7. Juni 2019 Hinrich Kuhls: Die gesellschaftlichen Probleme in Britannien bleiben

Premierministerin Mays erzwungener Rücktritt

Die Absolvierung des Staatsbesuchs des US-Präsidenten Donald Trump im Vereinigten Königreich (UK) war eine der letzten außenpolitischen Pflichtaufgaben, die die britische Premierministerin Theresa May als Vorsitzende der Tories, der Konservativen und Unionistischen Partei, wahrgenommen hat.

Trump demütigte May erneut. Schon nach seiner Wahl im November 2016 hatte er ihr vorgeschlagen, den Rechtspopulisten Nigel Farage als Botschafter in Washington zu installieren. Vor einem Jahr beim Arbeitsbesuch im UK gab er Ratschläge für einen ungeordneten Brexit und erklärte, ihr innerparteilicher Opponent Boris Johnson, der damals wegen der Brexit-Ausrichtung gerade als Außenminister zurückgetreten war, sei ein besserer Premier als sie.

Jetzt lobte er schon im Vorfeld des Besuchs Farage als Wahlkampfsieger bei der Europawahl, konferierte mit ihm in London länger als mit der Premierministerin und wiederholte die Empfehlung für Johnson als ihren Nachfolger.

Bei der Sitzung des Europäischen Rats (20./21. Juni) und beim G20-Treffen in Osaka Ende Juni wird May zwar noch anwesend sein, doch in London werden dann zeitgleich die letzten Weichen für ihre Nachfolge gestellt. Wer Ende August in Biarritz das Vereinigte Königreich beim G7-Gipfel vertreten und die Vision des »Globalen Britanniens« vorstellen wird, ist unklar.


Vierter Versuch gescheitert

Das Wahlgremium der Konservativen Partei hatte die Notbremse gezogen, als Mays vierter Versuch, die Ratifizierung des Brexit-Vertrags im britischen Unterhaus zu bewerkstelligen, schon am Widerstand ihres Kabinetts gescheitert war. Daraufhin haben die Tories ihre Parteivorsitzende und Premierministerin gezwungen, das Parteiamt am 7. Juni niederzulegen. Bis zur Neubesetzung des Parteivorsitzes im Juli amtiert sie als geschäftsführende Premierministerin.

In ihrem Rücktritts-Statement hatte May nebst viel surrealem Selbstlob darauf abgestellt, dass es ihr nicht gelungen sei, den Brexit zu liefern. Sie sei an ihrer Herzensangelegenheit gescheitert. Die Medien griffen diese Version gern auf, je nach politischer Orientierung mit heftiger Kritik oder mit Krokodilstränen versehen. Doch es ist nicht die Unfähigkeit zum Kompromiss seitens einer ins Amt der Regierungschefin gerutschten Politikerin, die das politische System des Vereinigten Königreichs paralysiert hat.

Im Rücktritt der Premierministerin zeigen sich drei Entwicklungen, die ihren Kulminationspunkt noch nicht erreicht haben: Die Zerstörung der Konservativen Partei, die Zerstörung der britischen Gesellschaft durch eine zehn Jahre währende harte konservative Austeritätspolitik und das Scheitern der Verhandlungsstrategien zur Neupositionierung des ersten EU-Mitgliedsstaats, das für den Austritt votiert hat.


Zerstörung der Konservativen Partei

Die finanzielle Grundlage der Konservativen Partei sind Großspenden. In den letzten Monaten haben sich mehrere Sponsoren zurückgezogen oder angekündigt, dass sie die Partei nicht mehr unterstützen werden, wenn May Parteivorsitzende bliebe. Das Desaster der Tories bei der Europawahl ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Kohäsionskraft der Partei für eine Positionierung in der Brexit-Frage nicht mehr ausreichte, sondern dass sie schlicht und einfach keine ausreichenden Finanzmittel für eine Wahlkampagne hatte. Die Reißleine musste gezogen werden.

Politisch war entscheidend: Die Mehrheit der Parteimitglieder hat bei der EP-Wahl die rechtspopulistische Brexit-Partei gewählt. Selbst die Mehrheit der Tory-Abgeordneten habe nicht die eigene Partei bei der Europawahl gewählt – so die Einschätzung des rechtsliberal-konservativen Alterspräsidenten des Unterhauses Kenneth Clarke, der sich in seiner politischen Laufbahn selbst mehrmals erfolglos um den Parteivorsitz beworben hatte.

