals soll diesmal jedoch vermieden werden. Die wohl naheliegendste Option für eine Nachfolge gibt Lilianne Ploumen ab. Die ehemalige Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit ist mit einem breiten Themenspektrum vertraut und scheut sich nicht vor Debatten. Ihr folgt als weitere Möglichkeit die Vorsitzende der Zweiten Kammer, Khadija Arib.Darüber hinaus zirkulieren die Namen von Ahmed Aboutaleb, Bürgermeister Rotterdams, und Frans Timmermans, EU-Kommissar und Kommissionsvizepräsident. Sie genießen eine große Popularität inner- und außerhalb der Partei.

Die Regierung aus zwei (rechtsliberalen) und zwei christlichen Parteien hatte schon seit einiger Zeit keine eigene Mehrheit mehr und ist auf das Wohlwollen der Sozialdemokraten angewiesen. Durch die Kindergeldaffäre werden Risse im Zusammenhalt der Koalition deutlich. Diese sind vor allem zwischen rechtsliberaler VVD und der christdemokratischen CDA sichtbar. Damit schießt der CDA gegen den mit Blick auf die Wahlen im März größten Konkurrenten, der nach den aktuellen Umfragen darauf angewiesen sein wird, eine Koalition mit dem CDA einzugehen.

Mit dem Rücktritt der Regierung kann sie kommissarisch im Amt bleiben, um die Coronakrise zu bekämpfen. Neue Pläne dürfte sie allerdings nicht mehr vorstellen. Die Risse zwischen den Koalitionspartnern werden so kaschiert.


Stimmungswandel im Vorwahlkampf

Wie haben die Parteien im Laufe des Jahres auf die tiefe Rezession reagiert? Während die regierende VVD von Rutte massive Stützungsprogramme fährt, kann die mitregierende CDA daraus wenig Profil beziehen; ihr Finanzminister zog sich aus dem Rennen um den Parteivorsitz der CDA zurück und unterstützte den Gegenkandidatur des letztlich doch knapp siegreichen Gesundheitsministers. Daran spaltete sich an der Frage des Parteivorsitzes fast die Partei.

Hintergrund ist u.a. die Frage des Umgangs mit dem Rechtspopulismus. In der Provinz Noord Brabant hatte die CDA die Regierung verlassen, weil man eine strengere Nitrat-Verordnung nicht mittragen wollte. Danach kam es zu Verhandlungen und zur erstmaligen Regierungsbeteiligung des völkisch-elitären »Forums für Demokratie«, der Konkurrenzpartei von Geert Wilders PVV. Deren Vorsitzender hatte den CDA als »Teil eines »kulturmarxistischen linken Mainstreams« ausgemacht, der auf die »Zerstörung der Niederlande« ausgerichtet sei. Letztlich geht es den Provinzfürsten des CDA aber vor allem um die eigene soziale Basis in der Landwirtschaft: »Die Frage ist: was ist entscheidend? 180 Zeichen von Baudet auf Twitter oder 180 Familienbetriebe in Brabant, die durch die Politik drohen, bankrott zu gehen?« Eine Mitgliederbefragung hielt schließlich mit 56% (bei 18% Beteiligung) die Regierungsbeteiligung für angemessen.

Im »Forum für Demokratie« selbst, das aufgrund seiner Haltung gegenüber Europa, Einwanderern und Frauen immer wieder in den Niederlanden in der Kritik steht, gärte es weiterhin, da die Umfragewerte einen erheblichen Einbruch signalisieren. Die erstmalige Beteiligung an einer Provinzregierung ist also als Versuchsballon zu bewerten. Gleichzeitig wird das reaktionär-elitäre Profil der Partei gepflegt.

So drang aus dem Jugendverband die Einschätzung nach außen, dass der Nationalsozialismus »aus dem ärmlichsten Land Europas in ein paar Jahren das reichste Land Europas gemacht habe«. »Beste ökonomische Formel jemals« sei in der geschlossenen Gruppe der sozialen Medien kommentiert worden. Ein anderer Inhalt sei gewesen: »Ich würde buchstäblich jeder Ideologie anhängen, die die NL wieder 95 % weiß mit 0% Muslimen macht.«

Der Vizevorsitzende der Partei, Lennart van der Linden, nannte die Zitate abscheulich, schränkte allerdings auch ein, »keine Gedankenpolizei für Dinge sein zu wollen, die Menschen privat machen«. Weitere Screenshots aus WhatsApp-Gruppen belegten die Nähe des Jugendforums zur Nazi-Ideologie und SS-Parolen. Widerstand in den eigenen Reihen wurde mit Ausschluss geahndet.

Thierry Baudet, Gründer und Parteivorsitzender, sorgte selbst mit einem Tweet für Aufsehen, in denen er angebliche Einwanderer beschuldigte, zwei seiner Freundinnen in einem Zug belästigt zu haben. Hinterher stellte sich heraus, dass es sich dabei um Fahrkartenkontrolleure und einen Polizisten in Zivil handelte, denen die beiden Frauen ihre Tickets nicht vorzeigen wollten.

