2. Februar 2022 Hinrich Kuhls: Die britische Tory-Regierung im Skandalchaos

Polizeiermittlungen im Amtssitz des Premierministers

Kratzbürstig wie immer reagierte der britische Premierminister Johnson auf die zahlreichen Rufe aus Politik und Öffentlichkeit nach seinem Rücktritt. Noch toleriert die Tory-Fraktion den ein weiteres Mal als Lügner enttarnten Regierungschef. Je größer sein Vertrauensverlust daheim, desto unberechenbarer seine außenpolitischen Avancen zur Errichtung des »Global Britain«.[1]

Mit der zügigen Veröffentlichung eines internen Untersuchungsberichts über ein oder zwei Partys an seinem Amtssitz hatte die öffentliche Diskussion über diese marginale Angelegenheit schnell abgeschlossen werden sollen. So sah es Johnsons Drehbuch vor, nachdem die entsprechenden Pressemeldungen nicht mehr als Gerüchte abgetan werden konnten. Das ging so gründlich schief, dass jetzt Premierminister und etliche seiner Bediensteten von strafrechtlichen Ermittlungen tangiert sind.


Polizeiermittlungen statt unabhängiger Untersuchungen

Mit der internen Untersuchung hatte Johnson Anfang Dezember zunächst den höchsten Beamten im Regierungsapparat beauftragt, den Staatssekretär im Cabinet Office, das für die Koordinierung der Ministerien und die Einhaltung des ministeriellen Verhaltenskodex zuständig ist. Staatssekretär Case musste nach einer Woche den Untersuchungsauftrag zurückgeben, weil er selbst an einer Party in seinen Diensträumen teilgenommen hatte. Dadurch wurde die ihm nebengeordnete Zweite Staatssekretärin, Sue Gray, die Untersuchungsleiterin.

Der für Anfang Januar geplante Abgabetermin verzögerte sich Woche um Woche, weil Grays Team über zahlreiche weitere rechtswidrige gesellige Zusammenkünfte am Amtssitz des Regierungschefs während der Zeit strikter Kontaktbeschränkungen zwischen Mai 2020 und 2021 Kenntnis erhielt. Insgesamt 16 Vorfällen ist Gray nachgegangen, davon hat sie zwölf für so gravierend eingestuft, dass sie frühzeitig die Londoner Polizeibehörde darüber informiert hatte.

Die Metropolitan Police, die zunächst eine Untersuchung strikt abgelehnt hatte, untersagte daraufhin Gray die »Publizierung« des Berichts, was aber nur bedeutet hätte, dass sie wegen des Unterstellungsverhältnisses den Abschlussbericht nicht unabhängig der Öffentlichkeit übergeben, sondern dem Premierminister ausgehändigt hätte. Etliche Rechtsexperten kritisierten die Polizeizensur als nicht verhältnismäßig und schädlich für die rechtliche und politische Aufarbeitung der Fälle.

Johnson hatte zuvor immer betont, er werde den Bericht vollständig publizieren. Erst als die Beweise auch für sein persönliches Fehlverhalten erdrückend wurden, kam die Londoner Polizeibehörde ins Spiel, die in ihren Ermittlungen genauso wenig unabhängig ist, wie die Staatssekretärin Gray. Denn oberste Dienstherrin der Metropolitan Police ist Innenministerin Priti Patel, die schon bei der Verfolgung des Mords an einer jungen Frau Anfang 2021 durch einen Londoner Polizeibeamten Einfluss auf die Ermittlungen genommen hatte.

Aus Regierungskreisen wird zwar eine Beeinflussung auf die Untersuchungen abgestritten. Aber dass die Übergabe des belastenden Materials an die Polizei allein dem Zweck dient, Zeit zu kaufen, um die Verfehlungen weiter kleinreden zu können und mit anderen Ereignissen überspielen zu können – ganz wie die gravierenden negativen Brexit-Folgen durch die Pandemie verdeckt werden – ist in Politik, bei den Medien und in der Wählerschaft so offensichtlich, dass es das Negativbild Johnsons und der Regierung verstärkt.


Führungsversagen, Regelbrüche, exzessiver Alkoholgenuss

Insgesamt 500 Seiten des Berichts und 300 Partyfotos hat Gray den Ermittlungsbeamten von Scotland Yard übergeben. Ihr »Update« über die Untersuchung ist sechs Textseiten dünn; auf fünf Seiten wird der Ablauf der Untersuchung referiert und auf einer Seite werden »allgemeine Erkenntnisse« zusammengefasst:

»Vor dem Hintergrund der Pandemie, als die Regierung von den Bürgern weitreichende Einschränkungen ihres Lebens verlangte, sind einige der Verhaltensweisen im Zusammenhang mit diesen Zusammenkünften nur schwer zu rechtfertigen.

