5. Juni 2018 Joachim Bischoff/Björn Radke: Vor dem Parteitag der LINKEN

Ratlos in die politische Bedeutungslosigkeit?

Der kommende Bundesparteitag der LINKEN fällt in eine Zeit des epochalen Umbruchs. Mit der Machtübernahme des von Donald Trump angeführten rechtspopulistischen Blocks sozialer Kräfte in den USA zersetzen sich die Fundamente der bisherigen Weltordnung in immer höherem Tempo. Mit der Leitidee »America First« geht auch für die Europäer eine Ära zu Ende, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Verhältnis zu den USA bestimmte.

Diese veränderte Weltordnung muss auch in Europa und Deutschland die Strategiediskussion in Bewegung bringen. Die politische Linke steht vor der Aufgabe, diese veränderte Weltlage zu verstehen und sich mit den daraus ergebenden neuen Herausforderungen auseinandersetzen. Auch die Ankündigung Trumps, Europa zukünftig für die eigene Sicherheit bezahlen zu lassen, stellt Europa und die Linke vor neue Herausforderungen, weil damit die Frage nach einer modifizierten Sicherheitskonzeption auf dem Tisch ist. Welcher Staat in Europa wird jene Rolle übernehmen, die bisher die USA innehatten?

Es geht also um eine neue europäische Sicherheitspolitik und die Rolle Deutschlands als einer europäischen Hegemonialmacht. Damit geht es auch um die Zukunft der EU, die nicht nur wegen der Flüchtlingsfrage vor einer Zerreißprobe steht. Mit der Bildung der rechtspopulistischen, europafeindlichen Regierung sehen wir in Italien eine dramatische Änderung der politischen Kultur: Bisherige parlamentarische Gepflogenheiten werden über Bord geworfen, M5S und die Rechten von der Lega Nord und Forza Italia besetzen alle zentralen Positionen.

Insofern ist das europäische Projekt so gefährdet wie bisher nie: Der Brexit, das Erstarken rechtspopulistischer, nationalistischer Regierungen in vielen Ländern Europas (neben Italien jüngst in Slowenien) befeuern auch hierzulande jene Stimmen, die den Ausweg aus den Krisen in einer Verklärung nationaler Chancen suchen.

Hinzu kommt der politische Niedergang der europäischen Sozialdemokratie: In Österreich und Dänemark schrecken Teile nicht davor zurück Bündnisse mit Rechtspopulisten einzugehen, sofern damit soziale Erleichterungen für die »Einheimischen« ermöglicht würden – selbst unter Inkaufnahme gleichzeitiger Ausgrenzung der Migrant*innen. In der deutschen Sozialdemokratie sind die Erneuerungsversprechen bisher ohne erkennbare Konsequenzen geblieben, die SPD dümpelt in Wahlumfragen inzwischen um die 17%. Die Parteien links der Sozialdemokratie sind europaweit marginalisiert, nur in Deutschland liegt die Linkspartei in den Umfragen konstant bei Werten zwischen 8 und 10%.

Die sich immer deutlicher als rechtsnationale Kraft profilierende AfD ist mittlerweile die drittstärkste Partei im Bundestag und damit Oppositionsführerin. Vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt ist sie auf dem Weg zur zweitstärksten Kraft hinter der CDU. Auch in Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern legt sie zu, während die LINKE stagniert bzw. verliert.

Vor dem Hintergrund all dieser Veränderungen in der politischen Landschaft wäre ein Parteitag der gebotene Anlass, sich diesen strategischen Herausforderungen zu stellen. Nur ist davon wenige Tage vor dem Parteitag der LINKEN kaum etwas zu merken. Petra Pau[1] forderte in der Tageszeitung neues deutschland angesichts von Digitalisierung und der Forderungen nach einem Grundeinkommen zwar eine neue Programmdebatte, ohne die geschilderten Herausforderungen überhaupt in den Blick zu nehmen. Der Koordinierungskreis Emanzipatorische Linke[2] antwortet darauf mit dem Hinweis, dass wir uns »als Linke neu erfinden« müssten, ohne ebenfalls die Analyse der konkreten Verhältnisse anzugehen.

