5. April 2022 Redaktion Sozialismus.de: Gegen alte und neue »kalte Krieger*innen«

Politik der Zugeständnisse als wahre Ursache des Ukraine-Kriegs?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (im Amt von 2005 bis 2921) scharf und lud sie und Nicolas Sarkozy nach den »schweren Gräueltaten in Butscha« zu einer Reise in die Stadt ein.

In dem 25 km nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew liegenden Ort könne sie und auch der ehemalige französische Präsident sich von ihrer gescheiterten Russland-Politik der vergangenen Jahre überzeugen, sagte Selenskyj am Sonntagabend in einer Videobotschaft. Die NATO-Staaten, also auch Deutschland und Frankreich, hätten 2008 der Ukraine eine Aufnahme in das Verteidigungsbündnis in Aussicht gestellt.

Daraus sei aber aus Rücksicht auf Russland nichts geworden. »Ich lade Frau Merkel und Herrn Sarkozy ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat […] Sie werden die gefolterten Ukrainer und Ukrainerinnen mit eigenen Augen sehen.«

War schon die Verweigerung der NATO-Mitgliedschaft 2008 in den Augen des Präsidenten der Ukraine eine historische Fehlentscheidung, dann gilt dies erst recht für die Minsker Abkommen von 2014/15. Rückendeckung erhält er von neu-alten »kalten Kriegern« wie Ralf Fücks, dem Leiter des Zentrums Liberale Moderne, der in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formuliert, wer einen Angriffskrieg vom Zaun breche und ein Kriegsverbrechen nach dem anderen begehe, dürfe nicht als Sieger das Feld verlassen.

»Die Erfahrung von 2014 sitzt tief, als die Ukraine in höchster Not das Minsker Abkommen unterschreiben musste, das den Status der von Russland okkupierten Gebiete im Donbass künftigen Verhandlungen überließ […] Das Gerede von einem ›gesichtswahrenden Ausweg‹ ist nur eine Fortsetzung der gescheiterten Beschwichtigungspolitik.«[1]

Nicht nur das vom Grünen-Ehepaar Fücks-Marieluise Beck 2017 gegründete und seit 2019 mit Bundesmitteln finanzierte Zentrum Liberale Moderne fordert ein endgültiges Ende der Appeasement-Politik, die nicht nur eine längere Phase der friedlichen Koexistenz in der von Atomwaffen bewehrten Systemkonfrontation gesichert hatte, sondern auch eine halbwegs friedliche Transformation des wirtschaftlichen Systems der Nationen der Sowjetunion ermöglichte.

Die wie die Pilze aus dem Boden schießenden neuen »kalten Krieger*innen« des Westens oder der Liberalen Moderne wollen die Politik der friedlichen Koexistenz rückblickend beerdigen, plädieren gegen einen Waffenstillstand und ein neues Arrangement mit der alten oder kurzfristig erneuerten politischen Führung Russlands. Es müsse auch um den Preis eines Atomkrieges die Inthronisierung eines Containments erfolgen, wofür der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, plädiert.

»Anders als nach dem Fall der Berliner Mauer darf er sich nicht dem Trugschluss hingeben, der russische Imperialismus sei schnell besiegt. Notwendig ist ein ›Containment‹ nach dem Vorbild des Kalten Kriegs: Russland muss militärisch, politisch und wirtschaftlich in Schach gehalten werden. Das erfordert eine langfristige Anstrengung, die sich auch durch russische Schalmeienklänge nicht beirren lässt.«[2]

Der Ko-Herausgeber der FAZ, Gerald Braunberger, sieht Deutschland in einer Wagenburg, die verlassen werden müsse. Wenn die NATO eine militärische Konfrontation mit Russland vermeiden wolle, müsse die Ukraine so ausgerüstet werden, dass sie sich die russische Armee vom Leib halten könne.

