4. Februar 2025 Bernhard Sander: Vor einem Umbau der Sozialsysteme

Rechtsregierung jetzt auch in Belgien

In Europa fallen die nationalen Regierungen dank der Unterstützung der konservativen und (neo-) liberalen Kräfte nacheinander an rechtsnationale, sozial-nationalistische Parteien. Jüngstes Beispiel ist Belgien, wo nach acht Monaten Verhandlungen die nationalistisch-liberale Flämische Allianz unter dem Antwerpener Bürgermeister Bart de Wever nun ihr Amt antritt.

Die N-VA war 2001 als rechtspopulistische Bewegung »für eine unabhängige Republik Flandern«, wie es in den Parteistatuten heißt, gegründet worden und hat sich gegen zwei weitere rechtsextreme Parteien durchgesetzt. Die Bundesländer (das französisch sprachige Wallonien, das niederländisches Flandern, die gemischtsprachige Region Brüssel und deutsch-Ost-Belgien) sollen laut Koalitionsvertrag nun mehr Autonomie in der Außenpolitik und im Außenhandel sowie in der Arbeitsmarktpolitik bekommen. Die Arbeitsmarktpolitik bildet den Kern der Abgrenzung zwischen der rechtspopulistisch-liberalen N-VA und den rechtsextremen Vlaams Belang (siehe hierzu auch meinen Beitrag nach den Wahlen im letzten Jahr), die der König trotz Stimmenzuwächsen nicht in die Koalitionsverhandlungen einbezog.

Da in Flandern bereits eine rechtspopulistische Regierung die Geschäfte führt, wird hier wohl Bereitschaft zum Entgegenkommen im »nationalen Interesse Flanderns« gegenüber dem amerikanischen Dealmaker zu unterstellen sein. Allerdings hat man hier auch fünf Jahre gebraucht, um die Verluste aus dem Brexit wieder aufzuholen, man neigt vielleicht zu bedächtigerer Politik. Unabhängig von den Spielarten der Regierungs-Kaleidoskope aber wird die Konsensfindung in der EU erschwert durch die Rückorientierung auf den eigenen nationalen Vorrang.

Die neue Belgische Regierung (»Arizona«-Koalition: blau, weiß, gelb, rot) besteht aus den Liberalen und den Christlichen Parteien beider großen Landesteile, den flämischen Sozialdemokraten und eben den tonangebenden Rechtspopulisten. Die Koalition verfügt über 81 der150 Parlamentssitzen, wobei der Alt-Separatist Jean-Marie Dedecker gerade aus der N-VA ausgetreten ist. Mit den Ministerien für Finanzen und Renten sowie Verteidigung und der Ministerin für Asyl und Einwanderung hat die N-VA Schlüsselministerien besetzt zu Themen, die die Öffentlichkeit besonders interessieren.


Haushaltskonsolidierung durch Umbau der Sozialsysteme

Die neue Regierung steht vor ähnlichen Problemen wie viele andere europäische Staaten: Die Neuverschuldung explodiert auf aktuell 7,2% des BIP, die Gesamtverschuldung beträgt mittlerweile 130%. Es galt, 23 Mrd. Euro zu finden, um Maßnahmen ergreifen zu können, um den Haushalt etwas auszugleichen und um das Haushaltsdefizit bis 2030 auf 3% des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) zu bringen (bis 2034 2,5% des BIP). Die EU-Kommission hatte ein Kontrollverfahren eingeleitet.

In welchem Verhältnis stehen bei den Konsolidierungsversprechen die Einnahmenerhöhungen, Privatisierung von Staatseigentum und die Sozialkürzungen? Was geschieht mit dem Verteidigungsetat unter den NATO-Forderungen, den Notwendigkeiten einen Krieg in Mitteleuropa führen zu wollen? Schließlich liegt die Frage auf dem Tisch, wie mit der Migration zu verfahren ist.

Die Sozialdemokraten konnten sich mit einer neuen 10%igen Kapitalertragssteuer durchsetzen. Die Regierung will das gesamte Sozial-Budget an das Produktivitätswachstum der Wirtschaft koppeln. Es ist unklar, welche Folgen das haben wird, aber in Gewerkschaftskreisen wird befürchtet, dass das Budget deutlich niedriger ausfallen wird. Das Arbeitslosengeld wird auf maximal zwei Jahre begrenzt (abhängig von der Gesamtbeschäftigungszeit) und ein Mindestabstand zwischen den Löhnen und der Sozialhilfe von mindestens 500 Euro durch Staatseingriff garantiert werden.

