10. August 2022 Bernhard Sander: Frankreichs Sommerprobleme

Politischer Crash-Test in der Hitzewelle

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100 der rd. 3.500 Gemeinden Frankreichs sind Mitte August ohne Wasser. Nicht nur in den Mittelmeerregionen brennen Waldgebiete, auch in den seit dem 18. Jahrhundert angelegten Pinienwäldern, die das Hinterland der Atlantikküste vor Versandung und Versteppung schützen sollen, nachdem man es trockengelegt hatte, um die Erträge der Landwirtschaft zu intensivieren (vergeblich), lodern die Flammen.

Jetzt droht sich diese Gefahr mit der sich ausbreitenden Dürre zu verstärken. In 62 der 93 Departements verhängte die Zentralregierung Krisen-Alarm mit dem Verbot der Bewässerung von privaten Grünflächen (auch in der export-wichtigen Landwirtschaft) und des Autowaschens.

Staatspräsident Emmanuel Macron war bei seiner ersten Wahl 2017 noch als »Klimapräsident« angetreten. Im Wahlkampf 2022 versprach er, dass »Frankreich als erste große Nation aus Öl, Gas und Kohle aussteigt«. Doch stehen Umweltschutz und Klimapolitik nicht im Zentrum seiner Politik. Sein erster, populärer Umweltminister resignierte schon 2018. Der von Macron selbst eingerichtete Hohe Rat für das Klima (eines der vielen Gremien, die wenig zu sagen haben, aber das Parlament entwerten) stellte fest, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen, den CO2-Ausstoß um 40% bis 2030 zu verringern, was das Ziel des Pariser Abkommens ist.

Aufgrund der Klage eines Bürgermeisters von der Kanalküste, der seine Polder von Überschwemmungen bedroht sieht, hat das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs die Regierung 2020 und Oktober 2021 wegen Versäumnissen im Kampf gegen die globale Erwärmung verurteilt und einen Artikel des Energiegesetzbuches (mit dem 40%-Ziel) für juristisch verpflichtend erklärt.

Zur Negativ-Bilanz Macrons gehört, dass

  • den Bürgermeistern ein Veto-Recht bei der Errichtung von Windparks eingeräumt wurde (mit der rechtskonservativen Mehrheit im Senat);
  • das Verbot von Inlandsflügen durch die EU-Kommission als »Wettbewerbs-Diskriminierung« geprüft wird;
  • das Ziel, bis 2035 12 AKWs vom Netz zu nehmen und den Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung zu halbieren, aufgegeben wurde;
  • in Frankreich weniger Solaranlagen betrieben werden als in Deutschland;
  • und ein Kohlekraftwerk in Lothringen wieder ans Netz gehen wird.

Doch die Atomwirtschaft reguliert sich technisch in diesem heißen Sommer gerade selbst herunter: Zwar hat sie Ausnahmeregelungen erreicht, nach denen die Wärme des abgegebene AKW-Kühlwassers trotz hoher Zuflusstemperaturen und Wassermangel in der Rhone und in den alpennahen Stauseen steigen darf.

Aber die 56 Reaktoren haben mit technischen Problemen zu kämpfen, von denen zwölf wegen Korrosionsschäden (Haarrisse in Rohrleitungen des Kühlsystems, aber auch der nuklearen Kreisläufe) stillliegen. Das Korrosionsproblem betrifft vor allen vier der neuesten Modelle mit besonders starker Leistung (1.450 MW) sowie 20 Reaktoren mit 1.300 MW Leistung. Für die älteren Reaktoren mit 900 MW Leistung gab die Atomaufsicht Entwarnung. Sie seien für das Phänomen »wenig oder sehr wenig anfällig«. Vor dem Winter ist mit einer Wiederinbetriebnahme kaum zu rechnen. Frankreich produziert so wenig Strom wie zuletzt vor 30 Jahren. Unter normalen Bedingungen liegt der Anteil der Atomenergie bei etwa 70% des Energiemix. In der letzten Juliwoche lieferten die französischen Kernkraftwerke allerdings lediglich 59% des benötigten Stroms.

Die technischen und klimatischen Probleme werden zu Marktproblemen, da die Preise in der Zukunft dadurch angeheizt werden. Die Großhandelspreise stiegen kurzfristig von 450 auf 650 Euro pro Megawattstunde (zum Vergleich In Deutschland ist der Preis weitaus niedriger und bewegt sich Ende Juli zwischen 350 und 370 Euro). Frankreich muss sich die fehlenden Mengen nämlich auf dem internationalen Markt besorgen, vor allem in Deutschland, das seinerseits versucht, seine Stromproduktion trotz fehlender Gasmengen stabil zu halten bzw. mit Strom fehlende Gasmengen zu kompensieren. Im Juli exportierte Frankreich 189 Gigawattstunden Strom nach Deutschland (aufgrund von Kontrakten aus der jüngeren Vergangenheit), bezog aber auch 1.600 Gigawattstunden aus Deutschland (oft zu kurzfristigen Spot-Preisen). Im vergangenen Jahr lagen die Juli-Mengen bei 934 Gigawattstunden im Export und nur 541 Gigawattstunden im Import.