Der Parteivorstand verlangte von Baudet ultimativ, die Jugendorganisation aufzulösen, was die Spaltung der Partei zur Folge gehabt hätte, so dass Baudet sich hinter den Vorsitzenden des Jugendforums stellte und Ende November zurücktrat. »Er könne es nicht zulassen, dass die Medien der Partei den Prozess machen«. Doch ist damit zu rechnen, dass Baudet wieder einen aussichtsreichen Listenplatz erhalten wird.

In den beiden Kleinparteien DENK (die sich hauptsächlich an Zugewanderte richtet) und 50Plus (die Seniorenpolitik zum Schwerpunkt hat), die beide aus der Sozialdemokratie abgespalten sind, haben sich die Führungspersonen in Seilschaftsstreitereien verfangen. Hintergrund könnte auch sein, dass das Wahlrecht und damit der Zugriff auf die öffentlichen Sinekuren Mitte des Jahres 2020 entscheidend reformiert worden ist. Danach sollen bei den Parlamentswahlen Vorzugsstimmen über die Sitze entscheiden und nicht die Reihenfolge in den Listen, die traditionell von den Parteivorsitzenden angeführt werden.

Die indirekt gewählte Erste Kammer soll mehr Befugnisse bekommen, um Gesetzesentwürfe zu ändern. Bisher hat die Erste Kammer lediglich die Möglichkeit, ein Gesetz komplett anzunehmen oder abzulehnen. So soll die Hälfte der Abgeordneten in der Ersten Kammer alle drei Jahre gewählt werden. Dadurch erhöht sich die Legislaturperiode eines einzelnen Abgeordneten von vier auf sechs Jahre. Die Verfassung soll so geändert werden, dass die Hälfte der Abgeordneten in der Ersten Kammer alle drei Jahre gewählt wird. Dadurch erhöht sich die Legislaturperiode eines einzelnen Abgeordneten von vier auf sechs Jahre.

Die tiefe soziale Spaltung, die sich schon vor der Kindergeldaffäre offenbarte, veranlasste als erste Gün-Links zur Schärfung des sozialen Profils im Programm. Grün-Links, ein 1990 gegründeter Zusammenschluss von Grünen und Kommunistischer Partei, hatte in der letzten Parlamentswahl für einen Überraschungserfolg gesorgt (9,1% 14 Sitze). Die Partei greift jetzt mit ihrem im Oktober beschlossenen Wahlprogramm die soziale Spaltung an drei Punkten auf: Wohnungspolitik, Gesundheits- und Jugendpolitik.

Man will den Wohnungsmarkt nachhaltig reformieren. Dies soll mit mehreren Instrumenten erreicht werden. So soll das Wohnungsbewertungssystem, mit dem Mieten für Sozialwohnungen festgelegt werden, auch auf den freien Markt angewendet werden. Somit könnte der Staat die Höhe der Miete für 95% der Wohnungen bestimmen. Um Spekulationen mit Wohnungen zu verhindern sollen Gemeinden die Möglichkeit bekommen, eine Bewohnungspflicht einzuführen. Außerdem sollen bis 2030 eine Million neue Häuser gebaut werden.

Auch die Krankenpflege möchte die Partei reformieren. Die Krankenversicherung soll in Zukunft größtenteils durch Steuern finanziert werden. Der Versicherungsbeitrag soll dann für alle Bürger*innen bei zehn Euro pro Monat liegen und die Selbstbeteiligung komplett entfallen. Die Krankenkassen sollen zu öffentlichen, regionalen Gesundheitsfonds werden und eine Fürsorgepflicht haben.

Die neue Jugendpolitik der Partei sieht vor, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken. Außerdem sollen alle Niederländer*innen eine einmalige Zahlung von 10.000 Euro zu ihrem 18. Geburtstag erhalten. In der Gruppe der Erstwähler ist Grün-Links schon seit Längerem die stärkste Kraft.


Wiederentdeckte gesellschaftlichen Mitte und Rechtspopulismus

Rutte, als neoliberaler Sparfuchs erfolgreich in der Rückführung von Staatsquote, Neuverschuldung und Schuldenstand, hatte sich noch im Kampf um das Europäische Recovery-Programm als Häuptling einer Staatengruppe in der EU gemacht, die sich strikt gegen Ausweitung von EU-Haushaltsrechten, gemeinsamer Verschuldung und expansiver Haushaltspolitik profiliert. Er musste allerdings in der Bekämpfung der Pandemie massiv der eigenen Volkswirtschaft unter die Arme greifen, damit der Absturz der Konjunktur abgefangen werden konnte.

