23. November 2021 Holger Politt: Zur Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus
Peinliches Muskelspielen
Plötzlich geriet die Grenze, die in Europas Osten Polen und Belarus trennt, in die Schlagzeilen der Weltmedien. Bis zum Sommer 2021 war es eine sogenannte grüne Grenze, auf beiden Seiten zwar penibel bewacht, aber dennoch wirkte sie durchlässig wie andere unbefestigte Grenzen auch.
Der beanspruchte Schutz der Grenzlinie wurde auf beiden Seiten mit anderen Mitteln umgesetzt, verzichtet wurde auf alle weitergehende Symbolik, das Bild bestimmten die Grenzsteine. So blieb es auch im letzten Jahr, als große Teile der Bevölkerung in Belarus mehrere Wochen lang und heftig gegen Alexandr Lukaschenko demonstrierten, weil sie fest davon überzeugt waren, dass in seinem Auftrag massive Wahlfälschung genutzt wurde, um als Staatspräsident im Amt bleiben zu können. Lukaschenko hält sich trotz des zurückgehenden Rückhalts im Inneren seither auch deshalb, weil Moskau keine Alternative zu ihm weiß.
Im Sommer 2021 versuchte Lukaschenko dem immensen innen- wie außenpolitischen Druck aufzuweichen, indem er eine überaus riskante Karte zu spielen begann. Menschen vor allem aus dem Irak erhielten ohne jede bürokratische Hürde Einreisevisa nach Belarus, in ein Land also, dessen Namen die meisten bis dahin noch nicht einmal gekannt haben dürften. Gekoppelt an die Touristen-Visa nach Minsk war die mitgelieferte Verheißung, von dort unkompliziert und umgehend in die Europäische Union weiterreisen zu können.
Dafür hatten die Menschen, die sich auf dieses vage Spiel einließen, jeweils eine beträchtliche Summe an Geld vorzuschießen. Pro Kopf, so stellte sich später bei Befragungen von Betroffenen heraus, waren umgerechnet meistens Summen zwischen 2.500 und 4.000 Euro fällig. Lukaschenkos Behörden nahmen diesen miesen Geschäftsbetrieb billigend in Kauf, wie der Minsker Machthaber im November 2021 gegenüber der Rundfunkanstalt BBC sogar bereitwillig einräumte. Wir seien Slawen, so Lukaschenko, da helfen wir gerne.
Seine Behörden und Ordnungsorgane sorgten anschließend dafür, dass die in die EU wollenden Menschen schnell an die Grenze zu Polen und weiteren EU-Nachbarländern verbracht wurden, er fügte jetzt im BBC freigiebig hinzu, dass er sie an keiner anderen Stelle des von ihm regierten Landes sehen wolle. Es sei ausschließlich die EU und darin bestimmte Länder, die sie erreichen wollten. Entsprechend sorgten die Ordnungskräfte lange Zeit dafür, dass niemand mehr von der Grenzlinie ins Land zurückkonnte, für das aber alle ein gültiges Einreisevisum besessen hatten.
Anfang Oktober 2021 ließ Jarosław Kaczyński in dem von den regierenden Nationalkonservativen kontrollierten Verfassungstribunal Polens per Richterspruch erklären, dass EU-Recht und EU-Regelungen immer zurückzutreten hätten, sobald sie polnischem Verfassungsrecht widersprächen. In einer ersten gewaltigen Protestwelle reagierten die Menschen in Polen auch deswegen sehr heftig, weil sie in dem überraschenden Schritt eine von den Nationalkonservativen beabsichtigte Weichenstellung in Richtung des künftigen Austritts Polens aus den Gemeinschaftsstrukturen befürchteten.
Erst einige Zeit später wurde deutlicher, dass es den Regierenden in Warschau in dieser Situation eigentlich um etwas ganz anders ging. Seit Ende August 2021 wird die Grenze zu Belarus auf über 150 Kilometern Länge befestigt, zunächst mit einem provisorischen Stacheldrahtverhau, später soll eine wohl über fünf Meter hohe Mauer diesen ersetzen. Zusätzlich zur beginnenden Grenzbefestigung wurde außerdem die Einrichtung eines Sicherheitsstreifens entlang der Grenze von drei Kilometern Breite verfügt, in dem mittels eines Ausnahmezustands Grundrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit im starken Maße eingeschränkt werden.
