6. März 2022 Joachim Bischoff: Historische Hintergründe und die Kriegsfolgen

Putins Krieg?

Russland hat nach Jahrzehnten eines eingefrorenen Großkonflikts in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Ukraine überfallen. In einem Großteil der Öffentlichkeit wird der Krieg um die Ukraine zu einer Generalabrechnung mit der Politik der friedlichen Koexistenz zu Zeiten der Systemkonfrontation genutzt. Putins Großangriff auf die Ukraine sprengt die Nachkriegsordnung in Europa.

Diese Entwicklung ruft Kritiker*innen auf den Plan, denen die friedliche Koexistenz im Kalten Krieg und die Entspannungspolitik ein Dorn im Auge war: Alle führenden Politiker*innen der Bundesrepublik hätten mit der »Modernisierungspartnerschaft« und den Rüstungskontrollabkommen mit der Sowjetunion und den GUS-Staaten einer Appeasement-Politik Vorschub geleistet.

Diese Argumentation läuft auf die These hinaus, durch scharfe Konfrontation und Abgrenzung hätte der Zusammenbruch des Sowjetsystems verstärkt und in einen dauerhaften Sieg des Westens umgemünzt werden können. Statt damals eine Neuordnung westlicher Prägung zu erzwingen, hätten die Entspannungspolitiker aller Parteien die fixe Idee verfolgt, der Westen könne das außenpolitische Kalkül und die innenpolitische Entwicklung Russlands durch Dialog und ökonomische Verflechtung beeinflussen.

In der Tat ist die Entspannung- und Kooperationspolitik im Fall der Ukraine nicht erfolgreich gewesen. Das von Angela Merkel und François Hollande entwickelte »Normandie-Format« konnte den langjährigen Bürgerkrieg in der Ukraine seit 2015 nicht auflösen. Auch die Annexion der Krim ist seither eine offene Wunde in der völkerrechtlichen Ordnung.

Unmittelbar vor Ausbruch des Ukraine-Krieges hatten Emmanuel Macron, Olaf Scholz und der EU-Außenbeauftragte Josep Borell versucht, die Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015 zur Regulierung des Konflikts im Donbass auf den Weg zu bringen. Sowohl Wladimir Putin als auch Wolodymyr Selenskyj hatten zumindest verbal einen solchen Weg akzeptiert. Der Bürgerkrieg um die abtrünnigen, von Moskau unterstützten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk sollte durch Wiederaufnahme des Normandie-Formats mit Vertretern Frankreichs, Deutschlands, Russlands und der Ukraine endlich gelöst werden.

Mitglieder der ukrainischen Regierung, erst recht Teile der Opposition hatten die Umsetzung des Minsker Abkommens als zerstörerisch für die Nation bewertet und es von Beginn an torpediert. Sie sehen in dem Minsker Dokument die Handschrift Russland, das sich mit dem Abkommen und seiner Umsetzung Einfluss auf die künftige ukrainische Innen- und Außenpolitik – und damit auch auf die West-Bindung Kiews – versprach.

Konkret ging es in dem Minsker-Abkommen um die Befriedung eines seit 2015 andauernden und zuletzt intensivierten Bürgerkriegs um die abtrünnigen, von Moskau unterstützten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk. Russland prangert daher an, die Ukraine halte sich nicht an die Abmachungen und wolle diese letztlich aufheben. Putins Unterstützung der Separatisten wuchs daher und zuletzt verlangte die russische Duma mit großer Mehrheit deren Anerkennung. Dieser Widerspruch zwischen der faktischen Missachtung seitens der politischen Klasse in Kiew und dem wachsenden Druck in Russland zu weiteren Schritten einer politischen und wirtschaftlichen Integration der beiden Staatsgebilde sollte durch Belebung des Normandie-Formates vermittelt oder gar behoben werden.

Putin hatte zudem gegen eine EU-Annäherung und gegen die immer wieder erhobene Forderung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine interveniert. Hinter diesem Konflikt lauere wegen des nicht erloschenen Anspruchs auf die Halbinsel Krim der Keim einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Die NATO stärke die Ukraine und schaffe eine gefährliche Situation. Erneut beklagte Putin, die von Russland gegenüber den USA und der NATO vorgetragenen Forderungen nach Sicherheitsgarantien – darunter in erster Linie eine Beendigung der NATO-Erweiterung, der Rückzug der NATO-Truppen auf die Grenzen der Allianz von 1997 sowie die Absage an die Stationierung von Angriffswaffen in Grenznähe – seien ungenügend beantwortet worden. Der massive Truppenaufmarsch in Russland und Weißrussland sollte den Forderungen Nachdruck verleihen, und war die Vorstufe des dann erfolgten Einmarschs in die Ukraine.


