29. März 2022 Joachim Bischoff:

Perspektiven des Wirtschaftskriegs gegen Russland

Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich der Westen in großer Einigkeit zu harten Wirtschaftssanktionen gegen Russland zusammengefunden. Seit einem Monat sind diese Maßnahmen zur Blockierung wirtschaftlicher Abläufe in Kraft, die als Reaktion auf den Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar verhängt wurden.

Sie reichen vom Stopp von Hightech-Lieferungen über das Einfrieren der Devisenreserven der Zentralbank bis hin zum weitgehenden Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift. Diese Sanktionen übertreffen alle bisherigen vergleichbaren Strafmaßnahmen gegen Staaten (Iran, Kuba etc.). Die westlichen Staaten führen faktisch einen Wirtschaftskrieg gegen Russland.

Angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine mehren sich national und international Stimmen, die trotz dieser Schärfe der Sanktionen einen sofortigen Boykott von Öl, Kohle und Gas aus Russland fordern. Bundeskanzler Olaf Scholz verteidigt dagegen, dass Deutschland weiterhin Energie aus Russland bezieht. Der SPD-Politiker verweist darauf, dass mit einem solchen Schritt die heimische Wirtschaft selbst massiv geschädigt werde, dass damit »unglaublich viele Arbeitsplätze« gefährdet würden und damit die deutsche Gesellschaft sich selbst für einen langwierigen Wirtschaftskrieg blockiere. Die deutsche Industrie sei auf Kohle, Gas und Öl angewiesen. Sich schnellstmöglich von russischen Importen unabhängig zu machen, bleibe das Ziel, es gelte aber Übergangsphasen einzuhalten.

Hinter der aggressiven Forderung nach einem radikalen Importstopp steht offenkundig die Vorstellung, man könne damit eine zügige Entscheidung im Wirtschafts- und Militärkrieg herbeiführen. Dagegen steht die westliche Politik, durch die militärische Gegenwehr der ukrainischen Kräfte und den langfristig angelegten Wirtschaftskrieg mit der Administration Putin einen Waffenstillstand und eine Beendigung des Krieges zu erreichen.

Schließt man eine solche diplomatische Lösung aus, sind Forderungen nach einem regime change selbst um den Preis einer weiteren Ausweitung und Eskalation des Krieges möglich. US-Präsident Joe Biden hat dieser Tage in Warschau erstmals offen die Herrschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Frage gestellt. »Um Gottes Willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben«, sagte Biden in seiner als historisch angekündigten Rede zum Abschluss seiner Polen-Reise. Das Weiße Haus versuchte allerdings unmittelbar darauf, die Aussage zu relativieren. Denn noch strebt der Westen insgesamt eine diplomatische Lösung mit dem politischen System in Russland an.

Keine Frage: Ein Teil der westlichen Länder, vor allem der Medien sieht in einem Systemchange in Russland die überzeugende Antwort auf den Krieg gegen die Ukraine. Allerdings wird dabei selbst ein politisches Chaos in Russland in Kauf genommen, was eher weitere militärische Risiken einschlösse. Die überlegtere Position wird in Großbritannien vertreten: Unter bestimmten Bedingungen könnte Großbritannien Russland eine Aufhebung der Sanktionen in Aussicht stellen. Das sagte die britische Außenministerin Liz Truss gegenüber dem Sunday Telegraph. Zu den Bedingungen zählen der Stopp des Einmarsches in die Ukraine, ein Waffenstillstand und »keine weiteren Aggressionen«. Dann könnten die gegen hunderte Personen und Organisationen verhängten britischen Sanktionen gelockert werden.

Sanktionen als Mittel der Rückkehr zur Diplomatie?

