6. Juli 2025 Wolfgang Müller: Chinas Arbeitsmarkt

Plattformökonomie und Landwirtschaft als Ventile

Szene aus dem chinesichen Film »Upstream«

Schon vor zehn Jahren klagten Personaler deutscher Firmen, sie würden für ihre Fabriken in China kaum noch Nachwuchs finden. Das galt auch für Unternehmen mit eigener Lehrlingsausbildung dort, vergleichbar der dualen Ausbildung in Deutschland. Entweder wechselten die chinesischen Fachkräfte nach abgeschlossener Ausbildung zu anderen Arbeitgebern, die mehr zahlten.

Oder sie gingen von Bosch, Schaeffler oder VW etc. gleich in die Plattformökonomie, heuerten bei Lieferdiensten an oder als Fahrer für Didi, das chinesische Pendant von Uber. Der Anreiz: mehr Flexibilität, scheinbar mehr Selbstbestimmung und vor allem mehr Geld (bei vielen Arbeitsstunden).

Fabrikarbeit attraktiver zu machen und vor allem besser zu bezahlen, hilft nur teilweise gegen den Fachkräftemangel. Denn in China, der »Fabrik der Welt«, aus der wertmäßig weit über 30% aller Industriegüter auf dem Globus stammen, haben Jobs in der Produktion wenig gesellschaftliches Ansehen, anders als der Facharbeiter in Deutschland. Entsprechend hoch ist die Fluktuation. Für junge Chines*innen ist Studium angesagt. Von jedem Jahrgang absolvieren etwa 50% ein Studium. Auch wenn anschließend erstmal Arbeitslosigkeit droht oder ein Job in der Plattformökonomie für Lieferdienste oder als Taxifahrer.

Die Nachfrage nach Jobs in der Plattformökonomie – von Essenslieferungen und Fahrdiensten über Tagelöhner in Fabriken bis zu Programmierjobs – ist enorm: Die Metropole Shenzhen im Perlflussdelta musste kürzlich ihr Angebot von 1.000 bis 2.000 Qualifikationstests monatlich für Liefer- oder Taxifahrer im Frühjahr auf 8.000 Testtermine ausweiten. Die Fahrzeuge gehören entweder den Fahrern oder werden für Raten von ca. 500 US-$ monatlich geleast. Für die Autoindustrie wiederum bringen die Fahrdienst-Plattformen Nachfrage. Etwa 10% aller Verkäufe von Elektroautos in China entfallen auf Fahrer mit Zertifikaten für Fahrdienstleistungen.

Nach einer Erhebung der chinesischen Vereinigung für öffentlichen Nahverkehr sind 40% der Fahrer der Fahrdienst-Plattformen in den großen Städten in den 1980er-Jahren geboren und 30% in den 1990ern. Nikkei Asia (27.8.2024) zitiert einen jungen Fahrer aus der Fabrikstadt Dongguan im Perlflussdelta, der seinen Fabrikjob verlassen hat. Er rechnet jetzt mit einem Monatseinkommen von 7.000 Renminbi  (RMB), mehr als in der Fabrik. Wegen des harten Wettbewerbs um Fahrten hat er sich auf verschiedenen Fahrdienst-Plattformen registriert.

China hat nicht nur die zahlenmäßig größte Plattform- oder Gig-Ökonomie auf der Welt, wenig verwunderlich angesichts der Bevölkerungszahl. Der Anteil der Plattformökonomie an der Gesamtbeschäftigung ist aber besonders hoch. Vermutlich nirgendwo sonst ist die Transformation des Arbeitsmarktes zu flexiblen, auftragsgebundenen Arbeitsverhältnissen so weit fortgeschritten. Das ist auch ein großes Thema in der chinesischen Literatur und in den Medien.


Arbeitsmarktentwicklung: weniger Fabrikarbeit, mehr Dienstleistungen

Die Ergebnisse des im Dezember 2024 veröffentlichten Zensus, der alle fünf Jahre stattfindet, bestätigen den Zuwachs von Arbeitsplätzen in Chinas Dienstleistungssektor und speziell in der Plattformökonomie. Chinas Volkswirtschaft beschäftigte 2023 insgesamt über 740 Millionen Arbeitskräfte.