Zumindest einige der Zusammenkünfte stellen ein schwerwiegendes Versäumnis dar, nicht nur die hohen Standards zu beachten, die von den Mitarbeitern der Regierung erwartet werden, sondern auch die Standards, die von der gesamten britischen Bevölkerung zu dieser Zeit erwartet werden.

Es scheint so, dass kaum bedacht worden war, wie die Situation draußen im ganzen Land war, als es darum ging, die Angemessenheit dieser Zusammenkünfte, deren Risiken für die öffentliche Gesundheit und den Eindruck, den sie in der Öffentlichkeit erwecken könnten, zu prüfen. Verschiedene Stellen in Downing Street Nr. 10 und im Kabinettsbüro haben es zu Versäumnissen in Bezug auf Führung und Urteilsvermögen kommen lassen. Einige der Veranstaltungen hätten nicht stattfinden dürfen. Andere Ereignisse hätten sich nicht so entwickeln dürfen, wie sie es taten.

Der übermäßige (sic!) Konsum von Alkohol am Arbeitsplatz ist zu keiner Zeit angebracht. Es müssen Schritte unternommen werden, um sicherzustellen, dass jede Regierungsstelle über eine klare und solide Politik bezüglich des Alkoholkonsums am Arbeitsplatz verfügt.«

Noch ist unklar, ob Johnson als Beschuldigter oder als Zeuge von der Polizei geladen wird. Doch ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert: Johnson nimmt das öffentlich bloß gestellte Führungsversagen nicht zum Anlass, dem britischen Staatsoberhaupt sein Rücktrittsschreiben zu überbringen, sondern verschanzt sich jetzt hinter den noch nicht abgeschlossenen strafrechtlichen Ermittlungen seitens der Polizei, deren Ergebnisse abzuwarten seien.


Substanzlose Regierungserklärung eines Lügenbarons

In seiner Regierungserklärung zum nicht veröffentlichten Abschlussbericht und der Übergabe der Ermittlungen an die Polizei sprach Johnson erneut einige »Entschuldigungen« aus und kündigte nicht weiter spezifizierte organisatorische Änderungen in der Behörde des Regierungschefs an. Aber den unverkennbaren Tenor des Zwischenberichts, das Führungsversagen und die schweren Regelbrüche seien ihm zuzurechnen, er hätte es versäumt, dass die Standards eingehalten werden, die zur Zeit der Corona-Lockdowns nicht nur von der Regierung, sondern von der gesamten Bevölkerung verlangt worden seien, wies er ein weiteres Mal von sich.

Die Opposition forderte mit Nachdruck seinen Rücktritt. Ian Blackford, der Fraktionsvorsitzende schottischen SNP, der zweitgrößten Oppositionspartei, wurde von der Debatte ausgeschlossen, nachdem er auf seiner Beschuldigung beharrte, der Premierminister sei ein Lügner, der dem Parlament mehrere Male die Unwahrheit aufgetischt habe. Auch aus der eigenen Partei wurde er angegriffen.

Seine Vorgängerin im Amt, Theresa May, zeigte den ganzen unterdrückten Zorn einer Frau, die von ihm wiederholt betrogen worden war, als sie Johnson zur Rede stellte: »Entweder habe er die Corona-Regeln nicht gelesen oder nicht verstanden, oder er dachte, dass die Regeln nicht für seinen Amtssitz gelten. Was davon trifft zu?« Es war ein verblüffender Angriff auf den Vorsitzenden der Konservativen. Nur wenige Augenblicke später stand Andrew Mitchell auf, ehemals einer der Fraktionsgeschäftsführer, der zudem Johnsons Wahlkampf für den Parteivorsitz organisiert hatte, und erklärte, dass Johnson nicht länger seine Unterstützung habe.

Das Schweigen auf den Tory-Bänken, als Oppositionsführer Keir Starmer den Premierminister als »einen Mann ohne Scham« bezeichnete, sprach Bände. Mit brutaler Präzision wurde Johnson mit Angriffen aus den eigenen Reihen bombardiert. Ein konservativer Abgeordneter, Aaron Bell, beschrieb, wie er an der Beerdigung seiner Großmutter teilnahm, zu der nur zehn Personen zugelassen waren. »Ich konnte meine Geschwister nicht umarmen, ich habe meine Eltern nicht umarmt, ich habe eine Trauerrede gehalten. Danach bin ich nicht einmal auf eine Tasse Tee zu ihr nach Hause gegangen [...] Hält mich der Premierminister für einen Idioten?«

Andere Abgeordnete waren wütend darüber, dass ihr Regierungschef sich zunächst weigerte zu garantieren, dass der endgültige Gray-Bericht, der bis zum Abschluss der polizeilichen Ermittlungen zurückgehalten wird, in vollem Umfang veröffentlicht wird – eine Position, die Johnson innerhalb weniger Stunden durch seinen Pressesprecher revidieren lassen musste.