Aktuell bedeute dies für den Westen und damit für die Berliner Republik: »Spätestens nach den schrecklichen Bildern aus Butscha und anderen ukrainischen Städten sollte sich in Deutschland die Überzeugung ausbreiten, dass es mit Wladimir Putin keinen Weg zurück in eine wirtschaftliche Kooperation mehr geben kann wie vor dem 24. Februar. Alle Illusionen, man könne nach einem Ende der Kriegshandlungen doch wieder das betreiben, was in den vergangenen Jahren fälschlicherweise als ›Realpolitik‹ bezeichnet wurde, müssten verflogen sein.

Die grünen Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich rasch für weitere Sanktionen durch die Europäer ausgesprochen. Dem ist zuzustimmen, aber man wird sehen müssen, wie weit der Mut bei SPD und FDP reicht. Wirksame Sanktionen müssten die Energielieferungen einbeziehen, aber auf diesem Terrain hat sich die Bundesregierung mit Teilen der Industrie auf eine schwer verständliche Weise in einer selbst gezimmerten Wagenburg verbarrikadiert, aus der sie nur schwer wieder hinausfinden wird.«[3]

Noch hält die von der Ampelkoalition gezimmerte deutsche Wagenburg. Es ist völlig illusionär, sich von einem sofortigen Stopp aller Energielieferungen aus Russland ein sofortiges Ende des völkerrechtswidrigen Krieges zu erwarten. Putins und die politische Führung Russlands hat sich seit längerem auf den Krieg und das Sanktionsregime vorbereitet und selbst seine enormen Devisenreserven dementsprechend weitgehend auf sicheren Territorien gebunkert. Außerdem würde eine weitere Radikalisierung des westlichen Wirtschaftskrieges die Gefahr einer Eskalation des militärischen Krieges erhöhen.

Schon jetzt sind größere Teile der Bevölkerung in der Wagenburg über die Geldentwertung, die drastischen Preissteigerungen, vor allem bei den Strom- und Heizungskosten, tief besorgt. Die »Tafeln« melden einen deutlich höheren Zustrom von Hilfsbedürftigen bei gleichzeitig geringerem Angebot an zu verteilenden Lebensmitteln.

Die führenden deutschen Industriegewerkschaften warnen dieser Tage eindringlich vor dem Reißen der Wertschöpfungsketten und vor einem drohenden Niedergang des Industriestandortes. Die Abgehobenheit derjenigen, die sich für eine weitere Eskalation seitens des Westens aussprechen, ist nicht zu übersehen. Wer mit der Mehrheit der Bevölkerung ein Kriegsende samt völkerrechtlicher Verfolgung von Kriegsverbrechen und eine friedliche Koexistenz mit einer europäischen Sicherheitsordnung erreichen will, muss sich gegen diese neuen und alten »kalten Krieger*innen aussprechen.

Ganz in diesem Sinne agiert auch die ehemalige Bundeskanzlerin. Angela Merkel (CDU) hat sich trotz massiver Kritik des ukrainischen Präsidenten hinter die Entscheidung gestellt, die Ukraine 2008 nicht in die NATO aufzunehmen und ließ ihre Pressesprechring erklären: »Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel steht zu ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest.«

Zugleich unterstützt sie die internationalen Bemühungen, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu beenden. »Angesichts der in Butscha und anderen Orten der Ukraine sichtbar werdenden Gräueltaten finden alle Anstrengungen der Bundesregierung und der internationalen Staatengemeinschaft, der Ukraine zur Seite zu stehen und der Barbarei und dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Ende zu bereiten, die volle Unterstützung der Bundeskanzlerin a.D.«

Anmerkungen

[1] Ralf Fücks, Deutschland muss mehr für die Ukraine tun, in: FAZ vom 4.4.2022.
[2] Eric Gujer, Der Westen ist naiv: Auch wenn Putin verschwindet, wird sich Russland nicht verändern. In: NZZ vom 1.4.2022: »Der Westen glaubte nach dem Ende der Sowjetunion, dass ein neues Russland entstanden sei. Das war ein Trugschluss, wie Putin der Welt vor Augen führt. Selbst wenn der Zar gestürzt wird, bleibt der Imperialismus Moskaus.«
[3] Gerald Braunberger, Deutsche Wagenburg, in: FAZ vom 4.4. 2022.

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