10. Januar 2021 Joachim Bischoff/Björn Radke: Stunde der LINKEN?
Politisches Umsteuern in Corona-Zeiten
Die Chefökonomin der OECD, Laurence Boone, plädiert für eine Fortsetzung der bisherigen Strategie in den entwickelten kapitalistischen Ländern im Kampf gegen die Corona-Pandemie: »Wir müssen sowohl mit den nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (Lockdown und social distancing) als auch dem Einsatz der Impfstoffe durch die Regierungen so lange, effizient und so schnell wie möglich weitermachen.«
Diese Empfehlung einer längerfristigen politischen Strategie basiert auf der Einschätzung der OECD, dass das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis Ende dieses Jahres zwar wieder das Niveau vor der Pandemie erreichen kann, doch diese Erholung wird nicht in allen Ländern gleich ausfallen. Beispielsweise könne für China mit einem ein Wachstum von 8% im Jahr 2021 gerechnet werden, während andere OECD-Mitgliedsländer bestenfalls ein durchschnittliches Wachstum von etwas mehr als 3% erreichen dürften.
Frau Boone betonte zudem, dass die Regierungen weiterhin die kreditfinanzierten Ausgaben beibehalten müssen, um ihre Volkswirtschaften angesichts dieser beispiellosen Krise zu stützen. »Diese Maßnahmen, die wir nachdrücklich befürwortet haben, sind sinnvoll, da diese Krise nur vorübergehend ist. Wir sprechen also von vorübergehenden Maßnahmen und einem vorübergehenden Anstieg der Schuldenquote.« Die Zinssätze werden weiterhin so niedrig bleiben, dass die kapitalistischen Hauptländer eine andere Konzeption der Finanzpolitik als zuvor unterlegen können. »Wir müssen über einen längeren Zeitraum hinweg nachhaltige Maßnahmen verfolgen und ausgeglichene Haushalte auf später vertagen.«
Regierungen und Zentralbanken sind in den Industrieländern so aufgestellt, mit beispiellosen Stützungsmaßnahmen ihre Volkswirtschaften vor den massiven Auswirkungen der Pandemie zu schützen. Und auch nach der Krise werden die Leute fragen, warum nicht entsprechende Kredite eingesetzt werden könnten, um den gegen den Klimawandel anzugehen.
Diese Überlegungen vertreten auch Robert Habeck, Ko-Vorsitzender der Grünen, und Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), in einem Meinungsbeitrag in der FAZ.[1] Die vordergründig überraschende Kombination der Autoren hat, wie sie selbst andeuten, etwas mit dem Wahljahr 2021 zu tun. Die anstehenden großen Aufgaben erfordern »eine Debatte … in Deutschland, die wir lange nicht mehr geführt haben: Es geht um das richtige Verhältnis von Sparsamkeit und Investitionen, von Steuern und Gerechtigkeit.«
Die Autoren argumentieren für ein Strategiebündel mit drei Aspekten: Es gelte »erstens die Corona-Krise zu bewältigen, die uns sozial und ökonomisch schwer getroffen hat. Zweitens sind die Weichen auf Klimaneutralität zu stellen, damit die Wirtschaft stark bleibt und gute Arbeitsplätze bietet. Dafür sind große Investitionen erforderlich – in die Produktion erneuerbarer Energien, den Verkehr, den Umbau der Industrie und der Landwirtschaft, in Forschung und Innovation, in die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Drittens hat die Corona-Krise die soziale Ungleichheit im Land noch mal verschärft. War das schon vor der Pandemie ein großes gesellschaftliches Problem, bedarf es nun erst recht einer Antwort.«
Die Umsetzung einer solchen Strategie, die im Zentrum der programmatischen Debatten im Wahljahr stehen sollte, bedeutet einen massiven Einsatz von öffentlichen Investitionen und damit eine weitere Expansion der öffentlichen Kredite. Die Koalitionsparteien der Bundesregierung pochen dagegen »auf eine zügige Tilgung der Schulden und eine rasche Rückkehr zur rigiden Schuldenbremse von 2022 an. Beides ist aber ökonomisch und politisch falsch.«
Diese deutliche Positionsbestimmung von führenden Repräsentanten der Gewerkschaften und der grünen Partei ist eine politische Weichenstellung, wenn sie in den nachfolgenden Debatten Bestand hat und in neue politische Kräfteverhältnisse übersetzt werden kann. Denn schon vor der Corona-Krise wurde in Deutschland vor allem von öffentlicher Seite zu wenig investiert. Der Investitionsrückstand in den Kommunen – nicht sanierte Brücken, Schulen, marode Freibäder – beläuft sich nach einer Befragung der KfW auf 147 Mrd. Euro.
Der weithin akzeptierte ökologische Umbau der Wirtschaft, verstärkt durch das Projekt des europäischen Green New Deal, ist ohne Investitionsoffensive und damit höhere Verschuldung nicht zu haben. Ökologischer Umbau bedeutet auch eine neue Qualität des Wirtschaftswachstums. Bei extrem niedrigen Zinsen sinkt durch die Expansion des Wirtschaftsprodukts die Schuldenquote und ein kleinerer Teil dieser Kredite sollte nach Verlängerung der Laufzeiten getilgt werden.