Sobald Menschen in diesem Streifen aufgegriffen werden, die unkontrolliert aus Belarus über die Grenze nach Polen gekommen sind, werden sie umgehend wieder hinter die Grenzlinie zurückgebracht, was geltenden und vereinbarten EU-Regelungen widerspricht, weil das individuelle Recht auf den Asylantrag ausgehebelt wird.
Die besonders herausgestellte Sorge um die nationale Identität und Souveränität, weil unter den Bedingungen der EU-Mitgliedschaft unter zusätzlichen Druck geratend, gehört seit 2015 zu den Grundzügen nationalkonservativer Regierungspolitik in Polen. Insofern wundert es nicht, dass die von Lukaschenko heraufbeschworene Situation wie Wasser auf die nationalkonservativen Mühlen wirkt. Die von Osten in die EU drängenden Menschen erscheinen wie eine Gefahr für die nationale Sicherheit, werden in erster Linie als Bedrohung des eigenen Hoheitsgebietes gesehen.
Alle anderen Verpflichtungen, die sich aus der EU-Mitgliedschaft und weiteren internationalen Verträgen ergeben, werden nun zurückgestellt, es geht allein noch um die entschlossene Abwehr der Gefahr für die Landesgrenze, die plötzlich vor der Haustür steht. Einerseits hofft Kaczyński nun auf sich stabilisierende Umfragewerte, denn seit dem Sommer 2020 ist das Regierungslager zunehmend unter innenpolitischen Druck geraten. An der Grenze zu Belarus mit den nationalen Muskeln zu spielen, scheint wie eine willkommene Chance.
Andererseits aber darf nun exerziert werden, was immer behauptet wurde: Dass nicht die EU-Mitgliedschaft zusätzliche Sicherheit für Polens Souveränität gewährt, sondern umgekehrt in erster Linie die nationalkonservative Regierungspolitik für den ausreichenden Schutz derselben angesichts der Herausforderungen der EU-Mitgliedschaft sorgen müsse. Nicht von ungefähr betonte Kaczyński jetzt in einem Presseinterview, dass Polens größtes Problem die inneren Feinde seien, also all jene, die leichtfertig und aus eigenem Interesse den außen drohenden Gefahren für Land und Leute in die Hand spielten.
Die Anziehungskraft der EU ist ungebrochen, nach außen hin mag die Gemeinschaft mitunter sogar bereits wie ein beginnender Bundesstaat wirken, der sie nicht ist. Weit vorangekommen auf dem sich vertiefen sollenden Weg eines Staatenbundes ist die Europaunion seit den Tagen der Währungsunion und der sogenannten Osterweiterung wohl nicht. Wenn nun an der sogenannten EU-Außengrenze, die sich ja in jedem Fall aus den Landesgrenzen souveräner Mitgliedsländer zusammensetzt, Grenzbefestigungen und sogar neue Mauern aufgerichtet werden, zeugt es von einer krisenhaften Situation, in der nun in besonderer Weise diejenigen gefordert sind, die grundsätzlich für die Gemeinschaft sich einsetzen.
Die Gegner der EU werden es sowieso auf ihre Weise zu nutzen wissen, die anderen aber dürfen den Kopf nicht mehr in den Sand stecken. Bei Nachfragen, die Hilfsorganisationen jetzt in Polen vorgenommen haben, kommt ein eindeutiges Bild zum Vorschein: Kaum einer derjenigen Menschen, die derzeit von Belarus aus in die EU gelangen wollen, gibt politische oder Gewaltgründe für den gewählten Weg an. Im Gegenteil: die meisten weisen jeden Bezug auf Politik zu Hause sogar strikt zurück. Es geht ihnen zumeist um eine neue Lebensperspektive für sich, die sie im zurückgelassenen Heimatland – aus verschiedenen Gründen – nicht mehr sehen können.
Die EU allerdings setzt sich aus Ländern zusammen, die in der Einwanderungsfrage höchst unterschiedliche Positionen haben, was nur zu verständlich ist. Wird der gordische Knoten hier nicht durchschlagen, werden die Mauern an der Außenseite wohl künftig immer höher werden müssen.
Holger Politt leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.