Rutte fällt seit einiger Zeit dadurch auf, dass er die Interessen von Arbeitnehmer*innen in den Blick nimmt.[3] Im Wahlprogramm der Rechtsliberalen setzt sich das nun fort: »Der Kapitalismus braucht manchmal Justierung, um dafür zu sorgen, dass der Liberalismus für die Menschen funktioniert … Anstatt die Rolle des Staates zu verringern wird in nächster Zeit im Gegenteil ein starker, aktiver Staat nötig sein, damit wir uns beschützen und unsere Wirtschaft und Gesellschaft gerecht und gesund erhalten.« Eine blühende Unternehmenslandschaft und ein »starker Staat als Marktaufseher« sollen »eine neue Periode von Wiederaufbau der Mittelschicht einläuten«.

Angesichts der jetzt offenbar gewordenen Kindergeldaffäre, die allen Bezieher*innen staatlicher Leistungen systematisch und in allen drei Zweigen der Gewaltenteilung Sozialbetrug unterstellt, ist die Frage allerdings erlaubt, wie glaubwürdig die verkündete Rückbesinnung auf die Belange der Mittelschichten ist.

Die PVV von Geert Wilders hat neben den bekannten Themen Nexit, restriktive Einwanderungspolitik und eine gegen vermeintliche Muslime gerichtete Innenpolitik (Motto »Die Niederlande gehören uns«) das sozialpolitische Feld für sich entdeckt. Das Rentenalter soll wieder auf 65 Jahre gesenkt und der Mindestlohn erhöht werden. Die Bürger*innen sollen bei den Mieten, den Energiekosten und bei der Mehrwertsteuer entlastet werden. Die Gegenfinanzierung sei durch die Streichung von Klimasubventionen gesichert.

Vor Beginn der Corona-Krise hatte die VVD etwa 27 oder 28 Sitze. In der ersten Phase der Krise schoss der VVD bis zu 44 Sitze in die Höhe. Dann schienen die Coronasitze langsam zu verdampfen. Der VVD fiel im Sommer auf 37 Sitze zurück, ist nun aber wieder auf dem Vormarsch. Wie im Sommer scheint es, als würde die VVD von der Corona-Krise profitieren.

Dies ist besonders bemerkenswert, weil es mehr als in der ersten Phase der Krise Kritik am Vorgehen der Regierung gibt. Und die Diskussion über Corona-Maßnahmen scheint jetzt weiter verbreitet zu sein als vor dem Sommer. Ob, wie im Dezember noch eine Mehrheit von 62% der niederländischen Bürger*innen dem Kabinett vertraut (ein leichter Anstieg gegenüber dem letzten Monat), bleibt abzuwarten. Die rechtliberale VVD des Ministerpräsidenten, der seit zehn Jahren das Land regiert, stieg zwischen März und Juni von den tatsächlichen 33 im Parlament auf 45 Sitze in den Umfragen (Juni, um danach moderat in den Sinkflug zu gehen). Die harte Haltung gegenüber der EU hatte sich also ausgezahlt.

Bei den Sympathiewerten für die politischen Parteien macht sich im Verlauf der Pandemie eine deutliche Rechtsbewegung bemerkbar. Der rechtspopulistischen Widersacher von der Partei für die Freiheit von Geert Wilders sackte nach der Wahl 2017 von den erreichten 20 auf 14 Sitze in den Umfragen vom Mai, um dann aber kontinuierlich an Zuspruch zu gewinnen, der sich am Ende letzten Jahres in 24 Parlamentssessel umsetzen lässt, jedoch Mitte Januar werden nur noch 17 Sitze signalisiert. Deren vornehme Vettern vom rechtsextremen Forum für Demokratie hatten zwar bei den Provinzwahlen 12 Sitze in der daraus abgeleiteten Ersten Kammer erzielt, dann aber infolge der internen Querelen um rechtsextreme Tendenzen ein Umfragen-Absturz auf drei Sitze Mitte Januar erlebt. Die SP und Grün-Links liegen mit weiterhin sinkender Tendenz unter ihren Ergebnissen bei der Parlamentswahl, die sozialdemokratische Partei der Arbeit jedoch immer noch über ihren Ergebnissen.

Alles in allem signalisieren die Umfragen derzeit eher eine verbreitete Verunsicherung in der Wählerschaft, von der nur die stärkste Regierungspartei ausgenommen ist. Die Eskalation einer rechtspopulistischen Überbietungsrhetorik zwischen Rutte und Wilders wie 2017 ist nicht ausgeschlossen, wenn die Rückbesinnung auf die Lebenslage der Arbeitnehmer*innen und der Mittelschichten nicht überzeugt. Grünlinks, SP und Sozialdemokraten werden im Wahlkampf die Rechtsliberalen mit praktikablen Vorschlägen und einer Vision von sozialem Fortschritt stellen müssen, damit Islamfeindlichkeit und Nationalismus nicht das Terrain besetzen können und die verbreitete Enttäuschung über das politische Establishment und die Existenznöte zum Treibmittel rechtspopulistischer Parteien werden.

Anmerkungen:

[1] Genaueres zu den niederländischen Konjunktur- und Hilfspaketen siehe: Bernhard Sander, Niederlande: Wirtschaftseinbruch und soziale Verwerfungen in Sozialismus Heft 12/2020.
[2] FAZ 16.1.2021
[3] FAZ 12.1.2021

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