4. Januar 2022 Otto König/Richard Detje: Der Konflikt Russland, Ukraine, NATO

»Raus aus der Eskalationsspirale«

Ukraines Präsident Selenskyj auf Truppenbesuch in der Ostukraine (Foto: dpa)

Die Spannungen zwischen den NATO-Mitgliedstaaten sowie der Ukraine auf der einen und der Russischen Föderation auf der anderen Seite haben einen gefährlichen Höhepunkt erreicht. Zum Jahresende spitzte sich das militärische und politische Gerangel gefährlich zu, wurde das verbale Säbelrasseln täglich schriller.

Tenor: Die Russische Föderation sei eine imperiale Macht und der Westen müsse sich und seine Alliierten vor dieser schützen. So schreibt Der Spiegel: »Wie Angst ist Gewalt für Putin ein legitimes Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Ob er sie einsetzt, hängt davon ab, ob ihm noch andere Mittel zur Verfügung stehen. Aber wenn Alternativen schwinden, dann wächst im Kreml die Versuchung, militärisch zu handeln.« (49/2021)

Selten kommen Stimmen der Vernunft zu Wort. Eine Gruppe überwiegend konservativer ehemaliger deutscher Generäle, Botschafter und Friedensforscher veröffentlichte einen Appell mit dem Titel »Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland«. Der Text konstatiert: Die Welt drohe in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rücke. Die Unterzeichner*innen lassen keinen Zweifel daran, dass sie weder Russland- bzw. Putin-Versteher sind, noch sich darauf beschränken, mantrahaft die »westlichen Werte« herunterzubeten. Sie plädieren für einen realpolitischen Ansatz statt der ewigen »Werte-Gebetsmühle«, die auch die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forsch bedient.

Seit Monaten kritisieren NATO und EU die Truppenbewegungen Russlands an der Grenze zur Ukraine. Dem ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow zufolge plant Russland möglicherweise Ende Januar einen Angriff auf sein Land. Doch die Umstände sind nach wie vor nicht abschließend geklärt.

Die Behauptung, Russland massiere an der Grenze bis zu 110.000 Soldaten, wird seit Ende Oktober von nicht näher bezeichneten US-Sicherheitskreisen lanciert. Als Beleg dienen Satellitenaufnahmen, die zahlreiche russische Militärfahrzeuge, auch Kampfpanzer, bei der Kleinstadt Jelna zeigen, die 250 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt liegt (GFP, 30.11.2021). US-Außenminister Anthony Blinken sieht darin Belege dafür, dass Russland »Pläne für mögliche militärische Aktivitäten in der Ukraine« schmiede.

Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis setzte noch eins drauf: »Wir sind davon überzeugt, dass Russland sich tatsächlich auf einen totalen Krieg gegen die Ukraine vorbereitet.« Unterschlagen wird hingegen, dass in den vergangenen zwei Jahren die USA mit europäischen Verbündeten mit den »Defender Europe«-Manövern den Aufmarsch in Richtung russische Grenze – im Nordosten (2020), dann im Südosten (2021) des Bündnisgebiets – geprobt haben.

Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine dürfte keiner der beiden Seiten nutzen – doch die Drohung bringt für alle Beteiligten Vorteile. Während Russland außen- und militärpolitische Stärke – auch mit Blick auf die Verhältnisse im eigenen Land – demonstriert, treibt die ukrainische Staatsführung ihre Bemühungen zur Aufnahme eines »Membership Action Plan«, die Vorstufe zur NATO-Mitgliedschaft, voran und lässt ihre Streitkräfte modernisieren.

Die USA haben inzwischen Militärhilfe im Wert von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar geleistet, darunter die Lieferung hunderter Panzerabwehrraketen des Typs Javelin. Polen und Tschechien haben Dutzende gebrauchte Schützenpanzer beschafft; die Türkei lieferte Kiew ihre Drohnen des Typs Bayraktar TB2; Großbritannien hat begonnen, die Aufrüstung der ukrainischen Seestreitkräfte zu unterstützen. Und NATO-Oberbefehlshaber Tod D. Wolters mahnte in einer Videoschalte mit den Militärchefs der Partnernationen eine Verstärkung der eigenen Truppen an der Ostgrenze der Allianz an.

Ähnlich wie im Baltikum und Polen soll auch in Rumänen und Bulgarien die NATO-Präsenz über die Mission »Enhanced Forward Presence« (EFP) erweitert werden, so der Supreme Allied Commander für Europa. Deutschland könne »im Schwarzen Meer Präsenz zeigen«, schreibt André Härtel von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).[1]

Auf der gleichen Linie wie ihre Vorgängerin positionierte sich die neue Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) bei ihrem ersten Besuch deutscher Soldaten, die im Rahmen der NATO (eFP, enhanced Forward Presence) im litauischen Rukla an der Grenze zu Russland stationiert sind, indem sie feststellte: »Der Aggressor ist Russland.« Es bedürfe einer »glaubhaften Abschreckung«. Die »für die Aggression Verantwortlichen« müssten »persönliche Konsequenzen« spüren.

Entgegen den Darstellungen aus dem Brüsseler NATO-Hauptquartier begann die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland nicht erst 2014 mit der Annektion der Krim durch Moskau. Davor liegt die NATO-Osterweiterung. Seit 1990 hat sich die NATO um 14 Staaten erweitert und ist damit näher an russisches Territorium herangerückt. Dies wurde unter Bruch mündlicher Zusagen gegenüber der damaligen sowjetischen Regierung unter Präsident Michail Gorbatschow umgesetzt.[2] »Die Versuchung war groß, die ab 1989/90 schwindende Ost-West-Balance in eine West-Dominanz zu verwandeln«, so Lutz Herden. Heute lastet sie wie ein Fluch auf Europa und vergiftet die internationalen Beziehungen.

