9. Mai 2022 Björn Radke: Fortsetzung einer Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein?

Politischer Erdrutsch in Kiel

Das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein ist deutlich: Die CDU mit Ministerpräsident Daniel Günther soll die Zukunft des Landes für weitere fünf Jahre gestalten. Mit einem erdrutschartigen Vorsprung von über 20 Prozentpunkten vor den anderen Parteien erreicht die CDU mit 43,4% ein Ergebnis, dass die Umfrageergebnisse noch einmal deutlich übertroffen hat und eine Zweier-Koalition wieder möglich macht.

11 Prozentpunkte mehr als bei der Landtagswahl 2017 sind das beste Ergebnis für die CDU seit 2005. Der Erfolg gründet vor allem auf der Popularität ihres Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Daniel Günther, den in den Umfragen zuletzt 66% der Befragten weiter in der Rolle des Regierungschefs sehen wollten. 74% der Wähler*innen sind laut Infratest Dimap nach fünf Jahren Jamaika-Koalition zufrieden mit der Arbeit des Regierungschefs.

Auf diesem Umfrageniveau bewegt sich die CDU derzeit in keinem anderen Bundesland. Und dieses Wahlergebnis hebt sich deutlich von den Ergebnissen bei der der Bundestagswahl und bei der Europawahl 2019 ab, bei der auch im Norden jeweils das historisch schlechteste Ergebnis für die Union erreicht wurde. Die Wahlbeteiligung lag allerdings mit 60,4% unter den 64,2% im Jahr 2017.

Günther ist laut ARD-DeutschlandTrend bundesweit der beliebteste Ministerpräsident. Die CDU hat deshalb in der zurückliegenden Wahlkampagne vor allem auf seine Person gesetzt: »Daniel Günther ist ein sehr guter Ministerpräsident, der den Menschen zuhört und sich um die Lösung ihrer Probleme kümmert. Bei ihm ist unser Land in guten Händen.« Die Jamaika-Koalition unter seiner Führung habe das Land sicher und besser als andere Bundesländer durch die Corona-Pandemie gebracht.

Auch die Energiepolitik, bei der in den Umfragen allerdings den Grünen mit 44% eindeutig die größte Kompetenz zugeschrieben wird, schreibt sich die CDU auf die Fahnen: »Wir wollen Kurs halten für einen Klimaschutz, der Arbeit schafft. Wir werden die Chance der Energiewende für Schleswig-Holstein nutzen, neue Wertschöpfung schaffen und neue Unternehmen mit zukunftsfesten Arbeitsplätzen ansiedeln.« Die Mehrheit der Wähler*innen ist diesem Narrativ »Kurs halten«, »Sicherheit« und dem Verweis auf die vergleichsweise ruhige und erfolgreiche Steuerung durch die Corona-Pandemie gefolgt.

Es gab keinen Grund zum Wechsel: Die wirtschaftliche Lage bewertet eine breite Mehrheit positiv (69%), die meisten merken auch Preissteigerungen noch nicht so stark im Alltag. Sie sind zufrieden mit dem Corona-Management im Land und überzeugt, dass die bisherige Regierung die Probleme richtig angegangen ist.

Mit Günther verknüpft ist auch eine Veränderung der CDU im Norden hin zu einer Öffnung der früher eher stramm konservativen Partei. Zu der Herausbildung eines neuen Politikstils haben sicher auch die Grünen mit dem früheren Landwirtschaftsminister Robert Habeck beigetragen. Daniel Günther verkörpert auch eine deutliche liberalere christdemokratische bürgerliche Union als deren gegenwärtiger Parteichef Friedrich Merz. Als Merz einst die Politik von Kanzlerin Angela Merkel scharf kritisierte, empfahl Günther »älteren Männern, die vielleicht nicht das in ihrem Leben erreicht haben, was sie wollten, und nun alte Rechnungen begleichen möchten«, ihr Genöle »von der Seitenlinie« einzustellen.


