1. Dezember 2021 Bernhard Sander: Streitpunkt Geschichtsklitterung

Rechtsverschiebung im französischen Bürgertum

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Eric Zemmour hat am 30. November seine Kandidatur für das französische Präsidentenamt bekanntgegeben. Unmittelbar zuvor signalisierten ihm Umfragen einen Stimmenanteil von 13% und damit etwa gleichauf mit dem national-konservativen Xavier Bertrand (14%), aber weit hinter Marine Le Pen (20%).

Die ebenfalls zu den Konservativen zu zählenden Valerie Pécresse erreicht 11% und der links-nationalen Jean-Luc Mélenchon 10%. Zu diesem Zeitpunkt führte der Amtsinhaber Emmanuel Macron die Umfragen mit 25% an. Auch wenn dies alles noch volatil ist, da vieles auch von den genauen Konstellationen abhängt, wer gegen wen antritt, ist der Trend nach rechts klar erkennbar und Zemmour der Trendsetter.

Die Grenzen, dessen »was man sagen darf«, werden in Frankreich seit dem Erscheinen des Front National (FN) auf der politischen Bühne seit Jahrzehnten nach rechts verschoben. Auch die »Ent-Diabolisierung« des FN durch die nunmehr seit über zehn Jahren Vorsitzende Marine Le Pen und den Rauswurf des Gründers erscheinen nur als eine zeitweilige Verlangsamung des Prozesses.

Vielen aus der alten Anhängerschaft geht die »Verbürgerlichung« zu weit. Sie sehnen sich – gerade im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfes und der anschließenden Neuwahl des Parlaments – nach klareren Tönen. Denn die mittlerweile in »Nationale Sammlung« (Rassemblement National – RN) umbenannte Bewegung stagnierte bei den letzten Regional- und auch den Kommunalwahlen und konnte weder von der kalten Wut auf den Amtsinhaber noch von einer Betonung der sozialen Frage nennenswert profitieren.

Diesen Unmut greift der Fernseh-Kommentator Eric Zemmour mit seiner Kandidatur auf, die zweifellos das nationalistisch-rassistische Lager spalten würde. Der Fernsehsender, der ihm täglich eine Plattform bietet, gehört dem Logistik- & Kommunikationsunternehmer und Milliardär Vincent Bolloré, der schon Sarkozys Aufstieg förderte. Das ist allerdings in Frankreich nichts Ungewöhnliches: Der 2018 verstorbene Rüstungsindustrielle Serge Dassault (er war auch Abgeordneter der Republikaner) kaufte seinerzeit das bürgerliche Premiumblatt Le Figaro. Le Parisien ist die größte Pariser Tageszeitung und wird von der Pressegruppe Les Échos-Le Parisien herausgegeben, die seit 2015 zur börsennotierten LVMH-Gruppe der Familie Pinault (Luxusgüter) gehört.

ZEIT.Online stellte fest, dass Zemmour mehr Platz in den Medien bekommt als seine rechte Mitbewerberin Le Pen, »vielleicht, weil die Politikerin sich eher an Fischer, Landwirtinnen und Verkäufer richtet, während sich Zemmour mit literarischen Zitaten schmückt und sich bürgerlicher und damit den Journalisten näher gibt. Auch seine Anhänger sind wohlhabender und besser ausgebildet als die von Le Pen und sie sind nahezu ausschließlich männlich und älter als 50 Jahre.«

»Unsere größte Gefahr ist, dass alle Franzosen von Ausländern ersetzt werden«, salbadert Éric Zemmour, ein mehrfach verurteilter Rassist, der erst vor wenigen Tagen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil er die Ausweisung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge verlangt: »(Sie) sind Diebe, sie sind Mörder sie sind Vergewaltiger; das ist alles, was sie sind.« Polen erteile ganz Europa eine Lektion, wenn es sich gegen die »Allahu akbar« schreienden Horden wehre. Macron wirft er vor, Stacheldrahtzäune mehr zu fürchten als die Dschihadisten. Gerichte, die gegen ihn vorgehen, hätten »die Mission übernommen, die Geisteshaltung zu kontrollieren« – einer der Standard-Argumentationen gegen die Eliten.

Das zweite Hassobjekt von Zemmour ist der Feminismus. Er bezeichnete die Verhaftung des damaligen Präsidentschaftsaspiranten Dominique Strauß-Kahn wegen der Vergewaltigung einer Hotel-Reinigungskraft als »Kastration aller Franzosen«. Die Idee der »Dekonstruktion der Männer« und des Patriarchats drückt die Verunsicherung des gemeinen Macho-Ego vieler Männer in Frankreich aus, die sich daran ergötzen, dass ihre Präsidenten nachts mit dem Motorroller zur Mätresse fahren (Hollande) oder sich mit der Gattin im Badeanzug ablichten lassen, um Gerüchte über die eigene Homosexualität zu zerstreuen (Macron).

