15. Januar 2023 Otto König/Richard Detje: Sturm auf das Kapitol als Blaupause

Putschversuch der Bolsonaristen

Am 1. Januar konnte Lula da Silva nach 2003 und 2007 zum dritten Mal das Amt des Präsidenten Brasiliens antreten. Entgegen der Tradition wurde ihm die Präsidentenschärpe nicht von seinem Vorgänger überreicht, sondern von einer Gruppe von Brasilianer*innen –unter ihnen ein Indigener, ein schwarzer Junge, ein Arbeiter, eine Müllsammlerin sowie ein Behinderter.

Die Zeremonie signalisierte: Nach vier Jahren Präsidentschaft des Rechtsextremen Jair Bolsonaro weht jetzt ein anderer Wind in dem südamerikanischen Land. »Ich werde für 215 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer regieren und nicht nur für diejenigen, die mich gewählt haben. Ich werde für alle regieren, mit Blick auf unsere strahlende gemeinsame Zukunft und nicht durch den Rückspiegel einer Vergangenheit der Spaltung und Intoleranz«, sagte Lula in seiner anschließenden Ansprache in der Hauptstadt.

Es sei an der Zeit, die durch Hassreden und die Verbreitung so vieler Lügen zerrissenen Bande mit Freunden und Familie wieder zu knüpfen. Genug von Hass, Fake News, Waffen und Bomben. »Unser Volk will Frieden, um zu arbeiten, zu studieren, sich um ihre Familien zu kümmern und glücklich zu sein.«

Dies gilt jedoch nicht für die fanatischen Anhänger*innen Bolsonaros. Eine Woche nach Lulas Amtseinführung zogen tausende von ihnen nach einer zuvor im Internet unter dem Motto »Tomada de Poder««(Machtergreifung) angekündigten Demonstration marodierend durch das Regierungsviertel der Hauptstadt Brasília, stürmten den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Palácio do Planalto.

Sie randalierten in Sitzungssälen und Büros, hinterließen eine Spur der Zerstörung und forderten das Militär zum Staatsstreich gegen den demokratisch gewählten Präsidenten auf. »Das war ein angekündigtes Verbrechen gegen die Demokratie, gegen den Willen der Wähler«, twitterte die Vorsitzende der regierenden Arbeiterpartei (PT), Gleisi Hoffmann.

Rückblick: Der 17. April 2016 war ein historischer Moment für Jair Bolsonaros bis dahin glanzlose Politkarriere. Das Abgeordnetenhaus stimmte über das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff ab. Bolsonaro nutzte die Gelegenheit, um seine Stimme dem berüchtigten Folteroffizier Carlos Alberto Brilhante Ustra zu widmen. Dieser hatte die damals 25-jährige Linksaktivistin Rousseff während ihrer zweieinhalb Jahre Haft schwer gefoltert. Die Aktion war so menschenverachtend wie niederträchtig – aber sie sollte zum Markenzeichen des aufstrebenden Politikers werden: Verbreitung von Hass als politische Strategie. In nur vier Jahren hat er Brasiliens Politik grundlegend verändert. »Auch ohne Präsidentenamt ist der Geist des Bolsonarismus noch lange nicht aus der brasilianischen Politik vertrieben.« (Niclas Franzen)

Der Putschversuch der Ultrarechten erfolgte mit Ansage. Die Bolsonaristen gaben nach der verlorenen Wahl keine Ruhe. Unmittelbar nach dem Wahltag erfolgten Straßenblockaden gegen die »geraubte Wahl«. In Telegram-Gruppen wurde zum Widerstand aufgerufen, das Militär aufgefordert, Lulas Amtseinführung zu verhindern. Der Sturm in Brasília war gut vorbereitet. Der Widerstand gegen die neue Regierung wurde online verkündet. Über Messenger-Dienste hatten sie sich abgesprochen und waren mit etwa 100 Bussen in die Hauptstadt Brasiliens angereist. Die Bilder der in den brasilianischen Nationalfarben gekleideten Eindringlinge und ihr Vandalismus erinnern an den Sturm der Anhänger*innen des Ex-US-Präsidenten Donald Trump auf das Kapitol in Washington vom 6. Januar 2021. Er diente ihnen als Blaupause.

Die Parallelen zwischen Bolsonaros und Trumps Verhalten sind frappierend. Beide haben demokratische Wahlen verloren und sowohl mit legalen wie außergesetzlichen Strategien versucht, sich an die Macht zu klammern. Das politische Spiel, von Donald Trump vorexerziert, ist auch im größten Land Südamerikas noch nicht vorbei. Einen Tag nach dem Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 hatte Bolsonaro bereits angedeutet, dass sich derartige Szenen in Brasilien wiederholen könnten, falls Zweifel am Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2022 aufkämen.

Nach der verlorenen Stichwahl gegen den Kandidaten der Linken schwadronierte Bolsonaro: »Wir haben eine Schlacht verloren, aber wir werden den Krieg nicht verlieren.« Er gratulierte weder Lula da Silva zum Wahlsieg, noch gestand er seine Niederlage direkt ein. Mit dem Mythos der »geklauten Wahl« und der Aussage, das brasilianische Volk werde sich »die Wahl nicht stehlen lassen«, mobilisierte der Ex-Fallschirmjäger-Hauptmann Brasiliens Ultrarechte.