Die Sanktionen zielen auf das Zentrum der russischen Ökonomie und nehmen daher auch die kollateralen Schäden für die russische Bevölkerung in Kauf. Auch ohne ein umfassendes westliches Importverbot für fossile Energie haben der russische Staatshaushalt und der Nationale Vermögensfonds gelitten, in dem die Öleinnahmen von Russland angelegt werden. Dessen Wert schmolz im Februar um 11,5% zum Vormonat auf umgerechnet 154,8 Mrd. US-Dollar. Grund dafür ist der sinkende Wert russischer Unternehmen, in denen Geld angelegt wurde. Der Wert der Beteiligung an der größten russischen Bank Sberbank etwa halbierte sich auf geschätzt 1,5 Bio. Rubel, der an der Fluggesellschaft Aeroflot schrumpfte von 47,4 Mrd. auf 30,7 Mrd. Rubel.
Infolge der Sanktionsankündigungen und der Kriegsoperationen hat die russische Währung (Rubel) stark an Wert verloren. Die Notenbank ist im Kampf gegen eine Währungskrise teilweise blockiert, weil sie nicht vollumfänglich auf ihre großen Devisenreserven im Ausland zurückgreifen kann. Die Bank of Russia steht mithin im Zentrum der Sanktionen. Sie kann nur einen Teil der Rücklagen einsetzen, um die Währung zu stützen und die Banken mit Fremdwährungen zu versorgen. Die russische Wirtschaft wankt wegen der blockierten Waren, und weil das Steuerungszentrum – die Notenbank – nur begrenzt handlungsfähig ist.

Infolge des Kriegs und der Sanktionen werden langjährige Kooperationen beendet und Lieferungen von wichtigen Teilen storniert. Hunderte von ausländischen Unternehmen haben ihr Geschäft eingestellt, und internationale Marken und Ketten ziehen sich aus Russland zurück. Das hat zur Folge, dass auch die im Land verbleibenden Firmen mit großen Problemen zu kämpfen habe. Die Sanktionen schaden der Wirtschaft massiv. Ökonomen gehen laut einer Befragung der russischen Zentralbank im Durchschnitt von einer Schrumpfung des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 8% aus. Die Spannweite der Prognosen reicht jedoch bis zu einem BIP-Einbruch von 23%.

Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine werden zu einer viel tieferen Rezession führen als während der COVID-19-Pandemie. Vor Kriegsbeginn war für die russische Wirtschaft ein Wachstum von 2,7% prognostiziert worden. Zudem wird die Inflation in diesem Jahr 20% erreichen. 2020 war Russland nach Angaben der Weltbank die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Bis Ende des Jahres könnte das Land auf Platz 15 abrutschen. Insgesamt laufen die  Prognosen darauf hinaus, dass die aktuellen Entwicklungen die wirtschaftlichen Effekte von etwa 15 Jahren zunichtemachen werden. Russland wird in dem Prozess der Entwicklung seiner Ökonomie also massiv zurückgeworfen.

Die Notenbank hat daher strenge Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, das Abheben von ausländischen Devisen praktisch blockiert und die Leitzinsen sofort um knapp 10% erhöht. Die Unternehmen müssen Transaktionen in US-Dollar oder Euro vom Finanzministerium bewilligen lassen. Von ihren Einnahmen aus Erdöl-, Erdgas- oder Metallexporten müssen 80% sofort in Rubel konvertiert werden. Damit kann die Notenbank mindestens vorerst einen weiteren Fall des Rubels stoppen. Mit diesen harten Maßnahmen hat es die Notenbank geschafft, dass die meisten Russ*innen ihren Banken weiterhin vertrauen und der Geldkreislauf nicht aus den Fugen geraten ist.

Die Sanktionen werden in den nächsten Monaten ihre Wirkung verstärkt entfalten. Außer den einfachsten Nahrungsmitteln werden alle Produkte sehr viel teurer werden. Auch die Arbeitslosigkeit wird zu einem wachsenden Problem. Die steigenden Preise werden für die Konsument*innen zu einer Belastung werden. Viele Russ*innen werden ihre Nachfrage einschränken. Aufgrund dieser sinkenden Nachfrage, der Unterbrechung der Lieferketten und des Rückzugs westlicher Unternehmen drohen erhebliche Umbrüche für die Wirtschaftsstruktur.
Die Sanktionen sollen dennoch – so Forderungen in den westlichen Ländern – verschärft werden. Bislang sind erst sieben Banken aus dem internationalen Swift-System ausgeschlossen. Vor allem europäische Länder beziehen weiterhin russisches Erdgas und Erdöl. Diese fossilen Brennstoffe sorgen derzeit noch für reichliche Zuflüsse an harter Währung, d.h. Russland erwirbt zwischen 60 und 70 Mrd. US-Dollar im Monat durch den Rohstoffexport. Gleichwohl: Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass diese Maßnahmen den Krieg unmittelbar stoppen könnten.