Beistand finden sie bei prominenten Frauen – darunter die Schauspielerin Catherine Deneuve –, die in einem offenen Brief die auch in Frankreich aufkommende »metoo«-Debatte als überzogen kritisierten. Zemmour buhlt um die Stimmen konservativer Wähler:innen, die erst vor wenigen Jahren gegen die »Ehe für alle«, einem Gesetz der Sozialdemokraten, Hunderttausende zu teils gewalttätigen Protesten auf die Straße brachten.

Zemmours Provokationen knüpfen drittens an die Strömungen an, die sich bei Gründung des FN auf das Kollaborationsregime des General Petain beriefen, der vom mondänen Kurort Vichy das sogenannte unbesetzte Frankreich regierte. Die Kollaboration, die auch die Deportation französischer Jüd:innen einschloss, bleibt nach wie vor ein Tabu-Thema. Die offenen Wunden wurden durch den politischen Mythos vom glorreichen Frankreich im Bund der Alliierten zugedeckt, der insbesondere von de Gaulle gepflegt wurde. Unter dieser Decke schien die Nation geeint, wozu auch das Konstrukt beitrug, der État français von Vichy habe keinen französischen Rechtscharakter gehabt, sei also genaugenommen eine Besatzungsbehörde gewesen (diese Ansicht vertrat die französische Politik bis Mitte der 1990erJahre).

Zemmour behauptet, Petain habe ausländische Jüd:innen ausgeliefert, Frankreichs Jüd:innen aber vor Verfolgung geschützt – eine These, die er schon länger vertritt und der Historiker vehement widersprechen. Frankreichs Verantwortung bei der Deportierung der Juden hatte erst 1995 der damalige Präsident Jacques Chirac eingestanden. Traurige Bekanntheit erlangte die »Rafle du Vél’ d’Hiv«: Bei einer Razzia im Wintervelodrom, einer alten Radrennbahn in Paris, trieb die französische Polizei 1942 rund 13.000 Jüd:innen zusammen, die anschließend in Vernichtungslager geschickt wurden. Unter ihnen waren 4.000 Kinder, etwa 80% davon waren Französ:innen. Zu Chiracs Schuldeingeständnis sagte Zemmour jüngst, die damit einhergehende Reue füge Frankreich viel Schaden zu.

Der offenen Antisemitismus, den man seitens der bürgerlichen Parteien, insbesondere aber Le Pens, gerne den islamischen Migrant:innen und Französ:innen mit Vorfahren in den arabischen Kolonien unterstellt, wird von Zemmour sozusagen re-französiert. Er polarisierte bisher schon mit seinen anti-islamischen Ausfällen, was insbesondere in auswanderungswilligen jüdischen Kreisen auf positive Resonanz stieß. Doch das organisierte Judentum opponiert gegen Zemmours Geschichtsklitterung.

Mit der Rehabilitierung der Kollaboration macht sich Zemmour salonfähig bei einem Teil der bürgerlichen Rechten, die zwar die anti-islamischen rassistischen und nationalistischen Vorurteile mit der Anhängerschaft des RN teilen, aber vor dessen »schlechten Image« zurückschrecken, und die ökonomisch anti-liberalen Aspekte der RN-Programmatik ablehnen, mit der Le Pen die Globalisierung zurückdrängen will. Mit der Verteidigung des Vichy-Regimes wird auch Petains Programm »Arbeit - Familie – Vaterland« wieder in die politische Debatte gebracht.

In der bürgerlichen Rechten, die seit der Niederlage Sarkozys gegen den Sozialdemokraten Hollande, und seit dem Erfolg Macrons ihren Apparat und ihre Verankerung unter den Honoratioren in der Provinz und damit ein Wählerpotenzial von 20-25% hat halten können, rumort es seit längerem. Eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl wird daher wohl die 500 Stützunterschriften von Bürgermeistern und Abgeordneten zusammenbringen, die sich aber auch für einen Zemmour und eine Le Pen erfolgreich finden ließen. Ein Viertel des national-katholischen Präsidentschafts-Kandidaten Francois Fillon (LR) würde heute Zemmour wählen.