»Der rechte Flügel meiner Partei«, die European Research Group um Rees-Mogg, Raab, Baker und Johnson, »hat ihr Ziel erreicht. Mit aller Macht haben sie in den letzten Monaten versucht, sie loszuwerden. Sie scheinen davon auszugehen, dass sich die Partei hinter demjenigen aus ihren Reihen vereint, der Nigel Farage am ähnlichsten ist.« (BBC Radio 4 am 24.5.2019)

In der Tat hat sich die Mitgliedschaft der Konservativen seit dem EU-Referendum 2016 verändert. Durch Übertritte etlicher UKIP-Mitglieder hatte sich die Mitgliedschaft vom Tiefpunkt mit rund 75.000 auf jetzt etwa 125.000 Mitglieder erholt. Zugleich haben sich die Mitglieder über die Ablehnung der von May verfolgten Brexit-Politik radikalisiert. Anzeichen dafür sind Voten lokaler Parteiverbände, proeuropäische Abgeordnete bei der nächsten Parlamentswahl nicht wieder zu nominieren.

Auch wenn die Brexit-Partei mit ihrem Vorsitzenden Farage wenige Monate nach ihrer Gründung bei der – wegen des Verhältniswahlrechts zum Ersatz-Referendum erklärten – EP-Wahl einen fulminanten Wahlsieg zulasten der Tories erzielte, bleibt – nicht nur wegen des Mehrheitswahlrechts – die entscheidende Frage, welche Partei in England die breite rechtspopulistische Bewegung parlamentarisch repräsentieren wird.

Bei ihrer Wahl zur Chairwoman (Generalsekretärin) der Konservativen Partei (2002 bis 2003) hatte May Furore gemacht, weil sie den Tories vorhielt, ihre Partei werde als die »nasty party«, als die hässliche und bösartige Partei des Establishments wahrgenommen. Als Parteivorsitzende stand bei ihr – vor allem seit der von ihr in den Sand gesetzten vorgezogenen Neuwahl im Juni 2017 – der Zusammenhalt der Fraktion samt ihres rechtspopulistisch-nationalistischen Flügels im Vordergrund. Der Erfolg oder Misserfolg des Umbaus der Tory-Partei zu einer gegen das Establishment gerichteten Partei liegt außerhalb der Erbschaft Mays.


Anhaltende Austeritätspolitik

Nach ihrem Regierungsantritt im Juli 2016 hatte May versucht, in der Austeritätspolitik einen Kurswechsel einzuleiten. Aber gegenüber den Verfechtern einer Fortsetzung der harten Austerität um Schatzkanzler Hammond hatte sie eine Aktivierung der Industriepolitik und Ansätze zur Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur nicht durchsetzen können. Die Zerstörung der öffentlichen Einrichtungen wurde nicht aufgehalten.

Nach dem Verlust der Parlamentsmehrheit im Juni 2017 setzte der rechtspopulistische Tory-Flügel durch, dass das Beraterteam um Nick Timothy, das für May die Position des »mitfühlenden Kapitalismus« ausgearbeitet hatte, Downing Street No. 10 verlassen musste. Alle Ankündigungen während ihrer Regierungszeit, eine Revision der Austeritätspolitik einzuleiten, blieben Lippenbekenntnisse.

Weder ein umfassender Stopp noch ein Ausgleich der Haushaltskürzungen wurde in Gang gesetzt. Die Einschränkungen bei Sozialstaatseinrichtungen und Infrastruktur kumulieren sich in der Dekade konservativer Austerität auf rund eine halbe Billion Pfund. Die Kommunalzuweisungen sind heute um 40% niedriger als 2010.

May fasste in ihrem Rücktritts-Statement[1] vom 24.5. die neoliberale Daueraufgabe so zusammen: »Wir haben die Arbeit abgeschlossen, die David Cameron und George Osborne begonnen haben: Das Defizit ist fast ausgeglichen, unsere Staatsverschuldung sinkt, und wir beenden die Sparpolitik.« Einen Tag zuvor waren die Ergebnisse dieser Politik durch zwei Untersuchungsergebnisse illustriert worden.

