17. Januar 2023 Klaus Kohlmeyer/Ulrich Bochum/Jeffrey Butler/Stephanie Odenwald: »Randale in Berlin«

Rassistische Debatte zur Silvesternacht 2022 in der Hauptstadt

Foto: picture alliance/dpa

»Randale in Berlin« ist fast schon sprichwörtlich, und nun gibt es erneut Ereignisse in der Silvesternacht, die sich in dieses Klischee einreihen: gewaltsame Vorfälle von Moabit über Lichtenberg bis Neukölln. Silvester 2022 ein »typisches Berliner Problem«?

Nein, weder ein neues noch ein singuläres Problem: Berichte über Ausschreitungen und Plünderungen in derselben Nacht kamen auch aus Sachsen, Bayern und anderswo. Man erinnere sich zudem an Stuttgart in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020, an die spontane Straßengewalt von Jugendlichen. Ein Blick nach Frankreich oder nach London zeigt, dass dort Ausschreitungen ebenfalls und in noch viel ausgeprägterer Form stattfanden.

Noch vor Abschluss der ersten Ermittlungen zu den Berliner Ausschreitungen läuft bundesweit eine »Integrationsdebatte« als populistischer Schlagabtausch mit pauschalisierenden, diskriminierenden und verkürzenden Aussagen über ganze Bevölkerungsgruppen, die hierfür verantwortlich gemacht werden. Die Berliner CDU fordert vom Innenausschuss die Bekanntgabe der Vornamen deutscher Tatverdächtiger, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz äußert sich in abfälliger pauschaler Weise über »Bürger aus dem arabischen Raum«, deren »Söhne, die kleinen Paschas«, sich in der Schule nicht zurechtweisen ließen.

»Diese Bemerkung schürt rassistische Ressentiments und kann auch zur Stigmatisierung ganzer Gruppen führen«, warnt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die SPD-Politikerin Reem Alabali-Radovan.[1] Das stoße Millionen vor den Kopf, so die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman irritiert im ZDF.[2] Die Debatte gehe am Problem vorbei, sagt der Ethnologe Jens Schneider. Denn mittlerweile sei ein Migrationshintergrund normal – und die wirklichen Ursachen gerieten aus dem Fokus.[3]

Angesichts der bundesweit verheerenden Bilanz an Toten und Verletzten klingt die AfD-Forderung »Einreise- statt Böllerverbot« besonders zynisch. Bereits im Vorfeld der Silvesterereignisse war von verschiedener Seite ein totales Böllerverbot gefordert worden, wie von dem Berliner LINKEN-Bürgermeister und Kultursenator sowie Spitzenkandidaten für die im Februar anstehenden Neuwahl des Abgeordnetenhauses, Klaus Lederer. Gegen eine kleine, aber durchsetzungsstarke Gruppe, die Jahr für Jahr bundesweit kriegsähnliche Verhältnisse in der Silvesternacht herstellt, bleibt der Staat seit Jahren untätig und lässt zu, dass Ordnungskräfte diese Gewaltexzesse eindämmen müssen und dabei ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.

Was war geschehen? Wegen Böllerattacken wurden an Silvester 38 Menschen festgenommen, zwei Drittel von ihnen seien Deutsche, berichtete der Berliner »Tagesspiegel« unter Berufung auf die Polizei, die zunächst von 145 Festnahmen gesprochen hatte.[4] Doch darunter waren offenbar auch andere Delikte subsumiert. 90% der Menschen, die aufgefallen sind, sollen in Deutschland geboren und zur Schule gegangen sein, »Berliner Kinder«, wie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey klarstellte. Sie lud zu einem Gipfel gegen Jugendgewalt ein und stellte mehr Mittel für Sozial- und Elternarbeit in Aussicht.

Öffentliche Gewaltausbrüche – auch nur von kleinen Minderheiten – verweisen immer auf soziale Problemlagen in einer Gesellschaft. Bezüglich der Spekulationen über mögliche Ursachen von Gewalt und Gewaltbereitschaft, erläutert Talja Blokland, Professorin für Stadtsoziologie an der Humboldt-Universität, dass Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrungen es generell schwer haben, in dieser Gesellschaft mit dem gleichen Respekt behandelt zu werden, wie andere Menschen. Und dass sie keinen Zugriff auf die vollständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben, wie die Mittel- und Oberschicht.[5]

Auch wenn es sich bisher nur um kleine Gruppen frustrierter Jugendlicher handelt, die nicht anerkannt werden, ihre Wut und ihr Frust entstehen daraus, dass sie keinen Zugriff auf die Ressourcen haben, die notwendig sind, um ihre Ideale zu verwirklichen. Und nicht nur das: »Männliche Jugendliche und junge Erwachsene, die als nicht-weiß gelesen werden, sind besonders häufig Opfer von Racial Profiling. Sie haben allzu oft seit ihrer Zeit in Kita und Schule Erfahrungen machen müssen mit Stigmatisierung, mit rassistischem Mobbing, Ausgrenzung und Diskriminierung.«[6] Es zeigt sich, dass diese Jugendlichen ein hohes Risiko tragen, dass ihnen der Einstieg in eine Ausbildung nicht gelingt. Ausbildungslosigkeit aber verschärft perspektivisch ihre soziale Benachteiligungslage.

Es herrsche eine starke soziale Segregation, so Blokland, die vom Schulsystem über den Ausbildungsmarkt bis hin zum Arbeitsmarkt reiche. Kinder und Jugendliche werden in der Schule aussortiert, Ausbildungsplätze bleiben für sie unzugänglich und der Weg, beruflich erfolgreich zu werden, ist durch viele Hindernisse versperrt, die oft nicht direkt sichtbar sind. Es sei in erster Linie ein Problem der Stadt, in der die Infrastruktur von Bildungseinrichtungen und der Sozialarbeit oder Jugendarbeit »so marode geworden ist, dass die, die den sozialen Aufstieg anstreben oder auch nur Hilfe brauchen, diese Möglichkeit oft nicht bekommen«.