123 Millionen Menschen oder 16% arbeiteten in der Industrie. Zum Vergleich: In den USA sind 12,8 Millionen oder rund 8% in der Industrie beschäftigt, in Deutschland 21%. In China hat sich die Zahl der Industriebeschäftigten in den letzten fünf Jahren kaum geändert, trotz des Fokus der Regierung auf Industrieprogramme wie »Made in China 2025«[1] und auf die Entwicklung einer eigenständigen, vom Weltmarkt weitgehend unabhängigen industriellen Infrastruktur.

Die Daten über die Stagnation der Beschäftigung in der chinesischen Industrie widerlegen auch die gängige Polit-PR im Westen und speziell in den USA. Denn der US-Zollkrieg gegen den Rest der Welt wird auch damit verkauft, dass die damit beabsichtigte Re-Industrialisierung viele Arbeitsplätze in den USA schaffen werde. Die Daten aus China sprechen eine andere Sprache.

Der Blick auf den gesamten sekundären Sektor, zu dem neben der Industrie auch die Bauwirtschaft, der Energiesektor und der Bergbau zählen, belegt das Bild. Die Zahl der Arbeitsplätze in den Branchen, in denen Dinge »gemacht« werden, geht auch in China weiter zurück. Die Regierung hatte in ihrem jährlichen Beschäftigungsüberblick Ende 2024 die Gesamtzahl der im Sekundärsektor Beschäftigten selbst um 21 Mio. höher geschätzt. Aber allein Chinas Bauindustrie hat sieben Millionen Jobs gegenüber dem letzten Zensus von 2018 verloren. In Relation zu solchen Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt erscheinen mögliche Jobverluste durch den US-Wirtschaftskrieg, die westliche Ökonomen zwischen fünf und 15 Millionen Arbeitsplätze beziffern, als externe Schocks, die gemanagt werden können.

Im Dienstleistungssektor waren 2023 insgesamt 411 Millionen Arbeitskräfte beschäftigt, viele Millionen mehr als in den jährlichen Beschäftigungserhebungen erfasst und weit mehr als doppelt so viel wie im gesamten sekundären Sektor. Ausschließlich der Dienstleistungssektor sorgte für das Beschäftigungswachstum von 2018 bis 2023. Allein 135 Millionen Chinesen arbeiten im Groß- und Einzelhandel, 12 Millionen mehr als in der Industrie. Darunter fallen großenteils auch die Beschäftigten der Plattformökonomie (Economist vom 1.3.2025). Die Ergebnisse des Zensus von 2023 widerlegen das im Westen immer noch populäre Bild, dass die meisten Chinesen in schmutzigen Fabriken an Maschinen geknechtet werden.

Zum Dienstleistungssektor werden auch die Beschäftigten in der Softwareentwicklung sowie in den Internet- und Kommunikationsdienstleistungen gezählt. Deren Zahl lag 2023 bei 16,7 Millionen gegenüber zehn Millionen im Jahr 2018, sorgte aber nur für 2% der Gesamtbeschäftigung. Die Erfolge des chinesischen Tech-Sektors,[2] speziell auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI), sind spektakulär. Aber der positive Beitrag des Tech-Sektors zur Beschäftigung ist marginal. Und die schnelle, von der Regierung forcierte KI-Adaption in chinesischen Firmen und Organisationen könnte dafür sorgen, dass viele administrative Arbeitsplätze künftig wegfallen.

Dagegen trägt Chinas Landwirtschaft immer noch 22% zur Gesamtbeschäftigung bei. Das ist außergewöhnlich im Vergleich zu Volkswirtschaften auf ähnlichem Entwicklungsstand. So arbeiten in Mexiko nur 12% aller Beschäftigten in der Landwirtschaft, im Agrar-Exporteur Brasilien oder in Polen jeweils nur 8%. Man könnte argumentieren, dass Chinas Landwirtschaft noch ein großes Arbeitskräftepotenzial bietet. Das erklärt aber nicht den vergleichsweise hohen Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtbeschäftigung.

