18. März 2019 Bernhard Sander: Gelbwestenproteste werden gewaltsamer

Ratlosigkeit und Wut

Fouquet’s Edel-Restaurant wird »entglast«

350.000 Menschen haben in über 200 Städten am Samstag 15.3. in einem »Jahrhundertmarsch« für den Klimaschutz demonstriert, darunter sehr viele Gelbwesten, die der Konfrontation mit den Sicherheitskräften ausweichen wollten.

Auch hier rechnet die Polizei die Teilnahme offenbar im Verhältnis 1:3 klein, weil die Angaben für Paris zwischen 100.000 und 36.000 differieren. Am Freitag waren 168.000 Schüler*innen auf die Straße gegangen.

Die Gelbwesten waren weit weniger zahlreich mit offiziellen 32.000 Teilnehmer*innen. Doch sie waren bereit, den anarchistischen Teilen unter ihnen so viel Schutz zu bieten, dass es zu immensen Sachbeschädigungen in den Luxusläden der Champs Elysées kam. Die Bürgerschaft war darüber so entsetzt, dass Staatspräsident Emmanuel Macron deswegen seinen Kurzurlaub abbrach, um in die Hauptstadt zurückzueilen. 5.000 Polizisten allein in Paris hatten sie nicht vor den 10.000 offiziell gemeldeten Gelbwesten schützen können. Nach Polizeiangaben waren das in Paris dreimal mehr als am Wochenende davor.

Der Innenstaatssekretär räumte auf RTL »Disfunktionalitäten« und eine »Niederlage« ein, »in der Manöverleitung war man nicht so offensiv wie gewohnt«, die Befehlskette müsse nun genau untersucht werden. Die Absperrung der Prachtstraße am Innenstadtende und gegenüber den Scheinangriffen auf den Triumpfbogen schuf Raum für die systematische Plünderung der Showrooms, unique selling points, Traditionshäuser und Bankfilialen.

Mit diesem »Ausweichen« auf die Straßenseiten hatte der später geadelte Baron Haussmann nicht gerechnet als er im 19. Jahrhundert die Schneisen der Prachtboulevards durch das mittelalterliche Paris schneiden ließ, um den Einsatz regulärer Kanoniere möglich und die Barrikadenkämpfe der Revolution von 1848 ein für allemal unmöglich zu machen.

Madame Le Pen verurteilt die Aktionen des schwarzen Blocks, »der in völliger Straffreiheit zerstört, brandschatzt und vergewaltigt«, und verlangt die Auflösung ultra-linker Gruppen. Der rechts-konservative Europa-Kandidat Laurent Wauquiez fragt nach dem Einsatzkonzept der Sicherheitskräfte und Generalsekretär Olivier Faure von der sozialdemokratischen PS hat Allgemeinplätze parat: »Ja, es bleibt eine Notwendigkeit, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Aber ich wünschte mir, dass die Regierung nicht die Sicherheitsfrage missbraucht, um einer anderen Debatte auszuweichen, der sozialen Debatte.« Die scheint wohl nötig, wenn sogar ein Einsatzpolizist dabei gefilmt wurde, wie er im entglasten Fan-Shop Nobel-Shirts des Fußballvereins PSG in seinen Rucksack steckt. Aber geht es nur darum?

Isabelle, 60 Jahre aus der Vorstadt Essonne sagt: »Wenn ich jünger wäre, ginge ich auch in die Auseinandersetzung. Die Gewalt des Staates war zuerst da, sie macht wütend«, zitiert Le Monde die Straße. »Seit 18 Wochen hört man uns nicht zu«, sagt ein 28-jähriger aus Nancy, »bisher hat der schwarze Block allen Angst gemacht, heute sieht man darin ein Plus. Sie bringen die Sache nach vorne, wir sind viel zu pazifistisch«. Diesmal »wird man nicht sagen können, dass die Bewegung zusammensackt«, freut sich Martine, 60-jährige Krankenhausangestellte aus der Mittelmeerstadt Toulon und ihr Gatte ergänzt: »Wenn der Moment da ist, muss man eben etwas nachdrücklicher werden.«

Das historische Gedächtnis der unteren Schichten funktioniert. Als die Gelbwesten eine Versammlung der kommunistischen Partei passieren, stimmen sie die Internationale an. »Als ich sah, wie ›Fouquet´s‹ entglast wurde, dieses Symbol der Oligarchie, war ich nicht zufrieden, aber ich war auch nicht dagegen«, gibt Jennifer, eine 39-jährige Lagerarbeiterin aus Rouen, Auskunft. In diesem Restaurant hatte Nicolas Sarkozy mit befreundeten Stars aus Medien und Wirtschaft am Abend seines Wahlsieges gefeiert, statt sich dem Volk zu zeigen.