Zerfall der SU und der GUS befördern Machtmissbrauch und Korruption

Infolge enormer innerer Widersprüche implodierten die an der Sowjetunion orientierten Staaten des Realsozialismus in Osteuropa. Das Ende der UdSSR selbst wurde am 8. Dezember 1991 durch das Beloweschje-Abkommen zur Gründung der »Gemeinschaft unabhängiger Staaten«(GUS) besiegelt, das die damaligen Staatschefs von Russland (Boris Jelzin), der Ukraine (Leonid Krawtschuk) und Belarus (Stanislaw Schuschkewitsch) unterzeichneten. Zum hochexplosiven Erbe gehörten hochgerüstete Armeen und Vielvölkerstaaten, die das Ergebnis der in über 70 Jahren existierenden Nationenpolitik der Kommunistischen Partei waren.

70 Jahre lang hatte die Sowjetunion »Völkerfreundschaft« und Gleichberechtigung der Nationen postuliert. In Wirklichkeit gab es Besetzungen, zahlreiche Deportationen ganzer Völker und die Unterdrückung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen. Die angestrebte »sowjetische« Identität, die vorgeblich übernational war, entlarvte sich im Zusammenbruch als Illusion.

Mit der Fortsetzung der Kooperationspolitik durch den Westen wurde die Auflösung des Militärarsenals – inklusive der Atomwaffen – begleitet und zugleich der Raum geöffnet für eine Transformation der Planwirtschaft in marktwirtschaftlich kapitalistische Systeme. Als 1999 Putin nach erheblichen Wirren unter dem Regime Jelzin die politische Führung in Russland übernahm, gab es wenig Zweifel, dass diese Transformation in allen Nachfolgestaaten der Sowjetrepubliken mit Ausnahme der baltischen Staaten gescheitert war.

Überall rückten an die Spitze der ehemaligen Sowjetrepubliken Vertreter der alten sowjetischen Eliten: ehemalige Parteisekretäre, Minister, Armee- und Geheimdienstgeneräle. Auch die Wirtschaftsführer rekrutierten sich aus den alten Führungsschichten. Binnen kurzem entstand eine neuartige Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft: Die Eliten kaperten und privatisierten die Strukturen der Ökonomie. Die Mechanismen, mit denen Geld in Macht und umgekehrt umgewandelt werden kann, bildeten ein neofeudalistisches System. Die unteren Ebenen zahlten mit Loyalität und erhielten Schutz und Pfründe. Korruption und Machtmissbrauch gehören dabei bis heute zum Alltag.

Die neuen Geschäftsmänner nutzten die Graubereiche und schwarzen Stellen einer Transformationsökonomie, sie waren eine ständig sprudelnde Quelle der Korruption in Ländern, in denen vielerorts die staatlichen Strukturen nicht mehr oder nur als »Profitcenter« funktionierten. In den 1990er Jahren legte das Privatisierungsprogramm »Kredite gegen Aktien« den Grundstein für so manches immense Vermögen. Unter diesem Schema bekamen Geschäftsleute, die dem Staat einen Kredit gewährten, das Anrecht auf den Kauf von Staatsaktiva. Die Auktionen waren intransparent und von politischen Händeln bestimmt. Putin räumte in Russland den »Wildwuchs« auf und stabilisierte das System.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine stehen in der Politik des Westens und den Medien die so entstandenen »Oligarchen« im Mittelpunkt bei der Verhängung von scharfen Sanktionen. Die Sanktionslisten sind zugleich Bestandsaufnahme einer feudalistischen Wirtschafts- und Machtstruktur. Russische Oligarchen und Eliten, die das Wirtschaftssystem des »crony capitalism« tragen, und von der Korruption ihren Reichtum herleiten, sollen nicht mehr länger von den Konsequenzen der destabilisierenden Tätigkeit ihrer Regierung ausgeschlossen sein (siehe auch meinen Beitrag »Der Ukrainekrieg und die Oligarchie«).

Oligarchen sind kein ausschließlich russisches Phänomen, sie prägen auch die Wirtschaft der Ukraine. Solange die Eigentumsrechte nicht gesichert sind, die Rechtsstaatlichkeit Mängel aufweist und sowohl eine Investition in als auch eine Veräußerung eines Unternehmens oft nur erschwert möglich sind, sind mächtige Geschäftsmänner Teil der Probleme einer Transformationswirtschaft.


