22. November 2023 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: DIE LINKE sucht Neuanfang mit Bewegungs-Aktivist*innen
Politischer und programmatischer Aufbruch?
Auf ihrem ersten Parteitag nach der Abspaltung des Lagers von Sahra Wagenknecht zeigte die Linkspartei auf ihrem Parteitag in Augsburg Zuversicht und Willen zu einem Neuanfang. Sie wählte unter anderem Nichtmitglieder zum Spitzenpersonal für die Europawahl, was allerdings bestenfalls eine Zwischenlösung im Prozess einer proklamierten Erneuerung sein kann.
Eine kurze charakteristische Einschätzung der politischen Abspaltung von zehn Abgeordneten der Fraktion im Bundestag lieferte der langjährige Fraktionsmanager Jan Korte, der allerdings dem Parteitag fernblieb: »Wir haben eine irre Rechtsentwicklung in diesem Land, und ausgerechnet die einzige linke Oppositionsfraktion muss ihre Liquidation beschließen.«
Auch der langjährige Ko-Vorsitzende der Fraktion Dietmar Bartsch betonte – der vor den Delegiert*innen des Europa-Parteitages in Augsburg sprach – die historische Zäsur: Die Abspaltung sei eine gewaltige Niederlage, deren Verantwortung bei den Ausgetreten liege. Eine Analyse der Gründe für die »irre Rechtsentwicklung« blieb in Augsburg jedoch aus, was gewiss eine Belastung des Aufbruchs ist.
Die Ko-Vorsitzende der Partei, Janine Wissler, betonte gleichwohl die Chancen auf einen erfolgreichen Neustart. Die Konflikte in den letzten Jahren hätten die Partei gelähmt und seien nicht mehr aufzulösen gewesen. Zusammen mit dem anderen Ko-Vorsitzender Martin Schirdewan starteten sie auf dem Parteitag eine Erneuerungskampagne, einschließlich eines neuen Logos.
Bei der Europawahl im kommenden Juni wird DIE LINKE jedoch nicht nur im Wettbewerb mit der Sozialdemokratie und den Grünen stehen, sondern auch das erste Mal gegen die Bewegung ihrer früheren Ikone antreten müssen. Um sich dafür breiter aufzustellen, will sich die Partei stärker als bisher den Bewegungen aus der Zivilgesellschaft öffnen. Sie soll ein Sammelbecken sowohl für Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Umweltschützer, Klimaaktivist*innen sein als auch für Friedenskämpfer*innen und Flüchtlingshelfer*innen. Allerdings bleibt die sozialistische Idee als politische Essenz des Sammelbeckens eher versteckt.
Im Vordergrund in Augsburg stand nicht der vollzogene Austritt von Wagenknecht, der anderen Abgeordneten und weiterer bislang eher weniger Parteimitglieder (auch wenn das im Hintergrund immer mitschwang), sondern die Europawahl im Juni des kommenden Jahres. Dem Vorschlag des Parteivorstands für die Spitze der Kandidatenliste folgten die Delegiert*innen: Martin Schirdewan wurde mit 86,9% auf Platz 1, die Kapitänin, Aktivistin für Flüchtlinge und für Klimaschutz, Carola Rackete – die nicht Mitglied der Partei ist – mit 77,8% auf Platz 2, Özlem Alev Demirel-Böhlke mit 62% auf Platz 3 und der engagierte Arzt für Allgemein- und Notfallmedizin Gerhard Trabert (ebenfalls nicht Mitglied der Partei) mit beachtlichen 96,8% auf Platz 4 der Liste gewählt.
Die Partei hat außerdem ein Programm für die Europawahl beschlossen, das ebenfalls als Zeichen der Erneuerung und programmatischen Schärfung stehen soll. »Die, die gehen wollten, sind weg. Wir haben Platz.« Unter diesem Motto fassten führende Politiker die Situation zusammen, in der sie sich jetzt sehen. Betont werden soll die Zugewandtheit zu den Bewegungen in der Zivilgesellschaft: »Wir sind offen – zum Beispiel für Menschen aus Bewegungen, Aktivistinnen und Aktivisten«.
Insgesamt erhielt das Thema Fluchtbewegungen, Migration und Klimaschutz durch die Nominierung von Carola Rackete große politische Aufmerksamkeit, hinter der andere für die Linkspartei wichtige Bewegungen etwas in den Hintergrund traten, auch wenn das Wahlergebnis für Gerhard Trabert signalisiert, das seine Themen durchaus auch zur Verdeutlichung des Kerns einer Erneuerung der sozialistischen Linken geeignet sind.
Von 2005 bis 2013 war Trabert europäischer Delegierter der Nationalen Armutskonferenz und Leiter der AG »Armut und Gesundheit«. Seit Jahrzehnten engagiert er sich für das wichtige Anliegen, Armut macht krank und Krankheit macht arm. Die Einkommensungleichheit in Deutschland hat während der Coronakrise neue Höchstwerte erreicht und 2022 kaum abgenommen. Auch die Armutsquote war im vergangenen Jahr nach wie vor höher als vor der Pandemie. Die soziale Unwucht spiegelt sich auch im Ansehen staatlicher Institutionen: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in die Politik, rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.