Der Schriftsteller Éduard Louis assistiert in einem Interview mit der Wochenzeitung Der Freitag: »Wenn man in Frankreich Arbeiter ist, dann ist das Risiko doppelt so hoch, vor dem 55. Lebensjahr zu sterben. Politik wirkt sich direkt auf den Körper aus. Indem ich von Körpern spreche, konfrontiere ich die Menschen mit der Leugnung dieser Wirklichkeit. … Arme Menschen, die auf die Straße gehen und einen Bus anzünden – das nenne ich nicht Gewalt. Ganz im Gegenteil, das ist ein Kampf gegen Gewalt, in gewisser Weise Notwehr. Macrons Gewalt prasselt auf diese Leute nieder, sodass sie gar nicht anders handeln können.«

Aber welche Sache bringen die Gelbwesten, der Schwarze Block und nicht die politische Linken voran? »Man erhebt die Vermögenssteuer an der Quelle«, steht an der zerstörten Boss-Filiale auf den Champs-Elysées. Ana, 33 Jahre, Zustellerin in Toulouse sagt: »Es ist genial, wenn was zu Bruch geht, weil die Bourgeoisie ist in ihrer Blase derart in Deckung gegangen, dass es sein muss, dass sie physisch Angst bekommt um ihre Sicherheit, damit sie nachgeben. Im Nachhinein wäre ich froh, wenn das nicht nötig wäre, um das Recht auf Bürgerbegehren und all das zu bekommen; aber das klappt wohl nicht.«

Einige Gelbwesten aus der tiefsten Provinz (Chateauroux, Departement Indre) geben zu Protokoll: »Unsere Gegend ist sehr von Unternehmensverlagerungen und dem Verschwinden der öffentlichen Dienste betroffen. Die Geburtsstation wurde geschlossen, der Zug nach Paris hält nicht mehr, beim Augenarzt musst du ein Jahr warten. Wir haben bisher nur zuhause demonstriert, aber irgendwann musst du mal auf den Tisch hauen, deshalb sind wir heute hier.«

In den Wochen zuvor hatte sich der landesweite Protest von den besetzten Kreisverkehren der Kleinstädte in die größeren Agglomerationen verlagert und konzentriert sich nun in der Hauptstadt.

In den Oberzentren zeigte sich noch eine ganz andere Quelle für die Wut: Der Immobilienmarkt zerstört die Wohnmöglichkeiten in der Stadt für die einkommenschwächeren Schichten. Das Meinungsforschungsinstitut IFOP hat dies am Beispiel Bordeaux untersucht. Die Teilnahme hat sich dort nach Angaben der Präfektur von 2.500 im November letzten Jahres auf ca. 4.000 bis 6.000 an den Januarwochenenden erhöht. Anhand der Herkunft der Festgenommenen scheint die Mehrzahl im weiteren Umland der Metropole zu wohnen.

Die Immobilienpreise in der Stadt selbst haben sich im Zeitraum 2004 bis 2018 um den Faktor 2,7 erhöht, nur unterbrochen von der Finanzkrise 2008-2011. Zur Eröffnung der großen Straßenbahnlinien lag der qm-Preis bei 1.753 Euro, stieg bis zum Jahr des UNESCO-Weltkulturerbes 2007 auf 2.613 Euro und mit der Eröffnung der Hochgeschwindigkeitsstrecke des TGV nach Paris (2017) auf 4.040 Euro. Verbunden waren Infrastrukturprojekte mit der völligen Umgestaltung der Innenstadtquartiere, Ausweitung der Fußgängerzonen und des Radwegenetzes. In der Innenstadt von Bordeaux gibt es heute rd. 12.000 Übernachtungsangebote von Airbnb. Die Preisdynamik liegt etwa gleichauf mit der von Lille, der Metropole im Norden (eine TGV-Stunde vor Paris und zwei Stunden vor London) oder Nantes, wenn auch auf etwas niedrigerem Niveau.

In der Folge konzentrieren sich die Oberschichten in den teuersten Gebieten der Innenstadt und der Küste von Arcachon, während die Mittelschichten und die Ärmeren in die sowieso schon armen Quartiere der agrarischen Umlandgemeinden ausweichen. Entsprechend konzentrierten sich die Aktionen an den großen Verkehrsadern und in den Umlandzonen der Verdrängung, wo sich 30-40 km vom Stadtzentrum entfernt die Einwohnerzahlen zwischen 1999 und 2016 um 50% und mehr vergrößert haben.

Der größte Arbeitgeber der Stadt ist das Universitätskrankenhaus, der Tourismus und die Bauindustrie – allesamt wenig qualifizierte, schlecht bezahlte, körperlich anstrengende Jobs mit schwierigen Arbeitszeiten. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 11% über dem Landesdurchschnitt. Solche Leute haben nicht die finanziellen Mittel, an jedem Wochenende in die Hauptstadt zu reisen, um zu demonstrieren  – »da muss schon was bei ´rumkommen«.

Vom neuen Aufschwung der Stadt Bordeaux unter dem langjährigen gaullistischen Bürgermeister Juppé profitiert niemand 20 km jenseits der Stadtgrenze, die protestierenden Pendler*innen ganz gewiss nicht. In den Weindörfern des Medoc und der Cote de Blaye, wo die Landpreise durch ausländische Investoren durcheinandergebracht werden, so dass die Kleinwinzer nicht mithalten können, reagierte man auf den Zuzug der Städter*innen mit der erhöhten Wahl Le Pens.

Das Beispiel Bordeaux zeigt exemplarisch, warum Macrons Befriedungsversuch vom Dezember (Erhöhung des Mindestlohns, Verschiebung der Dieselsteuererhöhung, Steuerbefreiung für Kleinrenten usw.) gescheitert ist. Es geht um mehr als um die relative Position auf der Einkommensskala. Es geht um die Krise eines postfordistischen Modus der Zivilisationsentwicklung, der zu sozialer Spaltung und ökologischen Belastungen, Arbeitsunsicherheit und Mobilitätszwängen, Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und Zerstörung von sozialer Infrastruktur führt. Vorteile von dieser Entwicklung hat nur eine Minderheit und eine noch kleinere Minderheit kann ihren Reichtum mehren.

Die Frage bleibt, ob und wie sich das in der »Großen Debatte« widerspiegelt, die Macron zum Jahreswechsel angestoßen hat.

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