Die Kriegsfolgen vor Ort …

Der russische Einmarsch in die Ukraine entlarvt die Fragilität der bisherigen Sicherheitsordnung auf dem Kontinent, und zwingt zu neuen Lösungen. Noch ist unklar, wie die neue Nachkriegsordnung aussehen wird. Anders als beim Zerfall des kommunistischen Ostblocks ist derzeit keineswegs klar, wohin der Weg führen könnte. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende dieses Irrsinns begründet sich weniger durch die Aktionen von Politiker*innen, die eine Vermittlung anbieten. Putin und seine Entourage werden zum Rückzug gezwungen sein, wenn das Innere des Regimes durch Protest oder anhaltende Überbelastung der wirtschaftlichen Leistung offenkundig gefährdet wird.

Mit dem Aufbruch der über Jahrzehnte eingefrorenen nationalstaatlichen Konflikte und ihrer Instrumentalisierung durch Militärbündnisse sind wir wieder mit der Gefahr eines großen Krieges konfrontiert: Nach über einem Vierteljahrhundert müssen wir uns mit einem gefährlichen Paradox auseinandersetzen. Als völkerrechtliches Subjekt ist die UdSSR samt ihren Eliten tatsächlich verschwunden, aber es gibt als Hinterlassenschaft Strukturen, die mit Demokratie und Selbstbestimmungsrecht, mit Meinungs- und Pressefreiheit, wie sie selbst in kapitalistischen Gesellschaften erkämpft werden konnten, wenig gemein haben.

Die Rückkehr eines großen Krieges in Europa mit massiver Zerstörung gesellschaftlicher Bauten, vielen Toten und Verletzten und nicht zuletzt einer großen Fluchtbewegung hat große Teile der Bevölkerungen verstört und – wie Hilfsaktionen und Friedensdemonstrationen belegen – mobilisiert. Der Ukraine-Krieg zählt schon jetzt zu den schwärzesten Tagen unserer neueren Geschichte. Der Angriff, vor dem gewarnt wurde, kam dennoch überraschend. Aber das Gift der Feindseligkeit war lange gereift.

Viele sagen, für diesen Krieg sei allein Präsident Putin verantwortlich und sprechen ausschließlich von »Putins Krieg«. Diese Analysen des Irrsinns der kriegerischen Politik Russlands bleiben fahl und oberflächlich. Putin allein wird nicht nur für das direkte Leid der Bevölkerungen und die zerstörerischen Kriegsfolgen, sondern auch für einen geopolitischen und wirtschaftlichen Rückschlag verantwortlich gemacht.

Die westlichen Sanktionen zielen auf die kleptokratischen Strukturen dieses »crony capitalism«, und treffen neben der Elite zugleich die russische Bevölkerung empfindlich. Regimenahe Finanzinstitute werden vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen, die Zentralbank verliert den Zugriff auf rund die Hälfte ihrer Reserven, westliche Großinvestoren geben ihr Engagement auf. Die Folgen von Putins Feldzug bekommt die breite Bevölkerung vor allem durch die rasante Geldentwertung zu spüren.

Allerdings schaffen die Sanktionen keine neuen Strukturen. Im Unterschied zu einer auf Eigentumsrechten und Rechtsstaatlichkeit basierenden Ordnung – worauf freie Märkte basieren – bedeutet »crony capitalism« eine massive Verzerrung der Wirkmechanismen des Tausches und der Aneignungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft. Dessen Gefüge wird schrittweise durch »politische Märkte« ersetzt.

Für die Ukraine zeichnet sich eine enorme Herausforderung ab, die von der Bevölkerung nicht allein bewältigt werden kann. Angesichts der anhaltenden Zerstörung von Produktionspotenzial und Infrastruktur steht die Forderung eines Waffenstillstands und die Bewältigung der großen Fluchtbewegung im Zentrum einer Friedenspolitik. Allerdings sollte auch bewusst sein, dass die Ukraine schon vor dem russischen Überall eine der schwächsten Volkswirtschaften in Europa und im ehemaligen Sowjetraum war.

Die Ukraine ist im Resultat des Transformationsprozess und des langjährigen Bürgerkriegs nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die langfristige Bilanz ist eindeutig. Wenn man sich an die Zahlen der Weltbank zum Pro-Kopf-BIP in Kaufkraftparität und in Dollar von 2017 hält, ist ihre Wirtschaftsgeschichte seit dem Ende der Sowjetunion die eines Abstiegs in die Hölle.

Die Regierungen nach dem Maidan haben bei der wichtigsten Priorität, der Bekämpfung der Korruption, kaum Fortschritte gemacht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) bestätigt dies; er hebt hervor, wie sich in diesem Bereich wie auch bei der Funktionsweise der Justiz der Abstand zu Polen (das in diesem Bereich alles andere als vorbildlich ist) zwischen 2013 und 2018 stetig vergrößert hat, während die Ukraine den »Arbeitsmarkt« noch weiter liberalisiert hat.