Habeck und Hoffmann sprechen sich unzweideutig für eine Änderung der deutschen Schuldenbremse und des europäischen Schuldenreglements aus. Diese Regeln sind ohne ökonomischen Sinn zu eng geschnürt, bieten die Grundlage für eine Konsolidierungs- und Austeritätspolitik und müssen daher verändert werden.
Bei dieser Agenda der nächsten Jahre muss es auch um die Bewältigung der dritten große Aufgabe gehen: der Ungerechtigkeit in Deutschland. Hier denken die Autoren an ein gerechteres Steuersystem. »Sobald die wirtschaftliche Erholung wieder stabil ist, sollten sehr hohe Einkommen mehr Einkommensteuer zahlen und große Vermögen überhaupt wieder besteuert werden. Im Gegenzug können Gering- und Normalverdienende entlastet werden. Wenn der Niedriglohnsektor zurückgedrängt wird, der Mindestlohn steigt und für viel mehr Menschen ein Tarifvertrag gilt, dann wachsen der soziale Zusammenhalt und das Vertrauen in das Gemeinwesen.«
Mit der Transformation der Wirtschaft verbindet sich auch ein Kampf um die Rolle Europas in einer veränderten Weltordnung. Europa droht technologisch, industriell und damit politisch abhängig zu werden. Wenn es ein starker Akteur sein will, braucht es eine nachhaltige, gemeinsame Finanzpolitik.
Diese Kriseneinschätzung von Habeck und Hoffmann und die daraus abgeleitete politische Agenda sind für das politische Wahljahr ein starker Aufschlag. In sechs Landtagswahlen und der Neuwahl zum Bundestag werden die gesellschaftlich-politischen Kräfteverhältnisse in der Berliner Republik verändert und ein neues Gesicht erhalten.
»Das Jahr 2021 wird ein schwarz-grünes Jahr: Nach der Bundestagswahl im Herbst wird es, mit einiger Wahrscheinlichkeit, zu einer schwarz-grünen Koalition kommen« – so die Prognose von Heribert Prantl.[2] Seine Begründung: Die alten Klassen- und Kirchenmilieus seien erodiert, die gesellschaftliche Mitte sei breiter, gebildeter und transnationaler als der alte Mittelstand, auf den sich die FDP stützte und stützt. Die Zeiten der Volksparteien alten Typs seien vorbei. Die lange diagnostizierte großen Transformation der bürgerlichen Gesellschaft werde im Wahljahr auch in der Berliner Republik durchschlagen.
Als politischer Auftakt für die Endphase des System Merkel will die Union ihr bisheriges organisatorisches Vakuum im Januar auf einem digitalen Parteitag schließen. Friedrich Merz rechnet sich gute Chancen aus, die glücklose Annegret Kramp-Karrenbauer abzulösen. Wenn es so kommt, übernimmt ein ausgewiesener Finanzmanager mit unübersehbaren Präferenzen für eine neoliberale Programmatik die Spitze der CDU, der mehrfach gegen das »Establishment« der Partei gewettert hat, weil dieses seine Wahl zum Vorsitzenden angeblich zu verhindern suchte.
Mit dem Abtritt von Angela Merkel steht die CDU vor einer Richtungsauseinandersetzung, für die Merz sich gut aufgestellt sieht: »Eine neue Zeit braucht eben neu definierte Verantwortung. Wir haben erfolgreiche Jahre hinter uns. Aber jetzt gehen wir in ein neues Jahrzehnt, das für uns alle große Herausforderungen mit sich bringt, und darauf müssen wir uns vorbereiten und auch als Partei neu ausrichten. Ein ›weiter so‹ ist aus meiner Sicht keine Option. In der Wirtschafts- und in der Energiepolitik zum Beispiel sind sehr viele Fragen offen. Wir haben auch auf den demografischen Wandel bis jetzt keine langfristig tragfähigen Antworten. Mit der SPD war es leider nicht möglich, eine Reform der Alterssicherungssysteme über 2025 hinaus zu entwickeln. Wir liegen in Europa auf den hinteren Rängen, was die Kapitaldeckung unserer Altersversorgungssysteme betrifft. Auch auf die öffentlichen Haushalte kommen große Lasten zu. Darauf muss die CDU neue Antworten geben.«[3]
Erhalten diese Vorstellungen einer Neuausrichtung der CDU eine Mehrheit, wird angefangen von dem Flüchtlings- und Migrationsproblem, über die Kapitaldeckung in den sozialen Sicherungssystemen bis hin zu dem Thema von ausgeglichenen öffentlichen Haushalten größeres Konfliktpotenzial sichtbar, das eine schwarz-grüne Zukunft eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Könnte in einer solchen Situation die Stunde der Linkspartei schlagen? Gegenwärtig rückt die Partei die sozialen Probleme der Pandemie in den Mittelpunkt, womit sie in aktuellen Umfragen etwa 8% erreicht, was mit Sicherheit unter ihren Ansprüchen liegen. Warum kann sie sich nicht mehr Gehör verschaffen? Warum schlagen sich solche Positionen nicht in messbarer politischer Zustimmung nieder? Und gibt es bei möglichen politischen Partnern ähnliche Forderungen? Mit diesen Fragen konfrontierte Wolfgang Hübner den Bundesgeschäftsführer der Partei DIE LINKE Jörg Schindler in einem Interview im neuen deutschland.[4]