Der eigentliche Grund: Chinas Dörfer sind ein Puffer für überschüssige Arbeitskräfte in den Städten. Wenn sie dort keine annehmbar bezahlte Beschäftigung mehr finden und sofern sie noch den Status (Hukou) als Landbewohner haben, können sie in ihrem Heimatdorf ihre Parzelle bestellen und dort günstig leben, obwohl ihre Rente mickrig ist. Damit absorbiert die Landwirtschaft Arbeitskräfte, die zeitweilig z.B. während der Corona-Pandemie oder auch dauerhaft keinen Job mehr in den Städten finden. Denn viele sogenannte Wanderarbeiter sind nicht mehr jung wie in den 1990er-Jahren. Über 30% sind heute älter als 50. Viele sind deshalb froh, noch ein Haus und ein Stück Land auf dem Dorf zu haben.

Auch die Beschäftigungsverhältnisse haben sich seit dem letzten Zensus geändert: Fast 180 Millionen (ohne Landwirtschaft) sind selbstständig oder arbeiten für Familienmitglieder. Viele sind bei Dienstleistungsfirmen mit wenig Beschäftigten angestellt, nicht in großen Unternehmen. Die durchschnittliche Mitarbeiterzahl pro Firma ist von 17 auf 12 gefallen. (Economist vom 1.3.2025)


Bis zu
200 Millionen in prekärer Beschäftigung?

Nach Schätzungen der staatlichen chinesischen Gewerkschaften arbeiten inzwischen über 84 Millionen oder fast 12% aller Beschäftigten in »neuen Formen der Beschäftigung«, u.a. für Lieferdienste. Nach persönlichen Beobachtungen im Jahr 2024 sehen die chinesischen Gewerkschaften neben der Politikberatung für die staatliche Regulierung der Arbeitsverhältnisse in der Plattformökonomie ihre Aufgabe vor allem darin, in den großen Städten den Kurieren Aufenthaltsmöglichkeiten für Pausen und zudem Rechtsschutz zu bieten. Die chinesische Regierung spricht in ihren Berichten sogar von etwa 200 Millionen »flexibel Beschäftigten«. Sie definiert allerdings die Kategorie breiter und erfasst darunter auch Selbstständige aller Art, aber auch Beschäftigte in Teilzeit. Das ist über ein Viertel der Gesamtbeschäftigung in China (Economist vom 10.5.2025).

Ein einziger chinesischer Lieferdienst, Meituan, kann inzwischen auf 7,5 Mio. Kuriere zugreifen, 41% mehr als 2021. Er hat ihnen im vergangenen Jahr umgerechnet 11 Mrd. US-$ an Vergütung gezahlt. Die Meituan-Kuriere sind normalerweise bei Leiharbeitsfirmen angestellt. Das Unternehmen erwartet bis 2027 ein jährliches Wachstum von 15% bei Lieferdiensten für Essen und Einkäufe.

Einen ähnlichen Boom erleben die Fahrdienste: 2020 gab es 2,9 Millionen Lizenzen dafür, im vergangenen Jahr waren es 7,5 Millionen. Die zwei größten Lieferdienste für Essen – Meituan und Alibaba’s Ele.me – haben zusammen mehr als elf Millionen Kuriere. Ihre Bezahlung richtet sich im Wesentlichen nach der Zahl der Auslieferungen. Das führt zwangsläufig zu größeren Risiken bei der Arbeit.

Der Boom geht weiter: Im Frühjahr kündigte das chinesische E-Commerce-Unternehmen JD.com an, auch in den Markt für Essenslieferungen einzusteigen. Bis Juli sollten 100.000 Kuriere geheuert werden. Nach dem Modell des staatlich geförderten Wettbewerbskapitalismus werden die Essenspreise fallen. JD.com hat gleichzeitig angekündigt, mit Sozialleistungen für die Kuriere zu punkten. Daraufhin fielen erstmal die Aktienkurse von JD.com und der Konkurrenz von Meituan etc. (Nikkei Asia, 27.5,2025)

Noch vor fünf Jahren hatte die regierende Kommunistische Partei die »ungezügelte Kapitalexpansion« in der Plattformökonomie kritisiert. Inzwischen hat sich der Kurs geändert. 2023 lobte Ministerpräsident Li Qiang die Unternehmen für ihre prominente Rolle für die volkswirtschaftliche Nachfrage und die Beschäftigung. Auch die Rolle der Plattformökonomie als Puffer für die Volkswirtschaft wird jetzt betont.