Eine Vielzahl von Kandidaturen in und am Rand der Partei Die Republikaner (LR) bewarben sich um die offizielle Nominierung. Das Verfahren der Vorwahl hat damit weniger mobilisierenden als spaltenden Charakter in der Anhängerschaft und unter den Mitgliedern. 150.000 Mitglieder sollen Anfang Dezember entscheiden, wer Präsidentschaftskandidat wird. Gegen den EU-Politiker Michel Barnier machen die Bolloré-Organe »Valleurs actuelles« und »Journal du Dimanche« mobil: Er habe das Temperament einer Schlaftablette, sprich der von ihm repräsentierte präsidiale Stil jenseits der Tagespolitik entspreche nicht dem Trend.

Barnier gilt als Gegner des »Was immer es koste«-Kurses, mit dem Macron aus der Corona-Krise aus- und in die Modernisierung der Volkswirtschaft einsteigen will. Wichtiger im Wahlkampf wird es aber sein, dass Barnier auf den Trend Zemmours aufsetzt und von den europäischen Nationalstaaten verlangt, sie müssten nicht nur in der Migrationspolitik »die Kontrolle zurückgewinnen«. Mit dieser Wertorientierung waren die Brexiteers erfolgreich, mit denen Barnier den EU-Auszug verhandelte.

Aber auch die anderen vier Kandidat:innen haben sich auf einen strammen Rechtskurs festgelegt. Barnier fordert ein Einwanderungsmoratorium, was nach Ansicht seiner Konkurrentin Pécresse aber nicht »Null Migration« bedeute. Xavier Bertrand, Regional-Präsident von Oberfrankreich und damit von der Migration über den Kanal direkt betroffen, plädiert dagegen etwas liberaler für ein Quotensystem. Ein weiterer Kandidat, Eric Ciotti, biegt das Migrationsthema dahin, dass er den Einsatz der Armee im Landesinneren, vor allem in bestimmten Wohngebieten, im »Krieg gegen die Drogenhändler« fordert. Damit »Frankreich Frankreich bleibt«, werde er im zweiten Wahlgang Zemmour unterstützen.

Ein partei-unabhängiger Kandidat hat durchaus Chancen, da nicht erst seit der neuerlichen Verurteilung des ehemaligen Staatspräsidenten Sarkozy wegen Betrugs bei der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung, das Bild von der Politik vorherrscht, dort kümmere man sich nicht um die Alterssorgen von Menschen. Drei Jahre nach ihrem Erscheinen hat die Bewegung der Gelbwesten immer noch eine solide Basis, wobei sich 40% der Französ:innen ihr nahe fühlen (darunter 9% »sehr nah«).

In der Ipsos-Umfrage im Mai 2019 fühlten sich 42% der Bewegung nahe, ein sehr geringer Rückgang in zweieinhalb Jahren. Die Bewegung wird nach wie vor stärker von den populären Kategorien (53% unter Arbeitnehmer:innen) und den Bewohner:innen der stadtnahen (45%) und ländlichen (53%) Gebiete unterstützt. Unter den Bürger:innen, die aktiv an den Aktionen der Bewegung teilgenommen haben, sind die Kluft zwischen Volk und Elite (33% gegenüber 25% für alle Französ:innen) und die Frage des schlechten Funktionierens des demokratischen Systems (28% gegenüber 13% für die Gesamtheit) viel wichtigere Gründe als für den Durchschnitt.

Teil dieser Kluft ist die Verrohung im politischen Umgang: Eine/r von fünf Französ:innen (bei den unter 35-Jährigen sind es vier von zehn) halten Handlungen wie Beleidigungen, verbale Drohungen, die Verbreitung falscher Gerüchte oder die Tatsache, das Privatleben ihrer Gegner preiszugeben, für »verständlich«.

Präsident Emmanuel Macron spielt ebenfalls mit den einst boykottierten rechten Medien. So gab er der Zeitschrift Valeurs Actuelles ein langes Interview. Er hat den Journalisten allein in seinem Flugzeug empfangen und die Zeitschrift dadurch geadelt. Bis heute aber hat die größte liberale Zeitung Frankreichs, die Le Monde, kein Interview mit ihm führen können.

»Macron wertet die extreme Rechte auf, weil er glaubt, gegen sie im zweiten Wahlgang am besten gewinnen«, also Rechts-Bürgerliche einsammeln zu können, meinen Politologen. Sein Innenminister hat mit der Übernahme von Bestimmungen des Ausnahmezustands in reguläre Sicherheitsgesetze und dem gewalttätigen Einsatz der Polizei gegen Demonstrationen anti-islamischem Rassismus den Boden bereitet, auf dem Zemmour jetzt marschiert. Die mittlerweile als allgegenwärtig empfundene Möglichkeit eines Attentats tut ein Übriges.

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