Jörg Schindler erklärt die politische Situation zu Beginn des Wahljahres wie folgt: »Wir erleben den Moment, wo Merkel geht. Da wird noch mal vieles sichtbar, was sie politisch verbockt hat: kaputtgesparte Gesundheitsämter, baufällige Schulen, fehlende Infrastruktur. Dazu die Schuldenbremse, der Abbau sozialer Leistungen, Ignoranz gegenüber dem Klimaschutz. Oder diese dreckigen Deals mit Waffenexporten und zur Flüchtlingsabwehr. Merkels Modell liegt in der Krise als Scherbenhaufen vor uns. Da setzen wir an. Wir kämpfen für einen Politikwechsel und sind bereit, mit Partnern zusammenzuarbeiten. Das sind Umweltverbände, Gewerkschaften und andere. Und klar, auch Grüne und SPD.«
Die These vom Modell Merkel als Scherbenhaufen ist zumindest in einem Großteil des Alltagsbewusstseins der Wahlbevölkerung nicht ansatzweise vorhanden. Das Ziel der LINKEN, im Jahr 2021 das politische Projekt mit Rot, Rot und Grün anzuschieben, ist in der Corona-Pandemie untergegangen. Auch wenn Schindler recht damit hat, dass solche »Mehrheiten … in der Gesellschaft wachsen« müssen und die LINKE »immer wieder versucht, gemeinsame Sachen anzustoßen«, muss als politische Schlussfolgerung festgehalten werden: Die Konzeption eines von Rot-Rot-Grün getragenen Politikwechsels hat aktuell wenig Resonanz.
2021, das Jahr der Bundestagswahl, muss ein Jahr des »Umsteuerns« werden, wie die wirtschaftspolitischen Leitlinien zum Jahresauftakt 2021 überschrieben sind. Einmal mehr wird unterstrichen: DIE LINKE ist »überzeugt, dass es möglich und notwendig ist, mit einem konsequenten Politikwechsel zu beginnen – nicht irgendwann, sondern jetzt: für einen sozialen Schutzschirm, Einstiege in einen sozialen und ökologischen Umbau der Wirtschaft, für eine gerechte Beteiligung der Milliardäre an den Krisenkosten. Dafür braucht es mehr als parlamentarische Mehrheiten. Wir setzen uns für ein breites gesellschaftliches Bündnis und einen grundlegenden sozial-ökologischen Richtungswechsel ein. Das sind für uns die Maßstäbe, in eine Regierung einzutreten oder sie zu unterstützen. Wir kämpfen dafür, einen sozial-ökologischen und friedenspolitischen Politikwechsel einzuleiten, statt die CDU weiter an der Regierungsmacht zu belassen. DIE LINKE ist zu einem solchen Politikwechsel bereit.«[5]
Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme gehört allerdings auch, dass die selbsterklärte Bereitschaft nicht reicht. Die potenziellen Partner sind in anderen Konstellationen verwickelt. Hinzu kommt: »Noch sind wir nicht am Ende der Pandemie, sondern mittendrin. Wir haben eine Chance. Die Situation ist offen. Machen wir gemeinsam einen mutigen sozialen und ökologischen Kurswechsel möglich. Der Kampf um neue soziale Mehrheiten in der Gesellschaft beginnt jetzt. 2021 kann das Jahr werden, in dem die Menschen ihre Zukunft erobern.«
Dafür sollten die oben notierten Anstöße und Präzisierungen von den Partnern, mit den man zusammenarbeiten will (»… Gewerkschaften und andere. Und klar, auch Grüne und SPD«), aufgegriffen und in der zugegeben in Pandemie-Zeiten schwierig zu führenden innerparteilichen Debatte berücksichtigt werden.
Anmerkungen
[1] Reiner Hoffmann und Robert Habeck: Die Linke droht sich im Widerspruch zu verheddern, in: FAZ vom 5.1.2021.
[2] Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Januar 2021.
[3] Friedrich Merz: »Um ein schlechter Verlierer zu sein, müsste ja erst einmal eine Wahl stattgefunden haben«, Interview in der NZZ vom 29.10.2020.
[4] nd vom 6.1.2021; die folgenden Zitat sind aus diesem Interview.
[5] Umsteuern jetzt. Für einen sozial-ökologischen Weg aus der Krise – Wirtschaftspolitische Leitlinien zum Jahresauftakt 2021 von Katja Kipping, Bernd Riexinger, Harald Wolf und Jörg Schindler.