Die französische Netzagentur erwartet im Winter für das Land, dessen Industrie, aber auch die Privathaushalte (39% heizen elektrisch) auf Strom angewiesen sind, dass etwa für 200 Stunden die kurzfristige Nachfrage weder aus eigener Produktion noch aus Import gedeckt werden kann. Das gab es in geringerem Ausmaß allerdings aufgrund der Wartungs- und Klimathematik bereits in den Jahren 2019 und 2020. Der Preis der Grundlast wird auch so schon im Dezember voraussichtlich auf 1.000 Euro pro Megawattstunde steigen, in den Abendstunden sogar auf 2.000 Euro. Das entspricht dem Doppelten der erwarteten Preise in Deutschland.

Die Regierung kündigte an, den angeschlagenen Energiekonzern EdF vollständig zu übernehmen. Vorher besaß der Staat 84% der Anteile an dem Unternehmen, das alle AKW im Land betreibt. EdF verzeichnete ein Minus von über fünf Mrd. Euro im ersten Halbjahr 2022. Mit der Verstaatlichung sollen große Investitionen in neue Kernkraftwerke angeschoben werden. Die Regierung erfüllt damit auch eine Forderung, die Teile von NUPES im Wahlkampf erhoben hatten.

Es hat sich die Interpretation durchgesetzt, Macrons mangelndes Engagement im Klimaschutz sei auf die Schrecken der Gelbwesten zurückzuführen. Dabei sind es sowohl die Republikaner als auch die Rechtspopulisten des Rassemblement National und Éric Zemmour, die den Kampf gegen die auch in deutschen bürgerlichen Milieus bejammerte Verspargelung der Landschaft durch »Windkraftparks made in Germany« zu ihrem Thema gemacht haben. Marine Le Pen will sie alle enteignen und abreißen lassen. Die wahlprägende soziale Spaltung, die Macron ins Kalkül einbezieht, bestand allerdings schon vor der Ukraine-Krise.

Macron befürchtet Probleme nach dem Wahlerfolg des Linksbündnisses NUPES vor allem in der Verteilungsfrage, weshalb Renten und Sozialleistungen um 4% erhöht werden. Mieterhöhungen werden bei 3,5% gedeckelt (im ländlichen Raum sogar bei 1,5%), Betriebe können eine Zulage von bis zu 3.000 Euro von Steuern und Sozialabgaben freistellen. Der Steuerfreibetrag für Überstunden wird von 5.000 auf 7.500 Euro erhöht. Der Strom- und Gaspreisanstieg wird bei 4% gedeckelt. Der Tankrabatt wird künftig 30 statt 18 Cent pro Liter an der Zapfsäule betragen. Hinzukommt die Abschaffung der Rundfunkgebühren in Höhe von 138 Euro im Jahr, die Macron als Beitrag zu Stärkung der Kaufkraft im Wahlkampf versprochen hat, und die durch 3,5 Mrd. Euro aus dem Mehrwertsteueraufkommen kompensiert werden sollen.

Dadurch wird die Inflation auf derzeit im internationalen Vergleich niedrige 6,1% gedämpft. Es sei »gerechter und effektiver«, das Geld den französischen Bürger*innen direkt zu geben, sagt der zuständige Minister. Allein der Preis-Deckel für Strom und Gas kostet bis zum Jahresende 14,5 Mrd. Euro. Die Maßnahmen machen einen Nachtragshaushalt mit Krediten in Höhe von 44 Mrd. Euro notwendig. Die komplette Wieder-Verstaatlichung des Stromversorgers EDF kostet allein 9,7 Mrd. Euro.

Finanzminister Bruno Le Maire wollte in keinen Fall »in einen pawlowschen Steuerreflex verfallen«. Nur deswegen gelang es, dass die Republikaner »Verantwortungssinn zeigen« konnten. Denn sie argumentierten für punktuelle Hilfen ohne Steueränderungen und Zuschüsse ohne Bezug auf soziale Schichten (keine Rentenwirksamkeit der Prämie/Ausschluss der Arbeitslosen), um »die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht zu beeinträchtigen«. Die von der Linken beantragte Übergewinnsteuer wurde hingegen abgelehnt.