Das Rentensystem wird ebenfalls nach französischem Vorbild »reformiert«. Die Renten der Teilzeit- und diskontinuierlich Beschäftigten (z.B. Mütter) werden gesenkt bzw. können nur durch längere Beitragszeiten kompensiert werden. Die Pensionen der Staatsbeschäftigten werden nach den Beschäftigungsjahren und nicht nach dem Senioritätsprinzip (die letzten 10 Jahre zählten bisher) berechnet und damit dem Niveau der Privatwirtschaft angenähert. Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt seit Anfang dieses Jahres bei 66 Jahren und wird im Jahr 2030 auf 67 Jahre angehoben. Dies wurde bereits beschlossen. In der Praxis hören die Menschen aber schon früher auf zu arbeiten, nämlich mit 61 oder 62 Jahren. Wer in den letzten drei Jahren ein Jahr gearbeitet hat, hat laut Koalitionsvertrag künftig nur Anspruch auf ein Jahr Arbeitslosenunterstützung. Die Maßnahme gilt nicht für Personen über 55 Jahre, die mehr als 30 Jahre lang gearbeitet haben. Die Steuererleichterungen für die Arbeitslosenunterstützung werden abgeschafft.

Es wird ein Rentenmalus eingeführt. Das bedeutet, dass man weniger Rente bekommt, wenn man vor dem gesetzlichen Rentenalter aufhört zu arbeiten. Diese Regelung wird jedoch nur schrittweise eingeführt werden. Wer vor 2030 in Rente geht, erhält für jedes Jahr, das man früher aufhört, 2% weniger Rente, von 2030 bis 2040 4% und ab 2040 5% weniger. Beim Rentenbonus funktioniert dieses System in umgekehrter Weise. Man erhält dann ein Prozent mehr, wenn man länger als bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten.

Das Rentenalter für Militärangehörige (56 Jahre) und für das Personal bei der belgischen Bahngesellschaft NMBS/SNCB (55 Jahre) soll ab 2027 schrittweise auf das gesetzliche Rentenalter angehoben werden. Die, die 42 Jahre lang gearbeitet haben, können jedoch weiterhin mit 60 Jahren in Rente gehen.

Die neue Regierung interveniert auch bei den sogenannten anrechenbaren Zeiten. Das sind Zeiten, in denen man nicht gearbeitet hat, die aber trotzdem auf die Rente angerechnet werden. Das sind zum Beispiel Zeiten, in denen man arbeitslos oder krank war. Heute beruht fast ein Drittel der Rentenansprüche auf anrechenbaren Zeiten. Die neue Regierung setzt nun eine Obergrenze für diese anrechenbaren Zeiten fest in Höhe von maximal 40%. Diese Grenze sinkt bis 2031 jährlich um 5% auf 20%.

Die Arizona-Regierung strebt eine Beschäftigungsquote von nahezu 80% an. Zum Vergleich: Im Jahr 2023 lag die Beschäftigungsquote in Belgien bei 72,1% und im Bundesland Flandern bei 76,8%. Wie das gelingen soll, steht allerdings nur vage im Papier. Die Regierung will diese höhere Beschäftigungsquote erreichen, indem sie die Arbeit lohnender und damit attraktiver macht. Zu diesem Zweck werden die Nettolöhne ab 2027 steigen. Auch die Mindestlöhne sollen steigen.

Die Verteidigungsausgaben sollen von derzeit 1,3% des BIP auf 2,5% im Jahr 2034 angehoben werden. Ob die Zuschüsse an die Ukraine einberechnet sind, ist nicht bekannt. Belgien eifert dem Liberalen Franzosen Macron nach, der an die Stelle der nationalen die europäische Autonomie zum Leitwert erhoben hat. Man kauft Drohnen, Flugzeuge, eine Fregatte (die dritte für 80 Kilometer Kanalküste) und Cyber-War-Ausrüstung. Belgien will von Importen fossiler Brennstoffe aus dem außereuropäischen Ausland unabhängig werden. Dafür verkauft man die Staatsanteile am Telekom-Unternehmen Proximus. Die Subventionen für fossile Brennstoffe werden schrittweise abgebaut. Die Mehrwertsteuer auf Wärmepumpen wird auf 6% sinken, während die Mehrwertsteuer auf Heizkessel und Kohle wieder auf 21% steigen wird. Hybride Firmenwagen sollen länger steuerlich absetzbar bleiben, als bislang. Verkauft wird das als ökologische Transformation.

Dem Vernehmen nach soll die neue Regierung kleiner sein, ohne Staatssekretäre. Neben Premierminister De Wever soll es sieben niederländischsprachige und sieben französischsprachige Minister*innen geben. Die Zweite Kammer, der Senat, als Vertreter der Länderparlamente soll ganz abgeschafft werden. In der Summe spart man also Geld und wird vielleicht etwas effektiver.

In der Migrationspolitik soll ein rigoroser Kurs gefahren werden ähnlich wie in den Nachbarländern Frankreich und Niederlande: Die Digital-Ausrüstung (Mobiltelefone, PC usw.) von Asylbewerber*innen soll automatisch durchleuchtet werden. Wer nicht einverstanden ist, wird automatisch als Asylbewerber*in abgelehnt. Diese Schutzsuchenden erhalten erst nach fünf Jahren Zugang zu regulären Sozialleistungen. Für Ausreisepflichtige sollen im Ausland Sammellager eingerichtet werden.