Wie auf diesem Weg Antworten auf die veränderte politische Konstellation gefunden werden sollen, damit eine selbstkritische Neubestimmung vorgenommen werden kann, ist wenige Tage vor dem Leipziger Parteitag nicht sichtbar.

In dieser Situation hat Oskar Lafontaine in einem Interview mit der taz noch einmal Salz in die Wunde gestreut, indem er der Parteiführung – gemeint sind die beiden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger – eine falsche Politik vorwirft. »Auch die Partei Die Linke verliert bei Arbeitern und Arbeitslosen. Bei Arbeitnehmern gibt es die Bereitschaft, anderen zu helfen. Aber wenn die beiden Parteivorsitzenden fordern, alle, die nach Deutschland kommen, sollen ein Bleiberecht haben und 1.050 Euro im Monat erhalten, dann schütteln die meisten nur noch mit dem Kopf. Weil man die Frage der Finanzierbarkeit ausklammert, was auf dem jetzigen Parteitag wieder geschehen soll.«[3]

Damit zielt er auf eine Argumentation der beiden Parteivorsitzenden, die im neuen deutschland am Tag zuvor erklärt hatten: »Wir führen eine Debatte darüber, welches Leitbild von Integration wir als LINKE wollen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich die Lebensbedingungen für Geringverdiener verbessern, wenn Zuwanderung begrenzt wird. Das Kapital organisiert immer Konkurrenzkampf. Kernbelegschaft gegen Leiharbeiter, Leiharbeiter gegen Erwerbslose, Erwerbslose gegen Migranten. Bei dem Spiel, die Ängste der Beschäftigten gegen Migranten zu richten statt gegen die herrschende Politik, machen wir nicht mit.«[4]

Lafontaine kritisiert vor allem: »Keiner bestreitet, dass über eine andere Steuerpolitik und höhere Einnahmen auch mehr öffentliche Leistungen finanziert werden können. Aber wir können nicht so tun, als stünden grenzenlos Haushaltsmittel zur Verfügung. Zudem ist es absurd, wenn mit großer ideologischer Hartnäckigkeit die Lohn- und die Mietkonkurrenz geleugnet werden, die entstehen, wenn sehr viele Menschen zu uns kommen.«

In weiten Teilen Europas sowie in Nordamerika haben rechte Bewegungen und Parteien einen beachtlichen Zulauf und eindrucksvolle Wahlerfolge zu verzeichnen. Auch in Deutschland hat sich mit der AfD eine rechtspopulistische Partei mit einem starken extremen, völkisch-nationalistischen Flügel im politischen System festgesetzt. Das dynamische Zentrum der Partei um Alexander Gauland, Björn Höcke und André Poggenburg befördert die Zerstörung des republikanischen Grundkonsensus. Die rechtspopulistischen Bewegungen artikulieren die in breiteren Bevölkerungsschichten vorhandenen Ängste und Ressentiments, die sich in erster Linie auf künftige Statusverluste, aber auch auf kulturelle Verunsicherungen gründen. Zudem bedient die AfD eine Klientel, die traditionelle Familienwerte als gesellschaftliche Norm durchsetzen will. Die wachsende soziale Polarisierung, das Gefühl, dass sich die individuellen Anstrengungen nicht mehr lohnen und die Zukunftsperspektiven der Kinder verbaut sind, sowie der Eindruck, dass die politische Klasse sich darum nicht kümmert, sind wesentliche Faktoren für den Aufstieg des Rechtspopulismus auch hierzulande.

Seit der Ausweitung der Bewegung von zufluchtsuchenden BürgerInnen nach Deutschland im Spätsommer 2015 hat die AfD ihren politischen Schwerpunkt von der Euro- und Europakritik auf die Asylpolitik und vor allem eine Abgrenzung gegenüber MigrantInnen aus islamischen Ländern ausgerichtet. Sie stützt sich auf Befürchtungen und Vorurteile in großen Teilen der Bevölkerung, die der Zuwanderung skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen. Die AfD unterstützt und instrumentalisiert ein einseitiges und negatives Bild vom Islam. Islamfeindlichkeit, Nationalismus und Ablehnung europäischer oder internationaler Kooperationen entfesseln verbreitete und tiefsitzende Ressentiments.