Angesichts der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse kann sich jede Auseinandersetzung zu einer Regierungskrise zuspitzen. Ministerpräsidentin Élisabeth Borne, die seit ihrer Amtseinführung gerne von Kompromissen spricht, hat das genaue Gegenteil getan, weil nicht ein Änderungsantrag der Opposition angenommen wurde. Die Links-Rechts-Spaltung ist nach Meinung des kommunistischen Parteivorsitzenden mehr denn je sichtbar, obwohl Kommunisten und Sozialdemokraten bis zum Schluss mit der Ablehnung zögerten, weil sie auf Kompromisssignale warteten, vor allem bei den Sozialabgaben auf die Pandemie-Prämie der Unternehmen, und weil sie wissen, wie wichtig das Thema »Kaufkraftsicherung« für die Mehrheit der Bürger*innenn ist. Die Linke hatte deshalb auf eine Erhöhung der Gehälter gedrängt: Anhebung des Mindestlohns auf 1.500 Euro des fiktiven Ecklohns im Öffentlichen Dienst um 10% statt der von der Regierung nun eingeführten 3,5%.

Macrons Ministerpräsidentin konnte mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Sicherung der Kaufkraft zum ersten Mal in einer substanziellen Frage eine eigene parlamentarische Mehrheit erzielen. Das Misstrauensvotum Anfang Juli hatte sie nur deswegen politisch überlebt, weil sich Le Pens 89 Abgeordneten der Stimme enthielten und nicht mit der linken NUPES stimmen mochten. NUPES verteidige die nicht die Interessen der Französ*innen, sondern »sie wollen nur die Republik sprengen«. Die Republikaner blieben in der Vertrauensabstimmung bei ihrem Standpunkt gegenüber den Macronisten: »Wir sind die Partei der Ordnung. Deshalb stimmen wir dem Misstrauensantrag nicht zu. Aber wir sprechen ihnen auch nicht das Vertrauen aus.«

In der Abstimmung über Grenzkontrollen des Impfstatus brachte wenige Tage vor den Parlamentsferien »eine Koalition von Extremisten und Impfgegnern« aus Republikanern, RN und Linkspartei LFI (so der frühere Sarkozy-Minister und heutige Renaissance-Abgeordnete Eric Woerth) das Regierungsvorhaben jedoch zu Fall. Der Populismus innerhalb von NUPES scheint also nur in Maßen gebändigt. Die Weiterbeschäftigung von Ungeimpften im Gesundheitsdienst fordert nicht nur Le Pen, sondern auch die Parlaments-Vizepräsidentin und Fraktionsvorsitzende von LFI. In der Frage der Medienreform haben jedoch auch die Linken auf eine weitere Inszenierung des Kampfes zwischen Elite und dem Volk verzichtet. Sie haben erkannt, dass die Gebührenstreichungen das Gewicht des Privatfernsehens wachsen lassen und fortan neofaschistische Großsprecher vom Schlage Zemmour die Nachrichten moderieren werden, die in Frankreich schon seit Jahren den Charakter von Talkshows haben, und stimmten dagegen.

Viel schwerwiegendere Differenzen tun sich auf der Linken in der Außenpolitik auf, wo sich Grüne und PS für den Eintritt Schwedens und Finnlands in die NATO ausgesprochen haben (die Zustimmung der nationalen Parlamente ist Voraussetzung für den Beitritt) und der LFI-Führer Jean-Luc Mélenchon deutliche Kritik am Besuch der dritthöchsten US-Repräsentantin, Nancy Pelosi, in Taiwan geäußert hat (»unnötige Provokation«), während die anderen NUPES-Partner schwiegen.

Bei der Beurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine herrscht in Frankreich größere Gelassenheit als in Deutschland, da man weniger stark vom Gas im Allgemeinen und russischen Gas im Besonderen abhängt. Man könne im kommenden Winter sogar bis zu 20 Terawattstunden Gas an Deutschland liefern, verlautete aus dem Energieministerium. Der Staatspräsident, dessen Amt als Vorsitzender des EU-Ministerrates gerade auslief, mahnt immer mal wieder, man dürfe »Russland nicht demütigen«. Seine bisherigen stundenlangen Telefonate mit Putin haben zwar nicht greifbares gebracht.

Aber Macron zieht aus seiner Beurteilung der Lage (»Putin hat einen historischen Fehler für sein Volk begangen«) den Schluss, »Auswege für Putin zu suchen«, wie Präsident Selenskij kritisierte. Es geht Macron dabei vor allem um die Rolle Frankreichs, das seit dem Zweiten Weltkrieg immer mit am Tisch saß. Von Beginn an lieferte Frankreich schweres militärisches Gerät an die Ukraine. Im Alleingang präsentierte Macron einen Vorschlag einer »europäischen politischen Gemeinschaft«, da es erhebliche Differenzen zwischen den EU-Regierungen in der Frage der EU-Erweiterung (Balkanstaaten, Ukraine) gibt.

Macron mag den Crash-Test in der Kaufkraftfrage bestanden haben. Doch lässt dies weder Rückschlüsse auf die parlamentarische Überlebensfähigkeit seines Regierungsbündnisses zu, noch sind damit die fundamentalen Themen des notwendigen Klimawandels im Anthropozän angegangen.

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