Absturz der Sozialdemokratie

Für die SPD endete die Wahl mit dem historisch schlechtesten Ergebnis in einem Land, dessen Ministerpräsident sie mehrmals gestellt hat. Sie verlor 12,1% und erreichte mit 16,0% den niedrigsten Stimmanteil ihrer Landesgeschichte. Sie hat auch alle Direktmandate abgeben müssen, die bis auf drei, die an die Grünen gingen, der CDU zugefallen sind. Der SPD-Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller vertrat wenig überzeugend die Konzepte, Ideen und den Einsatz der Sozialdemokrat*innen. Die SPD habe gegen drei einige Parteien gekämpft. Den Schwerpunkt ihres Wahlkampfes hatte sie auf sozialpolitische Defizite der Jamaika-Koalition gelegt: »Für die Wiedereinführung der Mietpreisbremse, für ein neues Tariftreuegesetz, Abschaffung der Kitagebühren und bis 2040 klimaneutral – und zwar sozial abgesichert und industriepolitisch durchdacht.«[1]

Trotz dieser sozialen Erzählung hat die SPD 61.000 Wähler*innen an die CDU verloren, 37.000 an die Grünen und 14.000 an den SSW. Bei der Zuschreibung von Sachkompetenzen verliert die SPD im Vergleich zu 2017 auf breiter Front. In vielen Bereichen – gerade solchen wie Wirtschaft, Arbeit und Finanzen – haben sich die Werte halbiert. Und statt 34% wie 2017 glauben jetzt nur noch 16%, dass die SPD die Partei ist, die die wichtigsten Probleme im Land am ehesten lösen kann. Demnach kann auch das Argument, dass der Krieg in der Ukraine alle landespolitischen Fragen in diesem Wahlkampf überdeckt habe, nicht überzeugen. Der SPD in Schleswig-Holstein ist die Erneuerung ihres politischen Profils nicht gelungen.

Die Grünen sind der zweite Gewinner dieser Landtagswahl. Sie haben um 5,4% auf 18,3% zugelegt und damit ihr bestes Ergebnis im Land erzielt, vor allem wegen der Energiepolitik des Landes. Hier haben sie mit Robert Habeck und Jan-Philipp Albrecht deutliche Akzente gesetzt. »Nachdem bereits im letzten Jahr eine Kehrtwende zu verzeichnen war, wird 2021 für die Windkraft in Schleswig-Holstein ein echtes Spitzenjahr«, sagte Minister Albrecht. »Trotz widriger Bedingungen durch den Bund werden hierzulande gemessen an der Landesfläche die meisten Windkraftanlagen errichtet.« Dieser Trend werde anhalten. Mit der bevorstehenden Inbetriebnahme von Anlagen mit 1.350 Megawatt Gesamtleistung komme das Land seinen Ausbauzielen schnell näher. Die bisherige Finanzministerin, Monika Heinold, hat in der Finanz- und Haushaltspolitik keine neuen Impulse setzen können, was wohl die Träume von einem höheren Ergebnis getrübt hat. Gleichwohl haben die Grünen bei eher »harten« Themen ihre Kompetenzwerte ausbauen können.

Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) stellt die Veränderung der politischen Kultur heraus. Schleswig-Holstein sei ein Land, das eine harte politische Tradition gehabt habe. Man sei dort lange Zeit nicht »Mitbewerber, sondern Gegner und Feind« gewesen. »Dass das überwunden wurde, liegt auch daran, dass konservative und moderne Kräfte gut zusammengearbeitet haben.« Er glaube, »Daniel Günther ist schlau genug zu sehen, wenn zwei Parteien die Wahl gewinnen, was daraus dann zu folgen hat«. Damit warb Habeck für eine schwarz-grüne Landesregierung. »Ich glaube, das wäre eine Erfolgsgeschichte.«

Schleswig-Holstein habe davon profitiert, dass die »verhärtete politische Kultur« aufgebrochen worden sei. »Natürlich gehen die Stimmen immer zum Amtsinhaber, wenn man ihn wiederhaben will. Und er war ein guter Ministerpräsident, keine Frage […] Dieses Wahlergebnis ist eindeutig zu interpretieren, was das Land will«, so der Grünen-Politiker. »Es gibt zwei Wahlsieger: Daniel Günther und die Grünen.« Sollte die CDU sich auf eine Koalition mit der FDP festlegen, wäre das ein »politisch-kultureller Rückschritt«.