Im Zwischenbericht der von der Pflege-Regulierungsbehörde eingesetzten Kommission zur Untersuchung der Qualität von Pflegeeinrichtungen (Care Quality Commission) wird konstatiert, dass sich in diesem Bereich im letzten Jahrzehnt nichts geändert hat. 2011 war die Regierung damit konfrontiert, dass wegen Misshandlungen von Patienten Einrichtungen geschlossen werden mussten. Acht Jahre später hat sich landesweit an der Segregation von Menschen mit einem psychischen Gesundheitsproblem, einer Lernbehinderung oder einem Autismussyndrom grundsätzlich nichts geändert.[2]

In seinem Bericht über die Armuts- und Menschrechtssituation im UK[3] vergleicht der UNHCR-Berichterstatter Philip Alston die konservative Sozialpolitik mit der Schaffung von Arbeitshäusern im 19. Jahrhundert und warnt davor, dass die ärmsten Menschen im UK mit einem Leben konfrontiert werden, das »einsam, arm, böse, brutal und kurz« ist, wenn die Austeritätspolitik nicht beendet wird. Zugleich kritisiert er, dass die britische Regierung die negativen Auswirkungen trotz eindeutiger empirischer Belege anhaltend verleugnet und die Kritiker zu delegitimieren versucht.

»Obwohl das UK die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, lebt ein Fünftel der Bevölkerung (14 Mio.) unter der Armutsgrenze und 1,5 Mio. von ihnen verfügten 2017 nicht über den Notbedarf. Die im Jahr 2010 eingeführte Sparpolitik ist trotz der tragischen sozialen Folgen weitgehend unvermindert geblieben. 2021 werden fast 40% der Kinder in Armut leben. Armenküchen haben sich stark vermehrt; Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind stark angestiegen; Zehntausende armer Familien müssen in Unterkünften weit weg von Schulen, Arbeitsplätzen und kommunalen Einrichtungen leben; die Lebenserwartung sinkt für bestimmte Gruppen; und das Rechtshilfesystem wurde dezimiert.«


Das Scheitern der Brexit-Verhandlungen

Von Margaret Thatcher ist aus EU-Haushaltsverhandlungen das Diktum »I want my money back« in Erinnerung geblieben. Die Formeln »Brexit means Brexit« und »No deal is better than a bad deal« umreißen Mays Verhandlungsstrategie bei den Brexit-Verhandlungen ihr Scheitern bei der Ratifizierung des Verhandlungsergebnisses.

Als Innenministerin verfolgte May einen harten Kurs in der Asyl- und Migrationspolitik. Im Sommer 2013 schickte sie über vier Wochen hinweg durch sechs Londoner Stadtbezirke Werbetransporter, auf deren Plakaten »Illegale« zur Auswanderung aufgefordert wurden. Die Lieferwagen stießen auf breite Kritik; sie hätte die Redeweise der faschistischen Nationalen Front der 1970er Jahre übernommen.

Zu den Kritikern gehörten ihre Kabinettskollegen von den Liberaldemokraten und der damalige UKIP-Vorsitzende Farage. Ihre Politik der »feindlichen Umwelt« gegenüber Migrant*innen verstärkte die Fremdenfeindlichkeit im UK, sowohl gegenüber britischen Staatsbürger*innen und Zugewanderten aus Commonwealth-Ländern als auch gegenüber EU-Arbeitsmigrant*innen.

Bei den regulären Wahlen zum britischen Unterhaus im Mai 2015 stand May mit Cameron an der Spitze einer EU-feindlichen Wahlkampagne, mit der es gelang, die meisten Wähler*innen der bei der EP-Wahl 2014 als stärkste Partei hervorgegangenen rechtspopulistischen UKIP für die Tories zu gewinnen. Der Wahlerfolg war verknüpft mit der Durchführung des EU-Referendums. Ohne sich aktiv an der Kampagne einzusetzen, sprach sich May verhalten für den Verbleib in der EU aus. Das zuvor von Cameron mit dem Europäischen Rat ausgehandelte Abkommen zur Neupositionierung des UK wäre im Falle eines negativen Brexit-Votums für die Innenministerin eine hervorragende Grundlage gewesen, ihre fremdenfeindliche Politik fortzusetzen.