Seit Beginn der Pandemie erreichen dringende Appelle die Öffentlichkeit, dass »Berlins Ausbildungspolitik versagt – eine Generation wird abgehängt«.[7] Praktiker*innen aus den Bereichen Bildung und Berufsausbildung schlagen Alarm. In Berlin bestehe die akute Gefahr, dass ein großer Teil der jungen Generation den Einstieg ins Berufsleben ohne zusätzliche flankierende Maßnahmen nicht bewältigt.

Besonders betroffen sind diejenigen, die schon zuvor mit Belastungen und Schwierigkeiten zu tun hatten: Jugendliche aus Familien mit Einwanderungsgeschichte (die fast 50% der Berliner Jugendlichen ausmachen), aus segregierten Stadtteilen und aus Armutsverhältnissen. Durch die Krisensituation droht eine tiefe soziale Spaltung unter den Jugendlichen in Berlin, sowie der dauerhafte Verlust an Zusammenhalt in der Gesellschaft insgesamt.

Seit März 2020 sind Berliner Jugendliche neben fehlenden sozialen Kontakten auch von dramatischen Ausfällen in der Berufsorientierung und der Vorbereitung auf das Arbeitsleben betroffen. Betriebe haben Praktika gestrichen, bewährte Formate reduziert oder sie gar nicht mehr angeboten. Ausbildung fand lange Zeit nur digital statt, die Beschäftigten vieler Unternehmen befinden sich vermehrt im Homeoffice. Die digitalen Angebote können viele Jugendliche aufgrund fehlender Rahmenbedingungen – kein WLAN, keine Endgeräte – nicht wahrnehmen.

In mehreren Schülergenerationen haben sich Lücken aufgebaut, die gegen Ende der Schulzeit kumulieren und dazu führen, dass die jungen Leute unvorbereitet und daher oft chancenlos die Schule verlassen. Psychische Belastungen der Pandemie werden sichtbarer, über 40% gaben jüngst an, unter psychischen Belastungen zu stehen, die nicht ohne Weiteres zu bewältigen sind. Viele von ihnen sind abgetaucht.

Große Sorge bereitet den Eltern die Zukunft ihrer Kinder. Die Berufsorientierung fiel nach den großen – integrationspolitischen – Fortschritten der letzten Jahre um Jahre zurück. Zunehmend wird sich das auf dem Arbeitsmarkt durch Mangel an Fachkräften bemerkbar machen.

Während einerseits große Gruppen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt außenvorbleiben, wird gleichzeitig der wachsende Fachkräftebedarf beklagt, vor dessen Hintergrund niemand verlorengehen dürfte. Berlin leidet unter extremem Fachkräftemangel. Die IHK Berlin warnt: »Die Prognose bis 2035 ist düster. Mangel an allen Ecken – keine Azubis, keine Akademiker, keine Facharbeiter und keine Meister.«[8]

Die Instrumente und Erfahrungen sind da, Jugendliche mit besonderen Risikolagen zu einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu führen.[9] Nachhaltige Bildungs- und Ausbildungspolitik mit langfristig angelegten Lösungsstrategien unter Beteiligung der Wirtschaft sind gefordert – nicht bloß mit kurzfristen Millionenbeträgen. Statt Aktionismus und neuer Parallelstrukturen sei der Ausbau erprobter Ansätze auch gegen Jugendgewalt nötig, etwa mit mehr Personal, Räumlichkeiten und Geld, fordert die Amadeu Antonio Stiftung,[10] die sich u.a. gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagiert.

»Es mangelt eklatant an einer gemeinsamen Landesstrategie, wie man gerade benachteiligte Jugendliche erreichen kann.«[11] Angesichts der Realität vieler Jugendlicher, die sich durch die wachsende Armutsproblematik im Jahr 2022 verschärft hat, »müsste man die Frage umgekehrt stellen: Warum gibt es in Deutschland Hunderttausende Jugendliche, die nicht völlig durchdrehen?«[12]

Anmerkungen

[1] »Kleine Paschas«: Integrationsbeauftragte über Merz entsetzt | BR24
[2] Ataman zu Silvester: »Debatte stößt Millionen vor den Kopf« – ZDFheute
[3] Migrationsforscher: Integrationsdebatte führt in die Sackgasse | NDR.de - Nachrichten - NDR Info
[4] Neue Zahlen zu Berliner Silvester-Krawallen: Nur 38 Festgenommene wegen Böller-Attacken – mehrheitlich Deutsche (tagesspiegel.de).
[5] Stadtsoziologin zur Silvesternacht: »Keine Überraschung, dass es jetzt knallt« (berliner-zeitung.de).
[6] Presseerklärung am 9.01.2023 von ReachOut, der Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: Die rassistische Debatte zu den Geschehnissen in der Silvesternacht in Neukölln beenden!
[7] Berlins Ausbildungspolitik versagt – eine Generation wird abgehängt - Berlin Forum.
[8] Berlin leidet unter extremem Fachkräftemangel (berliner-zeitung.de).
[9] Andreas Germershausen, Wilfried Kruse (2021): Ausbildung statt Ausgrenzung. Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können.
[10] Jugendgewalt-Gipfel: Giffey fordert »konzertierte Aktion« (wiwo.de)
[11] Susannen Stumpenhusen, ehemalige ver.di Vorsitzende, zit. Nach taz vom 21.6.2022 Schwieriger Start in die Ausbildung: Orientierungslos nach Corona - taz.de
[12] Blokland a.a.O.

Zurück