Eine Regierungsbildung ist ohne die Grünen nicht überzeugend, ob aber in Fortführung des Jamaika-Bündnisses oder als Schwarz-Grün bleibt offen und hängt sowohl von der Entscheidung der CDU als auch von der dritten Kraft, der FDP, ab. Der Partner des Dreierbündnisses Jamaika, der davon nicht profitierte, ist die FDP. Im Vergleich zu 2017 verliert sie deutliche 5,1% und landet bei 6,4%. Am stärksten verlor die FDP an die CDU. Auch ein Teil von jenen, die 2017 für die FDP stimmten, blieb einfach zuhause.

Bemerkenswert ist das Abschneiden des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) mit 5,7%. Der Vorsitzende Lars Harms brachte den Kurs des SSW auf die gängige Formel: »Für ein bezahlbares gutes Leben!« Dieser Erfolg verdeutlicht das politische Defizit der SPD. Die Mehrheit der SSW-Anhänger*innen gibt an, aufgrund des Auftretens der Sozialdemokraten im Land für den SSW gestimmt zu haben.

Erfreulich ist, dass es die AfD mit 4,4% nicht wieder in den Landtag geschafft hat. Die geschrumpfte Wählerschaft ist vor allem in strukturschwachen, ländlichen Gegenden zu finden. Sie gibt an, die Preissteigerungen besonders zu spüren zu bekommen und bewertet die eigene wirtschaftliche Lage schlecht.

DIE LINKE hatte wenig Aussicht auf das Überspringen der 5%-Hürde. Sie landete schließlich bei 1,7%, ihrem schlechtesten Ergebnis überhaupt. Seit ihrem ersten Antritt bei Landtagswahlen 2009, als sie mit 6,0% in den Landtag einzog, ist es der Partei nicht gelungen auf Landesebene ein beachteter politischer Akteur zu werden. Schon bei der Landtagswahl 2012 kam die Partei nur noch auf 2,3%. 2017 reichte es nur für 3,8%. Auch bei den Kommunalwahlen 2018 kam die Partei landesweit nicht über 3,9% hinaus. Ihr gelingt es im nördlichen Bundesland nicht, mit einer eigenen politischen Erzählung eine linke Zukunftskonzeption vorzustellen. Diese Schwäche der LINKEN verstärkt die strukturelle Schieflage in der politischen Auseinandersetzung des Landes: Eine moderne Gesellschaftspolitik und ein radikaler energiepolitischer Umbau bleibt ohne Ausbau der Stellung und Interessen der Lohnabhängigen einseitig.


Soziale Leerstellen bei Jamaika

Es gibt genügend Baustellen im Land, die von der Koalition nicht gelöst worden sind und unter einer denkbaren schwarz-gelben Koalition noch weniger Chance auf Bearbeitung finden werden.[2] Die bisherige Landesregierung hatte in ihrem aktuellen Infrastrukturbericht die großen sozialen Probleme wie fehlender bezahlbarer Wohnraum, Erwerbsarmut und Kinder- und Altersarmut nicht ignoriert. Der Handlungsbedarf bleibt laut der bisherigen Finanzministerin Monika Heinold groß: Von 7,5 Mrd. Euro ist in dem Bericht die Rede. Davon sind rund drei Mrd. Euro bereits in der Finanzplanung berücksichtigt, weitere rund drei Mrd. Euro sind Teil des IMPULS Programms. Vor allem im Bereich Krankenhaus- und Hochschulbau gibt es laut der bisherigen Landesregierung Mehrbedarfe. Die Investitionen in die Krankenhausinfrastruktur seien wichtige Maßnahmen für die gesundheitliche Versorgung in Schleswig-Holstein.

Angesichts der enormen Belastung durch hohe Mieten fordern der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Nord und der Deutsche Mieterbund (DMB) Landesverband Schleswig-Holstein von einer künftigen Landesregierung starke Investitionen in bezahlbaren Wohnraum. Damit Wohnen in Schleswig-Holstein in Zukunft bezahlbar ist, rechnet der DGB in den nächsten zehn Jahren mit einem Investitionsbedarf von 5,85 Mrd. Euro. In weiten Teilen Schleswig-Holsteins müssen die Menschen genauso viel von ihrem Einkommen für die Miete ausgeben, wie im Großraum München, in Hamburg oder im Rhein-Main-Gebiet. Schuld daran sind die vergleichsweise geringen Löhne.

