20. Juni 2018 Joachim Bischoff / Bernhard Müller

Politischer Sprengsatz: Masterplan Migration

Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Die Fronten zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU sind verhärtet wie nie. Im Zentrum steht der Masterplan Migration. Vor Monaten suchte der rechtskonservative Flügel der Unionsparteien mit der Forderung nach einer Obergrenze für Migration und Asyl den Aufstieg der AfD zu stoppen. Doch nun hat sich der Streit zugespitzt.

In rasant kurzer Zeit hat sich jetzt der Streit zwischen CDU und CSU über das Grenzregime in Sachen Flüchtlinge zu einer Regierungskrise zugespitzt – mit offenem Ausgang. Der Streit über die Migrationspolitik entwickelte sich zur »größten Bombe im Uhrwerk Europas«. Der in der christlichen »Schwesterparteien« ausgebrochene Grundsatzstreit droht die Bundesregierung zu sprengen – mit unabsehbaren Folgen für Deutschland und Europa. An der Migrationsfrage, die Europa spaltet, in den europäischen Nachbarländern das Parteiensystem und die politisch Architektur umgekrempelt hat, droht jetzt das politische Zentrum der Mitte – die Union – zu zerbrechen, die jahrzehntelang ein Stabilitätsfaktor in der deutschen und europäischen Politik war.

Der entscheidende Grund ist die Migrationspolitik. Dahinter steht für die konservative Mitte das strategische Problem: Kann der rechtspopulistischen AfD das wichtigste politische Feld enteignet, eine Niederlage der CSU bei den bayrischen Landtagswahlen verhindert werden – sei es auch um die Kollateralschäden einer Beschädigung des Grundgesetzes und dem Ende der »Berliner Republik«. Nachdem lange Zeit das Thema einer Obergrenze für die Aufnahme von Zufluchtsuchenden für Streit zwischen CDU und CSU gesorgt hatte, sucht der neue CSU-Innenminister Seehofer jetzt den Konflikt über die Frage, Asylbewerber*innen, die in einem anderen EU-Land schon registriert wurden oder einen Asylantrag gestellt haben, ohne jedes Verfahren schon an der Grenze zurückzuweisen.

Im Jahr 2017 gab es in Deutschland 198.000 Erstanträge auf Asyl. Davon waren 60.000 Menschen im Fingerabdruck-Identifizierungssystem Eurodac gespeichert. Ihr Fingerabdruck wurde somit schon in einem anderen EU-Land erfasst. Im laufenden Jahr sind die Relationen bisher ähnlich: Es gab bis April 68.000 Erstanträge auf Asyl. Unter ihnen fanden sich 18.000 Personen, deren Angaben schon in einem anderen EU-Staat gespeichert worden waren. Diese – bezogen auf 2017 – 60.000 Personen kämen nach Seehofers Plänen also für eine Rückweisung infrage.

Deutschland ersucht schon heute im Rahmen des Dublin-Verfahrens andere EU-Länder darum, Flüchtlinge zurückzunehmen. 2017 gab es 64.000 solcher Anfragen. In 47.000 Fällen stimmten die Mitgliedstaaten der Übernahme zu. Im selben Jahr wurden aber nur 7.102 Menschen in andere EU-Länder überstellt. Im laufenden Jahr ging es ähnlich weiter: Es gab bis Ende April 21.523 Ersuche zur Übernahme, von denen 14.652 Fälle akzeptiert wurden. Im selben Zeitraum fanden nur bei 3.178 Personen Überstellungen statt. Was steckt hinter dieser Diskrepanz? Es kann sein, dass Personen untertauchen oder in Kirchenasyl eintreten. Auch die fehlende Reisefähigkeit ist eine Ursache. Schließlich können AsylbewerberInnen gegen eine Überstellung klagen.

Mit dem Rückgriff auf eine solche nationalstaatliche, nicht im europäischen Rahmen abgesprochene Intervention in der Asyl- und Flüchtlingsfrage, wäre die Konzeption von Bundeskanzlerin Angela Merkel für eine Stärkung der Eurozone faktisch erledigt. »Es geht um gegenseitige Loyalität in Europa. Das sollte nationale Alleingänge zu Lasten anderer europäischer Staaten ausschließen. Das muss unser gemeinsames Grundprinzip in Europa sein«, so die CDU-Generalsekretärin, Annegret Kramp-Karrenbauer. Merkel betont deshalb, es sei »wichtig, nachhaltige Lösungen« in der Asylfrage zu haben. »Veränderungen sollten gemeinsam stattfinden. Wir brauchen aber Veränderungen.« Sie sei dagegen, dass das Land, in dem die Flüchtlinge zuerst ankommen, die gesamte Verantwortung und Last trage. Merkel sucht deshalb bis zum EU-Gipfel Ende Juni zu bilateralen Abkommen mit den Nachbarländern zu kommen, in denen es auch darum gehen könnte, wie man die Überstellungen von Asylbewerber*innen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, vereinfacht.