Zu Recht wirft Lula da Silva seinem Vorgänger vor, zu der »Invasion der drei Gewalten« angestachelt zu haben. Tatsächlich attackierte der Bewunderer von Militärdiktaturen schon während seiner Amtszeit wieder und wieder die demokratischen Institutionen. Im fernen Florida, in das er sich vor der Amtseinführung Lulas abgesetzt hat, wies er die Vorwürfe zurück.

Seine Reise nach Florida erklären Beobachter mit dessen Angst vor einer juristischen Verfolgung in Brasilien. Seit dem Regierungswechsel Anfang des Jahres besitzt Bolsonaro keine politische Immunität mehr, gleichzeitig laufen mehrere Ermittlungen, in die er verwickelt ist. Mittlerweile hat die linke Partei PSOL seine Verhaftung verlangt. In den Vereinigten Staaten fordern Politiker*innen aus den Reihen der Demokraten eine Ausweisung Bolsonaros.

Nach den Gewaltexzessen ist insbesondere die Rolle der Polizei und des Militärs in den Blickpunkt geraten. Ein Großteil der Sicherheitskräfte – sowohl des Militärs wie auch der diversen Polizeieinheiten – unterstützt offen Bolsonaro. Über WhatsApp-Gruppen sind sie mit dessen Netzwerken verknüpft, sie sind »die privaten Nachrichtendienste«, von denen der Ex-Präsident immer wieder fabulierte. Lula da Silva übte scharfe Kritik an den Sicherheitskräften. Diese hätten zugelassen, dass »Faschisten« und »Fanatiker« ungehindert ihr Unwesen treiben konnten.

Die ursprünglich als Demonstration getarnte Aktion ging maßgeblich von einem großen Camp von Bolsonaro-Anhänger*innen vor dem Hauptkommando der Armee in Brasilia aus. Seit Bolsonaros Wahlniederlage haben dessen Unterstützer*innen im ganzen Land vor Militäreinrichtungen Protestlager aufgebaut. Dort genießen sie ganz offensichtlich die heimliche Solidarität der Militärs. Als die Polizei das Camp der Bolsonaro-Unterstützer nach dem versuchten Putsch stürmen wollte, stellten sich Soldaten dazwischen. (WAZ vom 10.1.2023) Inzwischen hat der Oberste Gerichtshof die Auflösung aller Zeltstädte der Bolsonaro-Anhänger*innen angeordnet.

Über die Rolle der Streitkräfte, die in den vergangenen vier Jahren deutlich an Einfluss gewonnen haben, herrscht in dem südamerikanischen Land eine große Unsicherheit. Hohe Militärs, zum Teil frühere Minister Bolsonaros, unterstützen die Proteste der Ultrarechten. Ex-General Walter Braga, Bolsonaros ehemaliger Leiter des Präsidialamts, ermunterte die Umstürzler in den sozialen Netzwerken. Dem neuen Verteidigungsminister José Múcio ist es in der Kürze der Zeit noch nicht gelungen, die unter Bolsonaro an wichtige Machthebel aufgestiegenen Militärs wieder zurückzustutzen.

Auch die Polizei hatte die Bolsonaristen aufmarschieren lassen und sie nicht daran gehindert, in das Regierungsviertel einzudringen. Der oberste brasilianische Richter, Alexandre de Moraes, ordnete zwischenzeitlich an, dass der Gouverneur von Brasília, Ibaneis Rocha, wegen der Ereignisse vom Sonntag für 90 Tage seines Amtes enthoben wird. Laut Einschätzung von Moraes haben die Angriffe auf den Präsidentenpalast, das Parlament und das Oberste Gericht »nur (…) mit direkter Beteiligung der öffentlichen Sicherheits- und Geheimdienstbehörden« stattfinden können.

Zugleich erließ die Generalstaatsanwaltschaft einen Haftbefehl für den Chef der Sicherheitsbehörden von Brasília, Andersen Torres, der mit dem Ex-Präsidenten in die USA ausgeflogen war. Als Reaktion auf den Putschversuch dekretierte Lula da Silva, dass die Bundesregierung zunächst bis zum 31. Januar die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit in der Hauptstadt übernimmt.

Mit der Ankündigung, die Abholzung des Regenwaldes zu bekämpfen und Sozialprogramme für Wohnungsbau und Bildung, zur Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung wiederzubeleben, stört Lula da Silva die Interessen nationaler Eliten. Die Stärkung der Rechte von Afrobrasilianer*innen, der indigenen Völker und der fünf Millionen Landlosen beunruhigt diejenigen, die von deren Ausbeutung profitieren.

Die radikalisierten Ultrarechten werden von Geschäftsleuten finanziert und logistisch unterstützt. Eine führende Rolle spielt die Agrarindustrie – Großgrundbesitzer und Großlandwirte. Mit Grauen werden sie vernommen haben, als Lula da Silva bei seiner Amtseinführung sagte: »Im Kampf für das Wohl Brasiliens werden wir die Waffen einsetzen, die unsere Gegner am meisten fürchten: die Wahrheit, die die Lüge überwunden hat, die Hoffnung, die die Angst überwunden hat, und die Liebe, die den Hass besiegt hat.«

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