In Schleswig-Holstein wurden zwar in den letzten Jahren wieder mehr neue Wohnungen fertiggestellt, allerdings viel zu wenige im bezahlbaren Preissegment. Seit 2017 wurden im Schnitt pro Jahr 870 Sozialwohnungen neu gebaut. Bis zum Jahr 2030 werden jedoch durchschnittlich 2.370 Wohnungen pro Jahr ihre Sozialbindung verlieren. Laut dem Wohnungsmarktprofil 2021 der IB.SH fallen bis 2030 jährlich 2.700 von ihnen aus den Zweckbindungen, die eine Wohnung zu einer Sozialwohnung macht. In den vergangenen fünf Jahren sind jährlich im Durchschnitt nur 984 Wohnungen dazugekommen. Die drastischen Folgen zeigen sich auch in den steigenden Zahlen der Wohnungslosen. So zeigt sich z.B. in Kiel, dass in der Zeit zwischen 2014 und 2019 die Anzahl der Wohnungslosen um 112% gestiegen ist.

Das Soziale Bündnis Schleswig-Holstein mit AWO, SoVD und dem DGB-Nord hat anhand der Zahlen aus dem Sozialbericht Schleswig-Holstein 2020[3] im Wahlkampf eindeutig Stellung bezogen, welche Dimensionen Armut in dem Bundesland hat, und was dagegen getan werden könnte. Der Sozialbericht der Landesregierung wurde in diesem Jahr fast unbemerkt veröffentlicht. Die Daten stammen aus dem Jahr 2018.

Der Sozialbericht zeigt: Der hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen in Armut in Schleswig-Holstein ist seit 2011 (17,8%) nochmal um 3,4% gestiegen (21,2% in 2018) und deutlich höher als in der Bevölkerung insgesamt (15,9%). Ein Anstieg ist allerdings bei allen Altersgruppen zu beobachten (Sozialbericht S-H 2020, S. 241). Durch die Covid-19-Pandemie ist eine Erhöhung dieses Wertes zu erwarten, denn das Kurzarbeitergeld reicht gerade für jene nicht, die ohnehin schon am unteren Rand der Einkommensverteilung liegen, z.B. in großen Teilen der Gastronomie und Hotelbranche. Diese Wirtschaftszweige sind in Schleswig-Holstein aufgrund des Tourismus besonders stark ausgeprägt.

Das größte Risiko, einkommensarm leben zu müssen, haben all jene, die eine prekäre Beschäftigung ausüben, also bei befristeten Arbeitsverhältnissen und insbesondere bei geringfügiger Beschäftigung (Minijobs). Die Armutsrisikoquote geringfügig Beschäftigter liegt bei 26,8%. Bei befristet Beschäftigten liegt sie bei 15,7% im Jahr 2018. Auch bei abhängig Beschäftigten in Teilzeit ist immerhin jede*r zehnte Arbeitnehmer*in von Armut bedroht. Gleichwohl ergibt sich hier ein deutlicher Unterschied bei diesen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im Vergleich zu geringfügigen beschäftigten Lohnabhängigen, bei denen mehr als jede*r vierte Arbeitnehmer*in von Armut bedroht ist. Das Soziale Bündnis Schleswig Holstein fordert die neue Landesregierung auf, »die Sozialpartnerschaft auf allen Ebenen zu stärken, damit die Tarifbindung erhöht werden kann. Die Landesregierung sollte zu diesem Zweck ein Tariftreue- und Vergabegesetz einführen, dass die Vergabe öffentlicher Aufträge an tarifgleiche Bezahlung knüpft.«[4]

Welche Koalition auch immer am Ende die nächsten fünf Jahre in Schleswig-Holstein regiert: Ein »Kurs halten« ohne Bekämpfung der sozialen Spaltung wird das Land nicht voranbringen.

Anmerkungen

[1] https://www.spd-schleswig-holstein.de/2022/05/06/thomas-losse-mueller-soziale-politik-gibt-es-nur-mit-der-spd/
[2] Siehe dazu ausführlich: Björn Radke, Die CDU bekämpft einen möglichen Politikwechsel, in: Sozialismus.de, Heft 3/2022.
[3] Sozialbericht Schleswig-Holstein 2020.
[4] Forderungen der Gewerkschaften: https://nord.dgb.de/++co++6d6a1490-c561-11ec-93c1-001a4a160123

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