Zum Ärger auch etlicher seiner Fraktionskolleg*innen beantwortete Johnson nicht die Frage, ob er kurz vor Weihnachten 2020, als die Vorschriften zum Kontakt das Treffen von Personen aus mehr als einem Haushalt untersagten, an einer Party in seiner über den Diensträumen in Downing Street gelegenen Wohnung teilgenommen hatte, was nun Gegenstand der polizeilichen Ermittlungen ist. Noch vor einigen Wochen hatte Johnson im Unterhaus bestritten, dass die Party in der Wohnung stattgefunden hat.

Doch am Ende der Debatte stand die Mehrheit der Fraktion weiter hinter Johnson. Für sie zählt der Machterhalt mehr als die von ihnen mitbetriebene Demontage der Verfassungsinstitutionen des britischen Staats. Dominic Grieve, von 2010 bis 2014 Generalanwalt und Rechtsberater im Kabinett Cameron und bis zu seinem von Johnson veranlassten Ausschluss aus Fraktion und Partei Vorsitzender des Geheimdienstausschusses, kritisiert diese Kurzsichtigkeit der Fraktion:

»Hätte Johnsons Auftritt vor Gericht stattgefunden, wo ich früher oft mit Klienten zu tun hatte, die sich oberflächlich amüsiert gaben, obwohl sie in Schwierigkeiten steckten, würde ich nicht mit einem erfolgreichen Ausgang rechnen. Aber das Parlament ist nicht dasselbe, und die politische Realität sieht so aus, dass seine Zukunft in nächster Zeit in den Händen der konservativen Abgeordneten liegt, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, wie gelähmt vor ihrer Verantwortung stehen. Sie sollten jedoch erkennen, dass die Position des Premierministers in Bezug auf die Regierungsethik und die Einhaltung des Ministerkodexes unhaltbar ist.

Wenn er jetzt nicht zum Rücktritt gezwungen wird, wird das Thema immer wieder auftauchen, sobald sich ein vollständigeres Bild ergibt. Selbst wenn die Abgeordneten keine Ahnung von Regierungsethik haben, könnte ein niederer Instinkt zur Selbsterhaltung sie dazu bringen, sich zu fragen, warum die Wähler diese miserable Leistung und die skandalösen Fakten im Hintergrund vergessen sollten. Viele loyale Konservative werden niemals wieder für die Partei stimmen, solange Boris Johnson noch im Amt ist.«

Johnsons Steigbügelhalter im Parlament möchten das Pferd aber noch nicht ausspannen und abhalftern, das sie mit seinen rechtspopulistischen, nationalistischen und ausländerfeindlichen Parolen ins Parlament gezogen hat. Der rechtslastigen Konservativen Partei bleibt nur die Wahl, mit Johnson das Land in der Traufe zu ersaufen oder mit einer anderen, durch die diversen Regierungsskandale ebenfalls belasteten Figur in den Regen zu treten.

Jacob Rees-Moog, der zuständige Minister für die Koordination von Parlament und Regierung, und bekannt geworden durch seine lässige Körperhaltung auf den Parlamentsbänken während der Brexit-Debatten, skizziert im Gespräch mit der Londoner Times einen Ausweg. Die letzten beiden Jahre hätten gezeigt, dass mit dem »präsidialen Regierungsstil« viele Erfolge erreicht worden seien. Darauf sei aufzubauen. So wird dann der jetzige Premier nur im Amt bleiben können, wie er hineingelangt ist und den EU-Austritt durchgepeitscht hat: mit einer Überdehnung der Verfassung.

Anmerkung

[1] Für eine ausführliche Hintergrundanalyse des Zustands der britischen Konservativen sei auf den Beitrag des Autors im aktuellen Februar-Heft von Sozialismus.de verwiesen: »Ein Partei ohne Scham und Mitgefühl. Die britischen Konservativen im Chaos.« Darin wird auch die ökonomische Lage nach Brexit und während der Pandemie untersucht und diskutiert, was und wer bei einem Austausch von Boris Johnson nachfolgen könnte.

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