In der IWF-Studie wird darauf verwiesen, dass die Frage der Rechtsstaatlichkeit für die künftige Entwicklung der Ukraine von zentraler Bedeutung ist. Ohne sie ist ein wirtschaftlicher Neubeginn nicht möglich und die Lösung dieses Problems müsste auch unter den dramatischen Zerstörungen erfolgen. Bereits im Jahr 2019 hat der IWF drei Hauptgründe benannt, warum internationale Investoren das Land meiden: Korruption, das Rechtssystem und die »Vereinnahmung des Staates durch die Oligarchie«.


… und in der Berliner Republik

Putins Großangriff auf die Ukraine beerdigt die Nachkriegsordnung in Europa. Zugleich wird im politischen Betrieb der Berliner Republik eine neue Erzählung hoffähig, nach der auch die Bankrotterklärung von 25 Jahren Berliner Ostpolitik offenkundig sei. Alle Parteien, alle führenden Politiker*innen der Bundesrepublik hätten den Diktator Putin seit seinem Amtsantritt 1999 falsch eingeschätzt. Auch die frühere Bundeskanzlerin habe trotz der russischen Militärinterventionen in Georgien, Syrien und der Ukraine an der Kooperation mit Putins Russland festgehalten.

Immerhin habe die deutsche Ampel-Regierung mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz eine radikale Wende vollzogen und den ideologischen Ballast aus der alten Russland-Politik entsorgt. Das bis zur Invasion wiederholte Mantra, wonach »Sicherheit nur mit und nicht gegen Russland« erreicht werden könne, habe ausgedient. Die kriegerischen Ereignisse würden brutal klar machen, dass der Kreml nicht primär ein Dialogpartner, sondern eine Gefahr sei. Die lange vorherrschende Blauäugigkeit gegenüber dem System Putins seien nicht nur als individuelle Fehler einzuschätzen, vielmehr dokumentiere es ein systematisches Versagen der politischen Klasse.

Für die neue Ost- und Friedenspolitik auf Grundlage der Putin- und Russenfreundschaft von SPD und CDU/CSU seien alle politischen Kräfte verantwortlich gewesen, denn während 23 Jahre Putin waren die Sozialdemokraten 19 Jahre, die Union 16 Jahre an der Regierung, 12 Jahre davon sogar gemeinsam. Sie trügen deshalb die Hauptverantwortung für das Fiasko der deutschen Ostpolitik.

Der neue parteiübergreifende Kurs sei daher richtig und ohne Alternative: Aufrüstung der Bundeswehr durch Einrichtung eines 100 Mrd. Euro schweren Sonderfonds, Stärkung der NATO, deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie der Sonderfonds, den der Bundeskanzler im Grundgesetz verankern will, damit er nicht von einer künftigen Regierung kassiert werden kann, konkret finanziert werden soll, ist nach wie vor unklar. Steuererhöhungen hat die FDP für diese Legislatur grundsätzlich ausgeschlossen. Für eine Verankerung im Grundgesetz muss auch die Union zustimmen, die sie bereits signalisiert, aber an noch auszuhandelnde Bedingungen geknüpft hat.

Massive Aufrüstung ist so wenig eine weiterführende Antwort in diesem Umbruch der politisch-gesellschaftlichen Ordnung Europas wie die rückblickende Verurteilung der Friedens- und Kooperationspolitik. Der Protest gegen diesen massiven Kurswechsel der SPD-Führung und der Ampelkoalition ist gering. Die SPD-Linke wurden von dem politischen Willen der Parteiführung zur Aufrüstung eiskalt erwischt. Sie wollen an der Friedens- und Entspannungspolitik festhalten. Die nächsten Wochen müssen zeigen, ob die Partei in großer Mehrheit diesen außen- und sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel mitträgt.

Die Linkspartei ist durch die russische Aggression erheblich verunsichert und politisch gelähmt. Gegenüber dieser Verunsicherung im gesamten linken Spektrum tritt die Frage nach der weiteren Entwicklung mit Russland und Ukraine nach dem Krieg ganz in den Hintergrund. Man kann darüber streiten, auf welchen Wegen die Ukraine nach dem Krieg am besten unterstützt werden kann. Auch der Umgang mit Russland, sei es in Folge eines Waffenstillstands, sei es als Ergebnis eines aufbrechenden Widerstands gegen Putin wird für die politische Gestaltung Fragen aufwerfen.

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