Nach Brexit-Votum und Cameron-Rücktritt fielen May das Amt der Regierungschefin und der Parteivorsitz ohne Urwahl zu, weil ihre Konkurrentin Andrea Leadsom, eine entschiedene Brexit-Befürworterin, ihre Kandidatur zurückgezogen hatte. Im Gegenzug überließ sie alle Ministerien, die direkt mit dem Brexit befasst waren und sind, den Vertreter des rechten Tory-Flügels. Einen Diskurs in Politik und Gesellschaft zur Moderation von Brexit-Befürwortern und -Gegnern lehnte sie strikt ab. Es war ihr Anliegen, die Entscheidung der 52% für den Austritt aus der EU als »Wille des Volkes« im »nationalen Interesse« als harten Brexit komplett mit dem Verlassen der politischen Union, des Binnenmarkts und der Zollunion umzusetzen und dabei die Gestaltungskraft der Exekutive so weit wie möglich der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen.

Die Ratifizierung des Brexit-Abkommens scheiterte, weil May aus der selbst gewählten Sackgasse nicht mehr herauskam. Ihre Variante der künftigen EU-UK-Beziehungen war nicht kompatibel mit dem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Zukunft Nordirlands, auf deren Einhaltung die EU-Seite pocht. In Meinungsumfragen fanden weder ihre Verhandlungsstrategie noch das Brexit-Abkommen eine Mehrheit; es überwogen stets die Zustimmungsraten zu einer No-Deal-Lösung und einer Revision der Brexit-Entscheidung.

Der rechtspopulistisch-nationalistische Flügel der konservativen Parlamentsfraktion verhinderte das Abkommen, indem er letztlich auf einen ungeordneten Brexit bestand. Die Oppositionsparteien konnten sich ihrerseits nur darauf verständigen, einen Chaos-Brexit ohne Vertrag zu verhindern, ohne sich auf den Rahmen der zukünftigen Beziehungen zwischen dem UK und der EU zu verständigen.

Mays spätes Angebot an die Labour Party als größter Oppositionspartei, einen Kompromiss auszuloten, war rein taktisch bestimmt. Labours Vorschlag für einen Brexit mit Verbleib in der EU-Zollunion und engem Anschluss an den Binnenmarkt zielt auf einen Ausgleich innerhalb des gespaltenen Landes. Damit kann die Nordirland-Komplikation gelöst werden, unterstellt aber andererseits, dass die Personenfreizügigkeit von EU-Bürger*innen im UK weitgehend aufrechterhalten wird. Von diesem Schibboleth, den für Ausländer nur mit strikten Kontrollen möglichen Grenzübertritt, wollte May sich nicht trennen.

Die Premierministerin ist gescheitert. Mit ihrem Rücktritt bleiben alle gesellschaftlichen und politischen Probleme des UK nicht nur bestehen, sondern verschärfen sich. Die Positionierungen der meisten der zahlreichen der Kandidat*innen für ihre Nachfolge signalisieren, dass die Konservative Partei weiter nach rechts rückt und ein vertragsloser Brexit wahrscheinlicher wird als Ausgangspunkt für die eigenständigen Wege der EU und Großbritanniens mit England, Wales und Schottland sowie Nordirlands.

[1] Prime Minister's statement in Downing Street: 24 May 2019; https://www.gov.uk/government/speeches/prime-ministers-statement-in-downing-street-24-may-2019
[2] Care Quality Commission (2019): Interim report: Review of restraint, prolonged seclusion and segregation for people with a mental health problem, a learning disability and or autism. London; https://www.cqc.org.uk/sites/default/files/20190521b_rssinterimreport_full.pdf; vgl. dazu: Ryan, Sara (2019): Years after my son died in NHS care, state-sanctioned torture continues. In: The Guardian, 23.05.2019; https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/may/23/connor-sparrowhawk-torture-care-restraint-segregation
[3] Alston, Philip (2019): Visit to the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland. Report of the Special Rapporteur on extreme poverty and human rights. Genf: The Office of the High Commissioner for Human Rights (UN Human Rights); https://undocs.org/A/HRC/41/39/Add.1; vgl. dazu: Booth, Robert (2019): UN report compares Tory welfare policies to creation of workhouses. Ministers in denial about impact of austerity since 2010, says poverty expert. In: The Guardian, 22.05.2019; https://www.theguardian.com/politics/2019/may/22/un-report-compares-tory-welfare-reforms-to-creation-of-workhouses

Zurück