Seehofer und die CSU haben der Kanzlerin eine Frist bis zum EU-Gipfel eingeräumt und damit das offene Zerwürfnis erst einmal verhindert. Gleichwohl hält Seehofer daran fest, für die Einreiseverweigerung Vorbereitungen zu treffen, die dann Anfang Juli greifen könnten, wenn Merkel keine »wirkungsgleichen« Regelungen erreicht. Merkel hat umgekehrt bereits angekündigt, dass es auch dann »keinen Automatismus« für einen deutschen Alleingang gebe. Vielmehr müsse dann im »Lichte des Erreichten« neu entschieden werden. Für den Fall, dass Seehofer die von ihm anvisierten Maßnahmen gleichwohl umsetzen will, hat sie das Geltendmachen der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin angekündigt – was praktisch die Entlassung Seehofers und das Ende der Regierungskoalition bedeuten würde. Konsequenz: »Wenn selbst zwei ureuropäische Parteien wie CDU und CSU sich nicht mehr einigen können, dann sind für das ganze europäische Einigungswerk düstere Zeiten angebrochen.« (FAZ vom 18.6.)

Das Kalkül der CSU liegt auf der Hand: Im Herbst sind Landtagswahlen, und die CSU sucht mit allen Mitteln ihre absolute Mehrheit zu verteidigen, und das wird nur möglich sein, wenn sie die AfD eindämmt. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Denn das Verhängnisvolle schon der bisher praktizierten Flüchtlingspolitik der regierenden politischen Mitte, die jetzt nach dem Willen der CSU noch einmal verschärft werden soll, besteht nicht nur darin, dass sie gegen das Völkerrecht und das Genfer Flüchtlingsabkommen verstößt, sondern darüber hinaus zu einer Verfestigung des Rechtspopulismus in Europa beiträgt. Indem sie in der Flüchtlingspolitik den Forderungen der Rechtspopulisten nach Abschottung nachgekommen sind, haben die Parteien der Mitte deren Argumenten letztlich Recht gegeben. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Wahlerfolge der Rechtspopulisten auch nach diesem Schwenk der Parteien der Mitte stabilisieren.

Dass es bei Seehofers Vorstoß um politisches Kalkül, nicht um sachgerechte Lösungen in der Asyl- und Integrationspolitik geht, zeigt der Blick auf die tatsächliche Entwicklung der Zahl der Zufluchtsuchenden. So nimmt Deutschland in der EU zwar immer noch am meisten Asylbewerber*innen auf, allerdings hat sich das Ungleichgewicht reduziert. Seehofer hat den Rückhalt seiner Partei. Die CSU hat aus einer von vielen Fragen im deutschen Asylwesen eine Entscheidungsschlacht gemacht. »Wir sind im Endspiel um die Glaubwürdigkeit«, sagte Söder.

Bundeskanzlerin Merkel, die auch innerhalb der CDU gegen eine Tendenz zur Ausfransung in Richtung CSU und AfD kämpft, geht es um eine Respektierung des Grundrechtes auf Asyl und um eine europakonforme Asylpolitik. Sie will keinen nationalen Alleingang machen, sie will nicht wieder – wie seinerzeit im Spätsommer 2015 – sich sagen lassen, dass sie die anderen europäischen Länder nicht einbezogen hat. Die CSU versucht, Anschluss an die Antiflüchtlingsstimmung zu gewinnen, die im Wesentlichen das Feld der rechtspopulistischen AfD ist. Die AfD ist bei der Bundestagswahl in Bayern die stärkste AfD-Kraft im Westen geworden. Sie wird der CSU gefährlich. Die CSU will ihr mit dieser Antiflüchtlingspolitik das Wasser abgraben. Bei diesem Versuch, die politische Stärke in Bayern zu behaupten, nimmt sie eine Beschädigung, ja selbst einen Sturz der Kanzlerin in Kauf, um als die politische Kraft des Rechtskonservatismus dazustehen. Dieser Kurs der CSU ist bei aller Loyalität nicht unumstritten: »Für die Union ist es scheiße – und für Deutschland ist es eine Katastrophe«, so drückte es ein prominenter Konservativer aus.