Die die großen Konzerne in diesem Sektor sollen nun auch für mehr Sozialleistungen sorgen. JD.com erklärte schon im Februar, man werde den Lieferfahrern Sozialleistungen zahlen. Der Essenslieferdienst Meituan hat im Frühjahr ein entsprechendes Pilotprogramm gestartet. Die Firmen des Sektors investieren in Pausenstationen, was bislang nur die chinesischen Gewerkschaften gemacht hatten, sowie in kostenlose Mahlzeiten.

Bleibt die Frage, wer letztlich für die neuen Sozialleistungen für die Kuriere zahlt. In Chinas sozialen Medien überwiegt die Skepsis. Kuriere zitieren das chinesische Sprichwort, dass die Wolle immer vom Rücken des Schafes kommt. Nichts ist umsonst! In einem Leserbrief aus Shanghai auf einen Bericht der Financial Times (11.3.2025) über Sozialleistungen für Lieferfahrer heißt es: »Wenn die Lieferdienste ihre Fahrer wirklich besser bezahlen wollen, ist das eine außerordentlich ineffiziente Methode.« Denn das Geld fließe nur in die Kassen der staatlichen Sozialversicherungen, die schlecht gemanagt und leer seien. So seien normale Medikamente bei der staatlichen Krankenversicherung manchmal dreimal so teuer wie online.


Plattform-Tagelöhner auch in den Fabriken

Schon seit mehreren Jahrzehnten gibt es in chinesischen Fabriken Kontrakt- oder Leiharbeiter. Die sind wie in Deutschland bei den sogenannten Personaldienstleistern beschäftigt, mit denen sie formal ein Arbeitsverhältnis haben. Der Buchautor Wolfgang Hirn, der lange in China gelebt und zahlreiche Bücher über den chinesischen Aufstieg verfasst hat, berichtete in seinem Newsletter »Chinahirn« vom 31.3.2025 von einer Untersuchung der Ökonomie-Professorin Zhang Dandan der Peking Universität. In einer Studie stellte sie mit ihrem Team fest, dass Gig-Arbeiter, also Tagelöhner ohne Arbeitsvertrag und ohne grundlegende Sozialleistungen, längst auch in der Industrie Einzug gehalten haben.

Ihr Forschungsteam recherchierte zwischen 2022 und 2024 in den beiden großen Industriezentren des Landes – Perlflussdelta und Yangtzedelta. Ihre Ergebnisse hat Zhang Dandan in einem Artikel in dem chinesischen Wirtschaftsmagazin Caixin[3] unter dem eindeutigen Titel »The Non-Negligible Trend of Gigification in Manufacturing« dargestellt. Nach ihren Studien sind etwa ein Drittel der Fabrikarbeiter »Tagelöhner«, in Spitzenzeiten können es sogar zwei Drittel sein. In manchen Fabriken mit über 10.000 Beschäftigten hatten 80% keinen festen Arbeitsvertrag mehr und wurden nur bei Bedarf engagiert – eine gigantische industrielle Reservearmee. Der Tagelöhner in der Fabrik ist im Schnitt 26 Jahre alt, zu 80% männlich und meist Single. Sein monatliches Einkommen beträgt 5.444 Yuan (752 US-$) und seine Wochenarbeitszeit 61,6 Stunden. Fast die Hälfte der Tagelöhner in der Produktion hat auch keine der »fünf Versicherungen«. Mit diesem Begriff sind Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung sowie Mutterschutz gemeint. Aber über 70% der neuen Tagelöhner hofften auf einen festen Arbeitsvertrag in den nächsten fünf Jahren.

Die Ökonomin geht davon aus, dass die Plattformarbeit in den Fabriken noch zunehmen wird. Damit können Unternehmen die Schwankungen in der Produktion ausgleichen. Steigen die Aufträge, holen sie die Gig Workers. Über Plattformen wie Zhouxinxin werden Arbeiter online vermittelt. Die Digitalisierung der Produktion erlaubt zudem mehr Flexibilität und kleine Losgrößen, so dass die Unternehmen nur einen kleinen Stamm von festen Mitarbeitern brauchen.