Erfahrungen mit westlichen Sanktionen

Auch die russische Annektion der Krim im Jahr 2014 verschreckte viele ausländische Investoren, und Sanktionen trafen die russische Wirtschaft. Zugleich stürzte die Erdölnotiz ins Bodenlose. Die Währung brach stark ein, und viele Russ*innen versuchten, ihre Rubel in US-Dollar zu wechseln. In der Folge geriet die Währung stark unter Druck. Um einen Kollaps zu verhindern, verhängte die Zentralbank hohe Zinsen und Kapitalverkehrskontrollen. Anfang 2015 stabilisierte sich der Rubel wieder.

In der Konsequenz hatte sich die russische Nationalbank auf westliche Sanktionen vorbereitet und erhebliche Rücklagen gebildet, die zugleich möglichst so angelegt wurden, dass sie durch Sanktionen nicht eingefroren werden können. Daher die Kampagne in westlichen Ländern für Energiesanktionen: Zwar wurde ein Teil der Währungsreserven mit den Sanktionen gegen die russische Zentralbank eingefroren, aber eben nur ein Teil. Über die Einnahmen durch die Öl- und Gasverkäufe erhält Moskau außerdem frische Devisen und kann dadurch direkt und indirekt den Krieg finanzieren. Auch der Wirtschaftskrieg mit Russland ist längst in einen längeren Abnutzungs- oder Erschöpfungskrieg übergegangen.

Die scharfen Sanktionen zielen auf eine Ausweitung der Belastungen für die breite russische Bevölkerung. Das Ziel ist, über die Erhöhung des innergesellschaftlichen Drucks einen Systemwechsel auszulösen. Auf der anderen Seite bewirkt eine Erweiterung der Sanktionen durch Importverbote für russisches Gas und Öl mindestens kurzfristig auch eine massive Schädigung eines größeren Teils der europäischen Ökonomien. Das Abklemmen der Hauptader der Finanzierung des russischen Staates wäre ein riesiger Eingriff in die Ökonomie beider Seiten.
Um in dem Wirtschaftskrieg längerfristig überleben zu können, muss die Administration Putin die Wirtschaft umstrukturieren. Nur so können unterbrochene Lieferketten wiederhergestellt und andere Prozesse etabliert werden. Fraglich ist, ob mit staatlichen Maßnahmen die Wirkung der Sanktionen aufgehoben werden kann. Einen solch drastischen Schritt hat noch keine andere Volkswirtschaft, die so stark in die globalen Lieferketten integriert war, erlebt. Russland wird gerade innerhalb von wenigen Tagen von der internationalen Arbeitsteilung abgekoppelt.
Die Sanktionen werden in den nächsten Wochen und Monaten ihre Wirkung noch verstärkt entfalten.

Es ist präzedenzlos, die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt, die global integriert und einer der wichtigsten Rohstoffexporteure ist, dermaßen zu isolieren. Von den Sanktionen werden die Lebensverhältnisse der gesamten russischen Bevölkerung getroffen. Die Vorstellung, dass dies zwangsläufig ein Treibmittel für einen regime change ist, ist illusionär. Dies könnte einen Zerstörungsreflex des autokratischen Präsidenten Putin auslösen. Vorstellbar ist auch, dass dadurch mehr Russ*innen in die Arme des terroristischen Regimes getrieben werden. Die Sanktionen schwächen zwar die Wirtschaft, aber nicht zwangsläufig die politischen Machtverhältnisse im Kreml.

Und die Rückwirkungen der scharfen Sanktionen auf die westlichen Gesellschaften sind gleichfalls nicht zu vernachlässigen. Im Günstigsten Fall gibt es doch in näherer Zeit eine Rückkehr zur Diplomatie, anderenfalls müssen sich die westlichen Politiker*innen auf eine langwierige Auseinandersetzung einstellen. Vor einem einschneidenden Schritt schrecken die Staaten der EU jedoch zurück: vor totalen Sanktionen gegen russische Energielieferungen.

Doch: Die europäische Diskussion um eine Einschränkung russischer Energielieferungen ist noch nicht abgeschlossen. Wenn Europa keine Ausweitung des Irrationalismus will, sollte es bei dem geplanten Umbau des Energiemixes und damit einer zeitlich gestreckten Einschränkung russischer Energielieferungen bleiben. Dies ist der sichere Weg einer Rückkehr zur Diplomatie und eines Friedens.

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