Gesellschaftliche Basis für den Rechtspopulismus ist ein historisch-spezifisches Ressentiment, d.h. den Einstellungen und Handlungen liegt das Gefühl chronischer Ohnmacht gegenüber erlittener Benachteiligung zugrunde. Das Ressentiment im Wortsinn ist ein Re-Sentiment, ein bloßes Wieder-Fühlen der Selbstwertverletzung und der Ohnmacht gegenüber den Ursachen. Die These, die soziale Basis der Rechtspopulisten seien vor allem Arbeiter, also einer sozialen Kategorie aus dem Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, wird durch beständige Wiederholung nicht richtiger. Angesichts der Verbreitung der modernen Rechten ist der Verweis auf eine falsche Politik der Sozialdemokratie und der LINKEN wenig überzeugend. Gefordert wäre eine selbstkritische Analyse, in der die Widersprüche in der Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Flüchtlingspolitik aufgearbeitet werden, und im breiten gesellschaftlichen Diskurs eine Verständigung auf eine eigenständige europäische Alternative verfolgt wird.


Ausweg mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine?

Aber darum geht es Lafontaine nicht und deshalb schiebt er seine völlig schiefe Sichtweise hinterher, die Parteiführung (Kipping und Riexinger) habe »versucht, die Rechte der Fraktionsvorsitzenden zu beschneiden. Das war zumindest kein integrativer Akt. (…) Nicht die Fraktionsspitze hat die beiden Vorsitzenden beleidigt, sondern vor allem Sahra Wagenknecht werden Rassismus, Nationalismus und AfD-nahe Positionen vorgeworfen, vor allem aus dem Umfeld der Parteivorsitzenden. So etwas ist nicht geeignet, die Zusammenarbeit auf eine tragfähige Basis zu stellen.«

Dazu gehört auch, dass bereits seit Monaten die Idee einer »linken Sammlungsbewegung« durch die politische Landschaft geistert, die von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine befeuert wird. Eine innerparteiliche Debatte über dieses Projekt zur Pulverisierung der LINKEN gibt es nicht und die Parteiführung selbst weicht einer Auseinandersetzung aus.

Unbestreitbar ist, dass die politischen Kräfte links der Mitte derzeit keine Machtoption zustande bringen, zweifelhaft ist aber das Ausrufen einer parteiübergreifenden, linken Sammlungsbewegung, die angesichts der gesellschaftlichen Schwäche linker Positionen nur zu Verschiebungen innerhalb des linken Feldes führen kann und damit eine weitere Schwächung bestehender Formationen in Kauf nimmt. Das sieht Lafontaine auch, aber in der ihm eigenen Art ist er bereit, dies in Kauf zu nehmen, wenn denn »politisch etwas verändert« werden soll: »Ich verstehe die Sammlungsbewegung als Appell an die linken Parteien, ihre eigene Situation zu reflektieren. SPD, Grüne und Linke werden mit ihrer jetzigen Aufstellung auf absehbare Zeit keine politische Mehrheit haben, weil der progressive Neoliberalismus zu sehr die Agenda bestimmt. Mein Anliegen ist, dass die traditionellen Gerechtigkeitsthemen wieder von diesen Parteien aufgegriffen und vertreten werden. Die Resonanz ist schon jetzt groß. Wir bekommen viele Anfragen, wie man mitwirken und sich beteiligen kann. Dass wir derzeit keine große Bewegung auf der Straße haben, wie die Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010, weiß ich auch. Aber das entbindet nicht davon, nach Wegen zu suchen, um politisch etwas zu verändern.« Unstrittig sollte sein, dass der Rechtspopulismus und die nationalistisch-völkischen Ressentiments ernstgenommen werden müssen. In der Tat trifft die Einschätzung zu: »Eine Linke, die arrogant oder besserwisserisch daherkommt, isoliert sich und erreicht viele Menschen nicht mehr.«