US-Präsident Trump lässt sich die politische Gelegenheit nicht entgehen, diesen Konflikt rechtspopulistisch auszunutzen. Er hat die Regierungskrise in Deutschland um die künftige Asylpolitik zur Rechtfertigung seiner in den USA umstrittenen Migrationspolitik herangezogen. Die Null-Toleranz-Politik gegen Migrant*innen gerät auch in den USA unter Druck. Die US-Administration geht mit allen Mitteln gegen Migrant*innen und papierlose Bürger*innen in den USA vor. Infolge der Verhaftung von illegalen Grenzgänger*innen haben die amerikanischen Behörden seit Mai mehr als 2.000 Babys und Kinder von ihren Eltern getrennt und entsprechend untergebracht.

Der amerikanische Präsident hat deutschen Behörden indirekt vorgeworfen, einen Anstieg der Kriminalitätsrate im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Migrant*innen und Flüchtlingen zu verschweigen. »Die Kriminalität in Deutschland ist um 10 Prozent gestiegen (Behörden wollen diese Verbrechen nicht melden), seit Migranten akzeptiert wurden.« Merkel widersprach dieser Behauptung, die Kriminalität in Deutschland sei im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Migrant*innen deutlich gestiegen. Die kürzlich vorgestellte Kriminalitätsstatistik spreche für sich. Die mit der Antiflüchtlingsstimmung verknüpften Vorurteile sind allerdings durch Verweis auf Fakten schwerlich auszuräumen, dies erklärt den gesellschaftlichen Sog zum rechten Spektrum.

Der deutsche Asylstreit birgt Gefahren für die Einheit der Union, die Stabilität des politischen Systems in Deutschland, aber auch für die europäische Ebene. Rückweisungen bereits registrierter Asylsuchender an der Grenze kämen wohl einem Bruch von EU-Recht gleich, und ein Dominoeffekt von Grenzschließungen könnte den Schengen-Raum bedrohen. Die abnehmenden Asylgesuche und Grenzübertritte in Europa zeigen aber, dass es im Zeitalter der Marketing-Politik auch um Symbolik geht. Die erstarkten Nationalisten, aber auch etablierte Kräfte wollen klare Signale setzen. Während die Interessen beim Umgang mit Migrant*innen auseinandergehen, herrscht beim Schutz der Außengrenzen Einigkeit.

Auch mit einem Ausbau der Abschottung, z.B. mit Tausenden neuen EU-Grenzwächtern, wäre es aber nicht möglich, das Mittelmeer mit einer Art Seeblockade abzuriegeln, wie dies mitunter suggeriert wird. Erhöht würden die Kapazitäten zur Registrierung von Asylsuchenden in den EU-Hotspots, aber auch an Landgrenzen und an Flughäfen. Ein effektives Grenzmanagement erfordert die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten. Die EU kann zudem einen Asylsuchenden, der Europa erreicht hat, aus diversen völkerrechtlichen Gründen nicht einfach so in einen Drittstaat zurückschieben.

Deutschland unterstützt seit Jahren den Kampf gegen Fluchtursachen – bilateral, gemeinsam mit anderen entwickelten Staaten, der EU und internationalen Organisationen. Es geht nach zunächst zügiger humanitärer Hilfe in der Folge um die Entwicklung der zerstörten Regionen zur Sicherung der Lebensgrundlagen.

Die bittere Wahrheit ist, dass die durch militärische Interventionen des kapitalistischen Westens verschärfte Konstellation der Unterentwicklung und gesellschaftlichen Destabilisierung sowie die massive Zunahme zerfallender Staatsordnungen die Fluchtbewegung mehr und mehr in Richtung Europa lenken. Selbstverständlich gibt es einen Komplex von Pull-Faktoren, unter denen die Hoffnung auf existentielles Auskommen, (schlecht bezahlte) Lohnarbeit und persönliche Weiterentwicklung herausragen. Zäune oder Zurückweisungen an den Grenzen einer »Festung Europa« werden das Problem der in den nächsten Jahren weiter anwachsenden Migration nicht lösen. Die Perspektive muss der Aufbau eines europäischen und internationalen Regimes sein, das auf die sich ausbreitenden Kriege und Bürgerkriege sowie die Ausweitung von »gescheiterten Staaten« durch eine koordinierte Aktion von internationalen Hilfsorganisationen und Unterstützung aus wohlhabenden Staaten reagiert.

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