Vor diesem Hintergrund erwartet Russland von den NATO-Staaten »verlässliche und langfristige Sicherheitsgarantien«, die »jedwedes weitere Vorschreiten der NATO nach Osten und die Stationierung von bedrohlichen Waffensystemen in unmittelbarer Nähe des Gebiets der Russischen Föderation ausschließen«. Die Stationierung von Waffensystemen soll auf das jeweils eigene Territorium beschränkt sein. Von der NATO fordert Moskau, ihre Truppen hinter die Linien vom Mai 1997 zurückzuziehen.

Damit wäre eine Stationierung von NATO-Einheiten auf dem Gebiet des früheren Warschauer Paktes ausgeschlossen.[3] Das geht aus Entwürfen von zwei Sicherheitsabkommen hervor: Einen Vertrag will Moskau bilateral mit Washington abschließen, den anderen mit der NATO.

Die westlichen Reaktionen klingen zurückweisend: Auf das »Ultimatum«, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen, könne auf keinen Fall eingegangen werden. Gleichzeitig fand ein weiteres Gespräch der Präsidenten der USA und Russlands statt. Für Anfang des Jahres sei eine erste Runde mit US-Unterhändlern vereinbart worden, so Außenminister Sergej Lawrow. Geplant sind auch Unterredungen mit der NATO und der OSZE. Auf westlicher Seite besteht die Absicht, Russland und China nicht in ein Bündnis zu treiben. Für die USA ist Peking die weit gewichtigere ökonomische und politische Herausforderung im 21. Jahrhundert.

Hochgerüstete Armeen sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil der geopolitischen Probleme. Erforderlich ist eine neue Sicherheitsarchitektur, die durch multilaterale Partnerschaft und durch den Abbau medial erzeugter Feindbilder gekennzeichnet ist. »Wir müssen alles daransetzen, die reale Kriegsgefahr zu mindern und die Spirale von Drohungen und Gegendrohungen zu durchbrechen«, sagte der SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Rolf Mützenich der Rheinischen Post. Es gelte, den Dialog mit dem Ziel des Aufbaus von Vertrauen zwischen Russland und den USA neu zu ebnen.

Die Ampel-Koalitionäre sollten sich den Satz von Willy Brandt, dass der Krieg nicht ultima ratio, sondern ultima irratio sei, zu eigen machen sowie die Erkenntnis, dass »die Sicherheit des Gegners Teil unserer eigenen Sicherheit ist«. Es muss darum gehen, »die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Dabei sei interessengeleitetes und konsequentes Handeln erforderlich«, so die eingangs zitierte Gruppe. »Wir brauchen im Grundsatz einen vierfachen politischen Ansatz«, heißt es in dem Appell.

  • Erstens die Durchführung einer hochrangigen Konferenz: Ohne Vorbedingungen müsse in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen politischen Ebenen über die europäische Sicherheitsarchitektur geredet werden.
  • Zweitens müsse für die Dauer der Konferenz auf beiden Seiten auf jede militärische Eskalation verzichtet werden. Keine Stationierung zusätzlicher Truppen, keine Errichtung neuer Infrastruktur und vollständige Transparenz über Militärmanöver.
  • Drittens müsse der Dialog zwischen Russland und dem westlichen Militärbündnis auf politischer und militärischer Ebene ohne Konditionen wiederbelebt werden. Es brauche einen Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle, denn zentrale Verträge (INF, KSE, Vertrag über den offenen Himmel) seien nicht mehr in Kraft.
  • Viertens, da der Rückgang der Bedeutung fossiler Energieträger für Russland wirtschaftliche Risiken bedeute, die politische Instabilitäten bringen könnten, könne wirtschaftliche Zusammenarbeit einen Beitrag zu europäischer Stabilität leisten.

Anmerkungen

[1] André Härtel: Russischer Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze: Eine Invasion ist möglich. swp-berlin.org 26.11.2021.
[2] Die Administration des US-Präsidenten George H.W. Bush machte 1990 dem damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, die Zusicherung, sollte er zustimmen, dass ein wiedervereinigtes Deutschland der NATO angehöre, werde sich die NATO nicht weiter gen Osten erweitern und keine ehemaligen Warschauer Paktstaaten in das Bündnis aufnehmen. Freigegebene US-Regierungsdokumente, abrufbar über das National Security Archive, belegen, wie der damalige US-Außenminister James Baker (und auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl) Gorbatschow versicherte, dass die NATO ihre Einflusssphäre nicht nach Osten ausbreiten würde (NDS 23.12.2021).
[3] Siehe u.a. Dmitri Trenin: What Putin Really Wants in Ukraine. Russia Seeks to Stop NATO’s Expansion, Not to Annex More Territory, in: Foreign Affairs 28.12.2021: »As 2021 came to a close, Russia presented the United States with a list of demands that it said were necessary to stave off the possibility of a large-scale military conflict in Ukraine. In a draft treaty delivered to a U.S. diplomat in Moscow, the Russian government asked for a formal halt to NATO’s eastern enlargement, a permanent freeze on further expansion of the alliance’s military infrastructure (such as bases and weapons systems) in the former Soviet territory, an end to Western military assistance to Ukraine, and a ban on intermediate-range missiles in Europe.«

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