Die Kuriere beschreiben ihren anstrengenden Job oft mit dem chinesischen Begriff »guodu«, ein Übergangsjob, um »über den Fluss überzusetzen«. Der chinesische Schriftsteller Hu Anyan, dessen Buch über seine Zeit in Niedriglohnjobs und als Kurier unter dem Titel »Ich fahr Pakete aus in Peking« inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist , liefert darin eine minutiöse Aufstellung seines Tagesablaufs als Kurier in Peking. Um monatlich akzeptable 7.000 RMB zu verdienen, musste er im Schnitt elf Stunden pro Tag an 26 Tagen im Monat arbeiten. Der Stundenlohn lag damit bei etwa 30 RMB. Dafür musste er aber alle vier Minuten für jeweils zwei RMB eine Lieferung machen. Für einen Toilettengang von nur zwei Minuten war keine Zeit. Durch diese unerträglichen Vorgaben wurde er zunehmend nervös und gereizt, aber er fügte sich und versuchte, gegenüber den Kunden immer freundlich zu bleiben.

In der chinesischen Öffentlichkeit spielen die allgegenwärtigen Kuriere und ihre extremen Arbeitsbedingungen eine große Rolle. Der im Jahr 2024 erschienene chinesische Film »Upstream« des Regisseurs David Chuang über ein Programmierer mittleren Alters, der Lieferfahrer wurde, löste in China große Debatten aus und hatte eine große Resonanz.[4]


Klassenkämpfe in der chinesischen Plattformökonomie

Nach den Erhebungen des – inzwischen leider eingestellten – China Labour Bulletin in Hongkong gibt es seit vielen Jahren zahllose Arbeitskonflikte in Chinas Plattformökonomie. Es ist der Sektor mit der regelmäßig höchsten erfassten Zahl von Auseinandersetzungen. So hatte sich schon vor zehn Jahren ein Kurierfahrer vor der Zentrale des Alibaba-Konzerns, eines der größten E-Commerce-Firmen in China, aus Protest über die schlechte Bezahlung verbrannt.

Im Kern geht es immer um die Bezahlung und damit verbunden um die Taktung der Aufträge durch die Apps. Nach einer Studie chinesischer Soziolog*innen[5] ist der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital auf den Outsourcing-Plattformen extrem heftig. Für die Wissenschaftler*innen ist das Besondere der häufigen, aber öffentlich meist kaum sichtbaren Widerstandsaktionen die spezielle Qualität des Arbeitsregimes der Plattformökonomie. Sie verwenden dafür den Begriff »contentious despotism« – einerseits despotisch, andererseits umkämpft.

Weil die staatliche Regulierung der Plattformen noch eine Baustelle ist und weil Chinas Gewerkschaftsreformen nicht substanziell sind, sind die Arbeitsbeziehungen in der Plattformökonomie weder hegemonial im Sinne einer wirksamen Koordinierung und Regulierung. Aber sie sind auch nicht völlig desorganisiert – wie etwa zu Beginn der chinesischen Marktreformen. Despotisch ist das Arbeitsregime, weil der Markt in Gestalt der Plattformen dominiert und weil Zwang und Druck vorherrschen trotz Abstimmung und Verabredungen zwischen den Kurieren an der Basis.

Gleichzeitig ist das Arbeitsregime der Plattformökonomie umkämpft und umstritten und sorgt für ständige Konflikte. Die Kurierfahrer streiken oft, erreichen aber keine substanziellen Änderungen. Weder Arbeitsgesetze und Arbeitsverträge noch die Regulierung der Sozialversicherung können den Lieferfahrern wirksam helfen, solange sie nicht das drängendste Problem, nämlich die Bezahlung angehen. Nach der Studie funktioniert die Mediation von Konflikten in den Straßenbüros für die Kurierfahrer kaum, zumal beim grundlegenden Thema – die Bezahlung für den Auftrag – nicht ihre Vorgesetzten von den Personaldienstleistern das Sagen haben, sondern die Technologie entscheidet.