Die Bekämpfung der Armut muss daher ein zentrales Anliegen einer sozialistischen Gerechtigkeitspartei des 21. Jahrhunderts sein. Im Jahr 2022 lebten 16,7% der Bevölkerung in Armut, 10,1% sogar in strenger Armut. Wenig überraschend ist, dass sich arme Menschen überdurchschnittlich oft große Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation oder um die eigene Altersversorgung machen. Auch bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit schneiden sie schlechter ab – und bei der Gesundheit: Mehr als ein Drittel der dauerhaft und 27% der temporär Armen machen sich große Sorgen um die eigene Gesundheit.
In Deutschland hat sich die soziale Spaltung infolge der jüngsten Krisen verstärkt. Die Entlastungspakete der Bundesregierung haben Haushalte mit niedrigen nur wenig entlastet, haben aber an den strukturellen Ursachen der wachsenden Ungleichheiten nichts geändert. Um diese Tendenz umzukehren, müssten vor allem die Forderungen der wichtigsten zivilgesellschaflichen Bewegung, der Gewerkschaften, nach Stärkung ihrer Vertretungsrechte endlich umgesetzt werden.
Deshalb ist es zentral, den Mindestlohn – wie in Augsburg beschlossen – deutlich auf 15 Euro zu erhöhen, sowie die Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau anzuheben, was beim Einstieg ins Bürgergeld nicht passiert ist. Die von der Bundesregierung angekündigte Kindergrundsicherung droht ein Opfer der Sparpolitik zur Einhaltung der Schuldenbremse zu werden. Um Armut trotz Arbeit zu reduzieren, braucht es zudem eine Stärkung der Tarifbindung sowie deutlich mehr »einzelfallorientierte Weiterqualifikationsmaßnahmen« und einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung, um die Erwerbschancen von Eltern zu verbessern.
Die Stoßrichtung des verabschiedeten Wahlprogramms der Linkspartei für die Europawahl deutet eine programmatische Verschärfung an, auch wenn sie in die üblichen Floskeln verpackt ist: »Wir kämpfen für eine Übergewinnsteuer auf die Krisengewinne der Konzerne, höhere Steuern für Superreiche und eine Vermögensabgabe für Milliardäre. Es gibt kein Recht auf Profit. Aber es gibt ein Recht auf Wohnen, auf Nahrung und auf Energie«, sagte Spitzenkandidat Schirdewan. Ein Antrag zur Abschaffung der Schuldenbremse im Grundgesetz wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen.
Der Europawahlkampf soll genutzt werden, »unsere Partei [zu] stärken und weiter[zu]entwickeln. Lasst uns den Blick nach vorn richten«, verspracht der Parteivorsitzende. Dazu gehört auch eine neue Mitgliederkampagne »Eine LINKE für alle«, um alle einzuladen, die Rechtsruck und Sozialabbau etwas entgegensetzen wollen. Die Frage, ob sie eine Partei sein will, die sich auch wieder verstärkt um die Probleme in Ostdeutschland kümmert, oder ob sie sich als eine reine Aktivist*innenpartei sieht, hat DIE LINKE in Augsburg nicht beantwortet.
Dass Reiche und Superreiche stärker an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt werden müssen, wurde zwar adressiert, dass dies inzwischen auch die Sozialdemokratie in einem Antrag für ihren Bundesparteitag im Dezember fordert, spielte für strategische Überlegungen eine ebenso geringe Rolle, wie entsprechenden Debatten in den noch immer links orientierten Parteien SPD und Grünen – wie schon früher üblich – kaum größere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Stattdessen trotz Erneuerungsrhetorik die schon bisher übliche undifferenzierte Ampelschelte.
Auf dem Parteitag sollte es auch um die Schärfung der Programmatik einer erneuerten Partei gehen. Die klassischen linken Themen soziale Gerechtigkeit, Umverteilung, Solidarität für alle weltweit – und vor allem: Frieden wurde betont. Gleichwohl blieb die Verständigung auf eine Zeitdiagnose der Gegenwart eher holzschnittartig: »Nicht kriegstüchtig wollen wir werden, friedenstüchtig müssen wir werden. Und das bedeutet als erstes, nicht Waffen in alle Welt zu liefern«, rief Parteichefin Janine Wissler in ihrer Rede, und »wir wollen der Erschöpfung durch all die Krisen und der wachsenden Resignation Mut und Hoffnung entgegenstellen […] Zeit für Gerechtigkeit, Zeit für Haltung – in einer Zeit, in der gerade so viele nach rechts wegkippen.«
Die Delegiert*innen des Parteitags versammelten sich hinter dieser Orientierung, sie drückten trotz aller Probleme und Rückschläge Aufbruchstimmung aus. Der ehemalige Parteichef Bernd Riexinger sprach gar von einer Befreiung: Eine Gruppe sei weg, die Gegensätze bzw. Widersprüche zwischen Klimapolitik und sozialer Gerechtigkeitspolitik oder die Interessen von Migrant*innen und Migranten zu vertreten, seien jetzt weg.
So einfach dürfte die Erneuerung auch mit neuem Logo nicht zu haben sein. Der Noch-Fraktionschef der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, wies in seiner Rede darauf hin, dass eine bloße Öffnung wahrscheinlich nicht reicht: »Wir müssen uns mit den vergangenen Landtagswahlen eingestehen, dass die Linke nicht im Aufwind ist.« Politische Thermik werde auch nicht alleine damit erzeugt, dass man über Person A rede und Person B öffentlich kritisiere. »Aufwind wird erzeugt durch Passgenauigkeit zwischen dem programmatischen Angebot und den Erwartungen der ganz normalen Menschen in diesem Land.« Diese politische und strategische Herausforderung muss das Personal einer erneuerten LINKEN erst noch einlösen.