Das Ziel einer volksnahen, populären Linken nach Wagenknecht und Lafontaine müsse sein, die Gesellschaft zu verändern, sie zu befreien von der Diktatur eines außer Rand und Band geratenen Kapitalismus. Der Weg dahin müsse eine neue Sammlungsbewegung sein, die im September offiziell ihre Arbeit aufnehmen werde. Es ist eingestanden eine Bewegung von oben, wie Lafontaine überraschend selbstkritisch einräumt: Selbstverständlich wäre es besser, wenn diese Sammlungsbewegung sich von unten, aus der Gesellschaft heraus entwickeln würde. »Aber sollen wir denn gar nichts tun und tatenlos zusehen, wie die Rechte immer stärker wird? Wenn wir so weitermachen wie bisher, landen Linke, Grüne und SPD bei der nächsten Bundestagswahl bei 30 Prozent.«

Immer wieder betonen die beiden »Vordenker«, dass es nicht um die Spaltung der Partei DIE LINKE gehe, sondern um die Frage, wie man verhindern könne, dass »die Rechte die kulturelle Hegemonie übernimmt«. Sahra Wagenknecht begründet die Idee zu der Sammlungsbewegung vor allem mit dem »Versagen« der Linkspartei, weil diese nicht in der Lage war, die Menschen davon abzuhalten, zu den Rechten überzulaufen. Sie ist davon überzeugt, dass die neurechte Bewegung so starken Einfluss im Internet auf die Menschen habe, wie keine andere Partei. Diese Vormachtstellung müsse man brechen, auch dazu könne die Sammlungsbewegung dienen: »Die Rechten instrumentalisieren ein Lebensgefühl. Sie holen die Menschen bei ihren berechtigten Sehnsüchten ab, die sie dann ins Völkische und Nationalistische wenden. Aber die Sehnsucht nach Sicherheit, nach Schutz durch den Staat ist nicht rechts.«

Bisher besteht diese Bewegung allerdings höchstens virtuell – und was die politische Vielfalt angeht, bleibt es auch hier übersichtlich. Bisher hat sich Rudolf Dreßler aus der SPD zu dem Projekt bekannt, auch Liedermacher Konstantin Wecker und der Schriftsteller Ingo Schulze zeigen sich interessiert. Offen dafür ist auch der 2014 emeritierte Kölner Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck. Und dass die Nachdenken-Seiten diesen Versuch befördern, kann nicht wirklich überraschen.

Gleichwohl bleibt festzuhalten: Trotz aller Dementi von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht läuft dieses Projekt der Sammlungsbewegung – sofern es nicht an sich selbst scheitert – auf eine Schwächung, ja weiteren Spaltung der linken Kräfte in Deutschland hinaus. Und damit auch des Versuchs, mit einem grundlegenden Politikwechsel und deutlichen Kurskorrekturen bei sozialer Sicherheit sowie Eingriffen in die Verteilungsstrukturen eine Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in dieser Republik zu bewirken.

Ohne diesen wird aber weder DIE LINKE zu einem gewichtigeren Faktor werden, ohne diesen wird die Sozialdemokratie keinen auch nur halbwegs erfolgreichen Erneuerungsprozess erreichen können, der sie auch nur annähernd zu ihrer früherer Stärke zurückführt. Und vor allem wird ohne eine solche Reformoffensive der Rechtspopulismus nicht eingehegt werden können. Denn nur, wenn die Verschiebungen in den Verteilungsverhältnissen als Grund für Enttäuschungen und Wut anerkannt werden, kann darauf – in Auseinandersetzung mit den »abgehängten« Teilen der Bevölkerung – ein weiterreichendes Programm gesellschaftlicher Veränderung auf den Weg gebracht werden. Es gibt mit Sicherheit kein Patenrezept für die Veränderung der Anteile an der Wohlstandsentwicklung, aber die Kernfrage ist, ob glaubwürdig Reformen angestrebt und durchgesetzt werden.

[1] »Zeit für eine linke Programm-Debatte« – nd vom 19.4.2018.
[2] »Linke, erfinde dich neu!« – nd vom 31.5.2018
[3] »Täter stellten sich als Opfer dar« – taz vom 1.6.2018
[4] »Wir stellen die Eigentumsfrage« - nd vom 31.5.2018

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