Zufriedenheit im Unternehmerlager – Kritik der Arbeitnehmervertreter

Die Reaktionen auf die Einigung auf ein Regierungsabkommen fallen unterschiedlich aus. Arbeitgeberverbände reagieren erleichtert. Die künftige Regierung tue nun das, was im übrigen Europa die normalste Sache der Welt sei. Der Bankensektor warnt vor möglichen negativen Auswirkungen des Koalitionsabkommens. Einige der von der neuen Regierung angekündigten Maßnahmen könnten »die belgische Wirtschaft erheblich beeinträchtigen«, hieß es in einer Mitteilung des Branchenverbands Febelfin. Dies gelte vor allem für die geplante Erhöhung der Bankensteuern.

Der Einzelhandelsverbands Comeos begrüßt das Regierungsprogramm der künftigen Arizona-Partner. Es sei das beste Regierungsabkommen der letzten 20 Jahre, sagte Comeos-Chef Dominique Michel. Hier werde eine echte Reform des Arbeitsmarktes auf den Weg gebracht. Besonders begrüßt er die Änderungen in Bezug auf die Nachtarbeit: Demnach gelten Nachtarbeit und die damit verbundenen Tarife nicht mehr ab 20 Uhr, sondern erst ab Mitternacht. Auch geplante Lockerungen der Ladenöffnungszeiten sowie eine Ausweitung der Arbeitszeit für Student*innen seien wichtig, um den Handel flexibler und damit stärker zu machen. Konkret sieht das Regierungsabkommen vor, dass Student*innen statt der bisherigen 475 Stunden bald 650 Stunden arbeiten können, ohne dass die Einkünfte steuerliche Auswirkungen haben. Die jährliche, steuerfreie Verdienstobergrenze für Student*innen soll auf 12.000 Euro angehoben werden.

Besonders enttäuscht hat die christliche CSC-Gewerkschaft auf das Regierungsabkommen reagiert. Auch wenn die Mitte-Links-Parteien noch einige Korrekturen hätten anbringen können, seien der Wohlstand und das Wohlergehen der Arbeiter*innen ernsthaft bedroht, so die CSC in einer Erklärung. Arbeitnehmer*innen, Kranke, Rentner*innen und Arbeitssuchende würden durch die neue Politik finanziell stark belastet. Es würden zwar höhere Nettolöhne versprochen (1.200 Euro pro Jahr und Arbeitnehmer*in), diese würden jedoch erst 2027 zur Auszahlung kommen.

Die Partei der Arbeit (PTB) kritisiert die soziale Schräglage und weniger den systemischen Charakter der Koalitionsvereinbarung: Die neue Regierung wolle die Mehrwertsteuer auf Waren des täglichen Bedarfs, im Baugewerbe und im Hotel- und Gaststättengewerbe von 6% auf 9% erhöhen. Außerdem wollen sie die Verbrauchssteuern auf Benzin erhöhen. Das sind alles ungerechte Steuern.

»Wir haben errechnet, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer durch die Lohnblockade zwischen 2021 und 2024 3.859 Euro verloren hat […] Die neue Regierung wolle die Berechnung der automatischen Lohnindexierung auf zwölf Monate statt wie bisher auf vier Monate ›glätten‹. Ihr Ziel ist es, die Indexierung zu verlangsamen und zu begrenzen: Unsere Löhne werden weniger mit den Preissteigerungen Schritt halten und unsere Kaufkraft wird sinken. Wenn die neue Glättungsmethode im Jahr 2024 angewandt worden wäre, hätten die Löhne 2024 0,7% der Indexierung verloren, was bei einem Durchschnittsverdiener 341 Euro brutto pro Jahr entspricht.«

Der De-Wever-Bouchez-Plan (Georges-Louis Bouchez ist Vorsitzender der Liberalen) »ist ein allgemeiner Angriff auf unsere Renten und Laufbahnen. Es ist die Rede vom Ende der Frühpensionierung für diejenigen, die Zeitguthaben am Ende ihrer Karriere genommen haben, die einen Teil ihrer Karriere halbtags gearbeitet haben [...] Die Mehrheit der Frauen wird keinen Zugang mehr zur Mindestrente haben. Es ist auch die Abschaffung der Zeitguthaben am Ende der Laufbahn und damit ein unmögliches Ende der Laufbahn für diejenigen, die hart arbeiten. Und es bedeutet Hunderte von Euro weniger für die Renten im öffentlichen Dienst. Wenn die Inflation 4% übersteigt, sehen sie auch Mechanismen vor, um die Indexierung für eine ganze Reihe von Arbeitnehmern zu begrenzen, die dann an Kaufkraft verlieren würden.«

Am 13. Februar haben die Gewerkschaftsbünde zu Streiks und Kundgebungen aufgerufen. Man wird sehen, wie stark die Widerstandskraft der belgischen Arbeitnehmer*innen noch ist.

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