Der Studie zufolge haben die Kuriere aber Verhandlungsmacht am Arbeitsplatz und zudem viel informelle Vereinigungsmacht, weil sie räumlich konzentriert sind, sozial interagieren und sich leicht online organisieren können dank der kurzen Zyklen der Plattform-Aufträge und ihrem Zugang zu Online-Kommunikation. Sie konnten zwar bislang keine länger dauernden Streiks organisieren und damit die Plattformen wirtschaftlich unter Druck setzen. Andererseits haben sie aber so viel strukturelle Macht, dass sie nicht gefeuert werden können. Denn sie haben genug alternative Plattformen, auf denen sie ihre Arbeitskraft anbieten können. Gleichzeitig haben sie bei ihren täglichen Widerstandsaktionen begriffen, dass nicht irgendwelche Vorgesetzten das Problem sind, sondern die digitalen Plattformen selbst.

Die gegenwärtigen Management-Strategien der Plattformen und der mit ihnen verbundenen, aber gleichzeitig unternehmerisch getrennten Personalagenturen haben den Soziolog*innen zufolge die Rolle der Plattform-Arbeiter in China bislang dramatisch unterschätzt. Denn die Leistung der Kuriere ist essenziell für die Plattformen und für ihre Bewertung durch die Kunden, während die digitale Überwachung und Kontrolle sich oft als ineffektiv erweist. Damit bleibt auf den chinesischen Plattformen der Widerstand der Beschäftigten die Regel, solange sich die Bezahlungsmodelle der Kuriere etc. nicht grundlegend ändern.


Was macht die Regierung?

Bislang ist die staatliche Regulierung der Apps unzureichend und auf Einzelfälle bezogen. Im Dezember 2024 erließ die Stadt Guangzhou die Anweisung, die Lieferdienste sollten künftig bei den Vorgaben für die Essenslieferungen auch die Zeiten berücksichtigen, die ein Kurier für das Absteigen vom Fahrzeug bis zur Auslieferung des Essens an der Wohnungstür braucht (Nikkei Asia, 15.4.2025). Die Stadt Xiamen an der Ostküste erließ Vorschriften für die täglichen Arbeitszeiten der Kuriere inklusive Ruhezeiten. Wieweit solche Vorgaben wirklich wirksam werden und sich zudem landesweit durchsetzen, ist eine andere Frage.

Wolfgang Müller hat mehrere Jahre in Beijing gelebt. Er schreibt regelmäßig zu neueren Entwicklungen in der Volksrepublik in der Printausgabe von Sozialismus.de, zuletzt in Heft 6-2025 über »Sieg im Zollkrieg oder nur kurzer Waffenstillstand? China hat sich gut vorbereitet«, S. 38ff. Letzte Buchveröffentlichung im VSA: Verlag: »China: neuer Hauptfeind des Westens? Nach 100 Jahren Erniedrigung will das Land der Welt auf Augenhöhe begegnen«, Hamburg 2023.

[1] Siehe hierzu ausführlicher Wolfgang Müller: Made in China 2025. Erfolge und Probleme des bisherigen Wirtschaftsmodells der Volksrepublik, in: Sozialismus.de, Heft 3-2025, S. 43ff.
[2] Siehe hierzu ausführlicher Wolfgang Müller: Huaweis starkes Comeback. US-Sanktionen gegen Chinas technologische Entwicklung bleiben weitgehend wirkungslos, in: Sozialismus.de, Heft 9-2024, S. 26ff.
[3] Die englische Übersetzung des Artikels gibt es unter https://www.eastisread.com/p/dandan-zhang-chinas-factory-workers.
[4] Siehe die Kurzvorstellung des Inhalts samt einem YouTube-Trailer auf der erwähnten Website von Wolfgang Hirn unter https://www.chinahirn.de/2024/09/11/film-i-upstream/.
[5] Bao Zhao und Siqi Luo: The Old Conflict in the New Economy? Courier Resistance on Outsourcing Platforms in China, in: China Quarterly 2023, abrufbar unter: researchgate.net

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